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3.1.1 Legitimation: Platons Magnesia

In den Nomoi beschreibt Platon die Neugründung einer idealen Stadt (was für ihn gleichbedeutend mit einer Staatsgründung ist). Schon wieder, sagen hier Platon-Kenner, denn nach der idealen Verfassung wurde schon im Politikos und derPoliteia

101. In der Programmierung ist die Beschreibung sogar der Großteil der Schöpfung.

102. Antoine de S a i n t - E x u p é ry, Die Stadt in der Wüste, übersetzt von Oswalt von Nostitz, erschienen im Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 1956, S. 389. Die Seitenzahl ist der E-Book-Version entnommen.

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KAPITEL 3. UTOPIE ÖFFENTLICHKEIT

gesucht. Neu ist hier, darauf weist Volker Gerhardt hin, der realgeschichtliche Akt faktischer Zustimmung: Die Gesetzgeber verlesen im Zuge der (Neu-)Gründung von Magnesia die Präambel der Verfassung. Danach stellen sie die Siedler ganz ohne Zwang vor die freie Wahl »love it or leave it«.

Darin liegt die auf Freiheit, Gleichheit und vernünftige Einsicht eines jeden Einzelnen gegründete Legitimation der Verfassung. Sie ist auf den öffentlichen Akt der Ansprache sowie auf den gleichermaßen öffentlichen Entschluss der Siedler gegründet. [. . . ] Öffentlichkeit bleibt die conditio sine qua non des politischen Lebens.103

Für Gerhardt ist dieser realgeschichtliche Akt der faktischen Zustimmung die Auflö-sung der Aporie einer sich noch nicht in Formation befindlichen Gesellschaft, die, ohne schon Gesellschaft zu sein, als Gesellschaft über ihren Status abstimmt. In den meisten politischen Utopien findet der Protagonist bereits eine wunderbar funktionierende Welt vor, so dass dieser chaotische Anfang der Staatsgründung im Dunklen bleibt.

Exemplarisch sieht man dies bei Thomas Morus, der den Zeitgenossen von Christoph Kolumbus ziemlich glaubhaft machen konnte, dass es sich bei der Beschreibung der Insel mit ihrem idealen Staatssystem um einen Tatsachenbericht handele.

In der Informatik sind solche »Münchhausen«-Probleme, wie die oben beschriebene Aporie, unter dem Namen »bootstrap« bekannt. Das Sich-selbst-am-Schopf-aus-einer-Grube-ziehen ist im angelsächsischen Sprachraum unter der Metapher bekannt, sich am eigenen Schnürsenkel herauszuziehen, eben ambootstrap. Als bootstrapping oder bootingbezeichnet die Informatik Verfahren, die es informationstechnischen Systemen ermöglichen, komplexere Verfahren durchzuführen. Der Informatiker ist also versucht, die von Platon beschriebene Versammlung eine Bootstrap-Bürgerschaft zu nennen, um die Lösung für das Problem anzudeuten, dass eine Versammlung aufgeklärter Bürger existieren müsste, um eine Gesellschaft zu entwerfen, die wiederum für die Aufklärung der Bürger zuständig wäre.

Platon beschreibt eine Versammlung von Bürgern, die in einer öffentlichen Lesung über die geplante Staatsgründung beraten. Dabei genüge es den Gesetzgebern nicht, so Volker Gerhardt,

[. . . ] der Verfassung ein konsistentes begriffliches Fundament zu geben.

Sie halten es darüber hinaus für erforderlich, dass die Bürger auch aus eigener Einsicht – und zwar in einerausdrücklich auf die neu gegründete Stadt bezogenen Entscheidung – dem historischen Gesetzgebungswerk ihre empirisch nachweisbare Zustimmung geben. In diesem zweiten Punkt kommt die Öffentlichkeit in die Stellung einer geschichtlichlegitimierenden Instanz: [. . . ] Die Gesetzgeber kommen überein, der von ihnen vorberei-teten Staatsgründung einen proágon lógos (719a), eine prooímia nómon (722d), d. h. eine einleitende Rede oder Präambel voranzuschicken, in der sie die Grundsätze der Verfassung erläutern.104

Bleibt die Frage,wie die öffentliche Lesung und das öffentliche, faktische Einver-ständnis technisch zu lösen sind. Nimmt man das Vorhaben von Platon mit dem

103. Volker G e r h a r d t: Öffentlichkeit, München: C. H. Beck, 2012, S. 95-96.

104. Ebd., S. 94.

3.1. FUNKTIONEN DER ÖFFENTLICHKEIT IN POLITISCHEN UTOPIEN

gebotenen Ernst, gibt es mehrere Probleme. Zunächst können unmöglich alle zukünf-tigen Bürger zur gleichen Zeit am selben Ort in Hörweite sein, besonders, wenn wir mit Platon die ideale Zahl einer Bürgerschaft mit 5040 beziffern.105 Und selbst die Ohren haben zum Hören: Verstehen sie es auch? Für welches Medium – denn ein technisches Medium zur Vermittlung der Botschaft wird benötigt – sollte man sich eher entscheiden: Megaphon oder Flugblatt? Das ist keine technikverliebte Spielerei, sondern trifft den Kern des Problems, über das wir nicht hinweggehen können, indem wir einen Volkswillen oder Raumgefühl postulieren. In den Nomoi geht es um die faktische Zustimmung.

