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2.2 Die Verdrängung des Öffentlichen Raumes

2.2.1 Schattige Promenaden mit hellem Blick

Das »Jeu de mail« war ein durchaus populäres Ballspiel im 16. und 17. Jahrhundert, das auf einer flachen Bahn mit einem Holzschläger gespielt wurde. Schließlich nannte man den Ort, an dem dieses Spiel gespielt wurde, so. Am Rande des Spielfelds wurden Erfrischungen gereicht und findige Händler erkannten wohl das Potential einer so versammelten Menschenmenge. Das französische »mail« wurde dann zum englischen »mall« und ist uns inzwischen dank entsprechender Gebäudekomplexe auch im Deutschen vertraut.44

In diesen Einkaufszentren wird der Benjamin’sche Flaneur nicht mehr von Plät-zen oder Straßenecken »magnetisch« angezogen, sondern mit Hilfe ausgeklügelter Werbepsychologie zu den Angeboten der Woche gelenkt. Hier manifestiert sich der konsumgesellschaftliche Raum als ein moderner locus amoenus, der zum Verweilen

42. B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t: Urteil des Ersten Senats vom 22. Februar 2011, – 1 BvR 699/06 – Rn. (1-128), online unterhttp://www.bverfg.de/e/rs20110222_1bvr069906.html, Absatz 70.

43. Ebd., Abs. 72.

44. Zur Etymologie siehe den Eintrag »mail« auf demportail lexical des französischenCentre national de ressources textuelles et lexicales, online unterhttp://www.cnrtl.fr/etymologie/mail.

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KAPITEL 2. DER ÖFFENTLICHE RAUM

einlädt. Dort gibt es keine Informationen zur Außenwelt, keine Uhr zeigt die Zeit, kein Barometer das Wetter, der balsamische Strom der klimatisierten Luft durchrinnt den Konsumenten, seinen wissensdurstigen Blick labt das freie w l a n, kräftig brennen auf hellen Displays die wechselnden Farben, doch der Streit um die Sinne löst sich in Wohlgefallen auf – ein ewiges Erblühen der freien Marktwirtschaft.45

In gewisser Weise sind diese »Konsumtempel« ein Ausdruck des vorherrschenden Weltbildes, in der öffentlich wahrnehmbaren Architektur zeigen sich sowohl politisch Ausgehandeltes wie gewachsene Machtverhältnisse in Form von Fassaden, Durch-gängen, Plätzen und dergleichen mehr. Gewaltige Gebäude sollen Gläubige daran erinnern, wie unwichtig ihr Leben im Diesseits ist, die Inschrift auf dem Parlaments-gebäude (»dem deutschen Volke«) soll den Stellenwert des Souveräns betonen und das Einkaufszentrum auf dem Berliner Alexanderplatz soll einfach nur das Auge belei-digen – und uns an folgendes erinnern: Die (Privat-)Wirtschaft bestimmt nun einmal unser Leben, auch unser politisches, und das spiegelt sich eben in der Architektur der modernen Stadt im Großen und in den Einkaufszentren in Miniatur wider.

Die Architektur als Spiegel des menschlichen Lebens findet sich bereits bei Alberti, wenn er über die Anordnung der Fenster wie von einem Antlitz spricht, »Fassade«

kommt vom italienischen Wort für Gesicht. »Häuser blicken uns wie Gesichter an«, schrieb auch Nietzsche.46 Doch erst mit der allgegenwärtigen Überwachung des städtischen Raums bekommt dieser Ausspruch eine beklemmende Note. In seiner als Dissertation angenommenen kulturwissenschaftlichen Studie von 2007 schrieb Dietmar Kammerer über die Auswirkungen der Videoüberwachung auf die Öffentlichkeit:

Es ist ein gängiges Missverständnis, durch Videoüberwachung werde das, was privat bleiben sollte, öffentlich gemacht. Das Gegenteil ist der Fall.

Videoüberwachung besetzt das Öffentliche – den Raum der Begegnung und der Teilhabe – und privatisiert es, indem sie ihm etwas nimmt, etwas von ihm abzieht (lateinischprivare: berauben, absondern). Dank Video-kameras werden erstmals öffentlich zugängliche Räume privatrechtlichen Hausordnungen unterstellt, die von privatwirtschaftlichen Sicherheits-diensten durchgesetzt werden, die Zugangskontrollen etablieren, damit eine private Kaufkundschaft sich wie zu Hause fühlen kann und eben nicht wie an einem öffentlichen Ort. Die Bilder, die Videoüberwachung produziert,waren öffentlich, siewarenBilder der Allgemeinheit. Auf ihnen wird genau der Moment sichtbar, an dem das Gemeinschaftliche aufgelöst wird zugunsten des Privaten.47

Dieser Angriff des Privaten geht nicht von den Privatmenschen aus, sondern von der Privatwirtschaft. Im Begriff »Privatwirtschaft« taucht die private Türschwelle, der eigentliche Bereich des Ökonomischen in der Antike, noch auf. Dieser ursprünglich eng begrenzte Bereich ist inzwischen in beide Richtungen expandiert. Er besetzt

45. S c h i l l e r möge mir die Verballhornung seiner »Elegie« auf denlocus amoenusverzeihen, die er 1800 unter dem Titel »Der Spaziergang« veröffentlichte. Das freie w l a n ist so frei auch nicht, viele Domains und Dienste wie VPN, SSH oder torrent sind in der Regel gesperrt.

