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7.1 Das Unbekannte steuern, messen, lenken

7.1.2 Alles ist Zahl

Einer der ersten Informatiker –avant la lettre– freute sich: »Einer hat Alles aus Nichts gemacht.« Leibniz ist so begeistert von dem dyadischen System, dass er Medaillen mit diesem Ausspruch prägen ließ. Das Binäre System findet sich zwar bereits schon früher, etwa in dem Yì J¯ıng, dem Buch der Wandlungen, das als Orakel verwendet wurde.373 Leibniz war das Yì J¯ıng wohl bekannt, die auf Seite 166 abgebildete Darstellung der Orakel-Hexagramme wurde ihm von dem französischen Jesuiten Joachim Bouvet zugesandt. Die daoistische Binärdarstellung wurde jedoch nicht zum Rechnen verwendet, doch genau darin liegt der Kniff der Informatik: Etwas (Strom, Hebelposition, Vertiefung, Magnetisierung etc.) wird als Symbol erfasst. Mit Hilfe einer Vorschrift wird das Symbol nach bestimmten Regeln transformiert und im Anschluss wieder in physikalische Substrate übertragen – dann wandert der Lesekopf der Turing-Maschine ein Feld weiter.

Kern der Turing-Maschine ist die Tafel (table), auf dem die Berechnungsvorschrift (behaviour) für bestimmte Zustände (configuration) abzulesen ist.374 Wer selbst einmal eine Turing-Maschine auf dem Papier entworfen hat, weiß, dass diese Tafel je nach Anzahl der Zustände rasch unübersichtlich wird. Es ging Turing ja auch nicht um eine praktische Lösung eines bestimmten mathematischen Problems, sondern um die Berechnung bzw. die Berechenbarkeit an sich.

Bevor wir jedoch zur Berechnung kommen können, benötigen wir erst einmal eine Art von Erfassung der Umwelt. Leibniz war ja nicht nur ein Universalgelehrter,

373. Man warf ein paar Stengel der Schafgarbe und erhielt eine von 64 möglichen Figuren, die auf eine bestimmte Stelle im Buch hinwies. Siehe dazu den Artikel »I Ging« in: Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 23. März 2016. Online unterhttps://de.wikipedia.org/

w/index.php?title=I_Ging&oldid=152789156.

374. Für ein paar Beispiele sieheT u r i n g: On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem (wie Anm. 351), S. 233.

7.1. DAS UNBEKANNTE STEUERN, MESSEN, LENKEN

Abbildung 7.2: Diagramm der Yì-J¯ıng-Hexagramme, die Bouvet 1701 an Leibniz geschickt hatte.

sondern auch ein politischer Berater. Als er 1685 seine »Staatstafeln« beschrieb, hatte er vor allem die Praktikabilität im Sinn:

Ich nenne Staats-Tafeln eine schriftliche kurze Verfassung des Kerns aller zu der Landesregierung gehörigen Nachrichtungen, so ein gewisses Land insonderheit betreffen, mit solchen Vorteil eingerichtet, daß der hohe Landesherr alles darin leicht finden, was er bei jeder Begebenheit zu betrachten, und sich dessen als eines der bequemsten Instrumente zu einer löblichen Selbst-Regierung bedienen könne.375

Diese Nachrichten, so führt Leibniz weiter aus, sollen verschriftlich werden und nur den Kern des Sachverhalts beschreiben (wieviel »wüllene Tücher jährlich konsumiert oder vertan werden«). Heute würden wir das mit dem Neologismus fact sheet oder executive summary ausdrücken, besonders wenn wir die Forderung von Leibniz mit einem Augenzwinkern lesen, dass die Sachverhalte leicht erfassbar sein müssen, da

»große Herrn weder Zeit noch Lust haben, sich mit vielem Nachsuchen zu

bemü-375. L e i b n i z: Entwurf gewisser Staatstafeln (1685) (wie Anm. 296), S. 80.

166

KAPITEL 7. MYSTERIUM ÖFFENTLICHKEIT

hen« – aber auch Privat-Personen wollen sich ja bekanntlich keine »Verdrüßlichkeit«

aufbürden lassen und »der wenigen Zeit des Lebens gern in Ruhe genießen«.376 Der ganze Tonfall des Entwurfs deutet darauf hin, dass Leibniz ernsthaft daran dachte, die Staatstafeln als Regierungshilfe einzusetzen, der Text wirkt wie ein Verkaufsgespräch. Nicht nur, dass die Vorteile überwiegen würden, der zur Umsetzung nötige Aufwand (Vor-Ort-Besuche in den Fabriken, Gespräche mit Fachleuten) werde doch ohnehin schon betrieben, in seinem Entwurf müssten die Sachverhalte nur schriftlich fixiert werden. Diese und andere Ideen des 17. Jahrhunderts tragen zur Entstehung des modernen Staatsgebildes bei, eine Gouvernementalität (Foucault) entsteht, die Buchhaltung wird nicht nur ökonomisches, sondern auch ein zentrales politisches Element.