Bei Platon hat die Öffentlichkeit noch eine andere Rolle, sie dient der Verhaltens-kontrolle der »selbstverliebten« Menschen. Die anonyme Zentralfigur der Nomoi,

»der Athener«, ist eine ziemlich humorlose Person, die Ausschweifungen verabscheut.

So soll man sich»übermäßigen Lachens und Weinens« enthalten, »dazu muß jeder jeden ermahnen«, man soll »jede ausgelassene Freude, jeden übertriebenen Schmerz«

verbergen und auf Gott und das von ihm hervorgebrachte Gute vertrauen, die Lage zum Besseren zu wandeln.106. Das hört sich fast so langweilig an, wie die von Morus beschriebene Welt. Bevor wir mit Samjatin auf diesen Aspekt der Kontrolle durch Öffentlichkeit eingehen, wollen wir noch kurz einen anderen Aspekt der Legitimation durch Öffentlichkeit betrachten.

Die Legitimität eines Urteils hängt von der Öffentlichkeit ab. Zum einen müssen die zugrunde liegenden Gesetze nicht nur vorhanden, sondern auch öffentlich einsichtig sein. Zum anderen muss der Urteilsspruch in einem öffentlichen Verfahren verkündet werden. Selbst in Glaubensgemeinschaften, die das Gesetz von einer »höheren Macht«

in irgendeiner nicht näher definierten Weise erhalten haben, gilt der Spruch nur, wenn er vor der Gemeinde gefällt wird. Da wir uns im Abschnitt über fiktive Orte befinden, befremdet ein Ausflug ins alte Testament nicht allzusehr. Im Buch Susanna der Bibel wird eine Gerichtsszene beschrieben, bei der eine unschuldige Frau beinahe für ein Verbrechen verurteilt wird, das sie nicht begangen hatte. Susanna im Bade ist ein bekanntes sujet in der Malerei, aber auch ein frühes Beispiel für öffentliche Rechtsprechung (und den Wert unabhängiger Zeugenaussagen). Als Susanna zum Tode verurteilt wurde, intervenierte ein Engel des Herrn, indem er den »Geist der Einsicht« einem Teilnehmer der Gerichtsversammlung gab.107

Die pure Möglichkeit zur Intervention reicht schon aus, um den »Segen« der versammelten Öffentlichkeit zu besitzen. Wer nicht wie vom Blitz getroffen aufspringt, so die Argumentation, kann dem Gedankengang der Richter folgen. Noch bis in die frühe Neuzeit hinein bezog das gesamte Gerichtsverfahren seine Legitimation aus der Tatsache, dass die interessierte Öffentlichkeit ihre schweigende Zustimmung zum Verfahren geben konnte:

Die gesamte Rechtspflege war im Mittelalter und noch in der beginnenden Neuzeit – das [Volkacher Salbuch] stammt aus dem Jahr 1504 – öffentlich, aber in einem durchaus anderen Sinne, als wir das heute verstehen. Für

105. Zur Begründung der Zahl siehe S. 13.

106. P l at o n: Nomoi (wie Anm. 28), S. 289 (732c).

107. Wolfgang K r a u sund Martin K a r r e r (Hrsg.): Septuaginta Deutsch, Zweite, verbesserte Auflage, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2010, Sus LXX, 44-45, S. 1421.

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KAPITEL 3. UTOPIE ÖFFENTLICHKEIT

uns meint die von der Verfassung garantierte »Öffentlichkeit« die mögliche Kontrolle und damit den Ausschluss von Willkürjustiz (Kabinettsjustiz).

Damals war das gesamte Verfahren von der Verfolgung bis zur Vollstre-ckung der Strafe öffentlich, weil es unmittelbare Bedeutung für das Leben der Menschen hatte. Nur so konnten die des Lesens und Schreibens un-kundigen Leute die rechtlichen Inhalte erfahren, ebenso wurden ihnen von der Kanzel die göttlichen Verbote und Gebote gepredigt. Deshalb waren selbst Kinder bei der Hinrichtung anwesend. Das Recht war niemals eine abstrakte Normenordnung, die von einem »Verbrecher« in formalem Sinne

»gebrochen« wurde, sondern es war die Lebensgrundlage aller, weshalb sich auch alle am Rechtsleben beteiligten.108

Wolfgang Schild führt im Folgenden noch auf, dass nicht allein die Lese- und Schreibkunde einigen Wenigen vorbehalten war, sondern auch der entsprechenden, heute würden wir sagen juristischen, Fachsprache nicht mächtig waren. Wenn die Kluft zwischen Fachleuten und Publikum zu groß wird, wird zugleich die öffentliche Zustimmung immer kleiner. Aus diesem Grund ist die umfassende Bildung der breiten Bevölkerung das oberste Ziel eines idealen Staates, ganz exemplarisch im folgenden Abschnitt dargestellt.