46. Die Hinweise auf Alberti und Nietzsche verdanke ichN e u m e y e r: Fassaden und Fenster: Die öffentliche Seite der Architektur (wie Anm. 40), S. 195.

47. Dietmar K a m m e r e r: Bilder der Überwachung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2008, S. 327.

2.2. DIE VERDRÄNGUNG DES ÖFFENTLICHEN RAUMES

den öffentlichen Raum und dringt nicht zuletzt mit Hilfe von informations- und kommunikationstechnischen Artefakten in den häuslichen Bereich. Der Handel ist allgegenwärtig, und ihm fällt eine wichtige Rolle für die Herausbildung einer Öffent-lichkeit zu: Es liegt im ökonomischen Interesse, dass sich möglichst viele Menschen verständigen können, also entwickelt sich eine gemeinsame Kaufmannssprache, die entlang der Handelswege verstanden wird.

Die Freiheit des Einzelnen wird im häuslichen Bereich durch Zwänge, im öffentlichen Bereich durch die reziproke Anerkennung des Anderen eingeschränkt. Auf dem kleinen Bereich der Türschwelle jedoch herrscht Hermes und garantiert die Freiheit vom Zugriff des Staates und der Familie. Spätestens seit Adam Smiths »Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« von 1776 wird Freiheit als Freiheit des Marktes verstanden.48 Die Expansion der Türschwelle errichtet ein neues Fundament der Politik, tatsächliche Verträge (wie Koalitionsverträge oder internationale Abkommen) ersetzen die nur gedachten Verträge eines Hobbes oder Rousseau und führen zum

»alternativlosen« Handeln der Politik, unterwerfen diese also wieder Sachzwängen.

Dabei sollte die Politik, genauer die Regierung als Verwaltung des Staates, doch eher der Garantie von Freiheit dienen. Colin Crouch wirbt dafür, nicht nur den Klappentext von Smiths großem Werk zu lesen, sondern auch seine Warnungen:

Gerade weil die Reformer des 19. Jahrhunderts die Freiheiten des Kapi-talismus überwachen wollten und häufig auf Punkte stießen, an denen diese mit anderen Werten und Interessen kollidierten, nahmen sie die Mahnungen von Adam Smith ernst, nach denen die Wirtschaft die Politik ebensosehr korrumpieren könne wie die Politik das Wirtschaftsleben.49 Die allzu einflussreiche Rolle der Privat-Wirtschaft auf die Öffentlichkeit führt bei Crouch schließlich zu seiner pessimistischen Feststellung, wir lebten in einer Zeit der Post-Demokratie. Tatsächlich können wir viele demokratischen Errungenschaften mit Hilfe privatwirtschaftlicher Dekrete faktisch aushebeln, nehmen wir nur als Beispiel das Recht auf Meinungsfreiheit und den Zugriff auf öffentliche Quellen. Dieser Zugriff auf öffentlich relevante Informationen, früher Kulturgut und Allgemeininteresse genannt, ist heute in deinem Land nicht verfügbar. Die Privatwirtschaft hat mit Hilfe restriktiver Copyright-Gesetze dem Bürger die Möglichkeit genommen, auch ohne Lizenzgebühren am kulturellen Leben teilhaben zu können.

Diese Gebühr wird in zunehmendem Maße in Form von persönlichen Daten erho-ben, der zwanzig Jahre alte Werbespruch für eine Kreditkartenfirma bekommt eine digital-totalitäre Note: »Bezahlen Sie einfach mit Ihrem guten Namen«. Und mit ihren Daten zum Konsumverhalten, möchte man inzwischen ergänzen. Wer nicht in irgendwelchen Datenbanken landen möchte, muss sein Verhalten anpassen, die Überwachung verinnerlichen, um mit Foucault zu sprechen. Dies gilt auch für die simple Fortbewegung im städtischen Raum. Die Aktivistengruppe des »Institute of Applied Autonomy«, die uns später im Zusammenhang mit Twitter noch einmal begegnen wird, entwickelte im Jahr 2001 eine Webapplikation (»iSee«), die es ei-nem Flaneur ermöglichte, durch Manhattan in der Art und Weise zu laufen, dass

48. Zumindest in Europa; in den Vereinigten Staaten wird »liberal« wohl eher mit dem französischen

»libertine« in Verbindung gebracht.

49. Colin C r o u c h: Postdemokratie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2011, S. 123-124.

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KAPITEL 2. DER ÖFFENTLICHE RAUM

man von möglichst wenigen Überwachungskameras erfasst wird (»paths of least surveillance«).50