Die Gottes- und Gerechtigkeitsstaaten des Mittelalters wichen einem ökonomisch-rationalen Staat, der Bergbau entriss dem Schoß der Natur wertvolle Metalle, nicht zuletzt mit Hilfe von Schwarzpulver und frühen Dampfmaschinen (wie der von Thomas Savery). Solche Erfindungen machten eine rationale Denk- und Vorgehensweise nötig:

Mit dem Umlegen eines Hebels können riesige Maschinen in Gang gesetzt oder anderweitig in die Umwelt eingriffen werden – mit gewaltigen Folgen, wenn man sich die Gefährlichkeit der Dampfmaschine vor Augen führt. Knapp einhundert Jahre nach der ersten eingesetzten Dampfmaschine patentierten Matthew Boulton und James Watt im Jahre 1788 den »centrifugal governor«, der mit Hilfe von Fliehkraft die Kraftstoffzufuhr regelte, so dass die Dampfmaschine mit einer relativ konstanten Umdrehungszahl rotierte – die ungeheure Kraft regulierte sich selbst – und das in Echtzeit.

Bei Leibniz findet sich nur in den Beispielen eine Andeutung auf das Aktualisie-rungsintervall der Staatstafeln, er spricht von jährlich zu erhebenden Daten. In der durch Dampfmaschine und Börsenspekulationen beschleunigten Welt an der Schwelle des »langen 19. Jahrhunderts« waren aktuelle Informationen bares Geld wert. Der erste Beleg über das Platzen einer Spekulationsblase (»Tulpenfieber« der 1630er Jahre) war wohl schon wieder in Vergessenheit geraten und neben Transport- standen vor allem Finanzierungsmöglichkeiten während dieser ersten Industriellen Revolution

»hoch im Kurs«.

Wer ein Gefühl für die baissesundhausses bekommen wollte, musste sich lediglich in den Cafés der Großstädte umsehen, wo viele Börsengeschäfte erledigt wurden. In London beispielsweise wurden die Börsenmakler von derRoyal Exchange ausgeschlos-sen, weil sie wohl für Briten untypisch schlechte Manieren hatten – sie mussten sich in den nahe gelegenen »coffee houses« treffen. Dies bot auch Privatmenschen, sich an Börsen-Spekulationen zu beteiligen oder in bestimmte Bergbaugeräte mit Aussicht auf Gewinnausschüttungen zu investieren.377

Die Zukunft, dieses unentdeckte Land (Roddenberry), versprach Reichtümer, die vor allem die Oberschicht dringend benötigte. Es ziemte sich nicht, körperlich zu arbeiten, also blieb als Berufswahl der verarmenden Elite nur Wegelagerei oder

376. L e i b n i z: Entwurf gewisser Staatstafeln (1685) (wie Anm. 296), S. 83.

377. Alfred M a s o n beschrieb 1920 sowohl Gebäude als auch Spekulanten der »Royal Exchange«

in London. Zu den Kaffeehäusern siehe auch Kapitel 2.3.2.

7.1. DAS UNBEKANNTE STEUERN, MESSEN, LENKEN

Börsen-Spekulation übrig.378Für beide Tätigkeiten sind Echtzeit-Informationen über den Warenverkehr nötig. Der moderne Staat war (wie die feudalen Herrscher ja auch) stets verschuldet, nun bot sich eine verführerische Möglichkeit der Schuldentilgung an, die bis zum heutigen Tag wahrgenommen wird.

Aus welchen Gründen auch immer – ökonomisch oder politisch –: Der moderne Staat benötigt Echtzeit-Informationen, die weit aktueller als die Leibniz’schen »Haupt-Zeddel« sein müssten. Claus Pias zitiert den Germanisten Pierre Bertaux, der in einem Gespräch mit Arnold Gehlen, Friedrich Bauer, Heinz Zemanek und anderen teilnehmenden Experten auf das Aktualisierungsproblem der Statistik hinwies:

Das entscheidende Problem der Statistik ist ihre Aktualisierung. Die schlüssigen Informationen, auf Grund derer Entscheidungen getroffen werden, müssen so up to-date wie nur möglich sein. Diese Aktualisierung, die ein Hauptschlüssel zur Vermeidung von Wirtschaftskrisen in der indus-triellen Gesellschaft ist, kann nur auf Grund einer ungeheuren Investition in Computers, in Rechenmaschinen und in der Form einer Neugestaltung des ganzen Regierungsapparates erreicht werden, also durch eine Staats-maschine. Dazu ein französisches Sprichwort, das sagt: ›Gouverner c’est prévoir.‹ Die Kunst des Regierens ist die Kunst des Voraussehens. Die Dimension der Zukunft ist aber für die Menschen, für ihr organisches, cérébrales Denken, für das Denken mit Worten schwer zu erfassen, weil es dem Gehirn nicht möglich ist, die zahllosen Elemente, die auf das Gesche-hen einwirken, auf einmal zu überseGesche-hen. [...] Der Mensch ist von Natur aus zukunftsblind. Diesem Faktum kann durch die Maschine abgeholfen werden.379

Die »schlüssigen Informationen« sind jedoch nicht nur welche über »wüllenen Tücher«, sondern auch und gerade über die Einwohner eines Staates, ob Bürger mit Rechten oder sans-papiers ohne. Der maschinenlesbare Mensch wird zum Desiderat staatenlenkender Verwalter, die nicht nur das Volk zählen, sondern erfassen wollen.