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2.2 Die Verdrängung des Öffentlichen Raumes

2.2.2 Panoptische Räume

Jeremy Bentham erlitt ein ähnliches Schicksal wie Sokrates: Seine Ideen sind uns vor allem durch Interpreten bekannt und damit stark eingefärbt. Es ist schwer, sich den lebenslustigen Sokrates hinter den strengen Buchstaben von Platon vorzustellen oder den Foucault’schen Schatten von Benthams Panoptikum abzuschütteln. In seinen Briefwechseln behandelt der Aufklärer Bentham einen zentralen Punkt der politischen Philosophie: quis custodiet ipsos custodes? Es greift zu kurz, das Panoptikum nur auf den Entwurf eines Gefängnisses zu reduzieren. Doch selbst wenn wir bei diesem einen Gebäudekomplex bleiben, so greift es auch hier zu kurz, nur die Kontrolle der Gefangenen zu betrachten. Nicht nur zu Benthams Zeiten waren die Gefangenen leider allzu oft der Willkür der Wärter oder Gefängnisbetreiber ausgesetzt. Wenn Bentham also fragt, wer denn die Wächter bewacht, so spielt er damit nicht auf ihre Unfähigkeit oder Unlust an, sondern auf den Machtmissbrauch:51

Die Kontrolle der Macht durch die Untergebenen wird gehörig sein und um nichts weniger straff die Kandare, an welche die Kriminalität genommen wird. Den Unschuldigen wird das ein Schild sein, den Schuldigen eine Geißel.52

Die Ausführungen über die Kontrollen der Kontrolleure nehmen einen weit grö-ßeren Platz ein als die über die Gefangenenüberwachung. Er spielt in Gedanken Gefängnisinspektionen durch, einmal in klassischen Haftanstalten und einmal in seinem Panoptikum. Im ersteren Fall könne ein Inspekteur unmöglich die Situation aller Gefangenen erfassen, das erlaubten weder Zeit noch Sicherheit, also könne nur eine Stichprobe genauer untersucht werden. Diese Momentaufnahmen liefern kein repräsentatives Bild, selbst unangekündigte Kontrollen helfen da nicht weiter:

So wie dieser Plan [des Gefängnisses] die Unannehmlichkeiten für die Aufsichtsbeamten senkt, so erhöht er kaum weniger auch die Effizienz ihrer Arbeit. Mag der Besuch des Aufsichtsbeamten auch vollkommen ohne vorherige Ankündigung erfolgen, mag er auch noch so flink vorgehen, in allen anderen Fällen wird doch immer genug Zeit bleiben, die wahre Lage der Dinge zu verschleiern. Nur eine nach der anderen dieser neunhundert Zellen kann er besuchen, während in der Zwischenzeit andere, die sich womöglich in einem üblen Zustand befinden, rasch zurechtgemacht werden;

und auch die Häftlinge können eingeschüchtert und genau instruiert werden, wie sie ihm zu begegnen haben.53

50. Beschreibung und Applikation finden sich auf der Website des Instituts für Angewandte Autonomie,http://www.appliedautonomy.com/isee.html.

51. Einer der ersten Belege des Worts »who watches the watchers?« findet sich bei Juvenal, wobei er weniger von der Unlust der Wärter als vielmehr ihren »Gelüsten« spricht. J u v e n a l, Satire, VI, Z. 346-348, online unterhttp://www.thelatinlibrary.com/juvenal/6.shtml.

52. Jeremy B e n t h a m: Panoptikum oder Das Kontrollhaus, Aus dem Englischen von Andreas Hofbauer. Herausgegeben von Christian Welzbacher, Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2013, S. 33.

53. Ebd., S. 35.

2.2. DIE VERDRÄNGUNG DES ÖFFENTLICHEN RAUMES

Folgt man freilich dem Plan, so überblickt der Inspekteur mit »einem Schlag die ganze Szene«. Doch nicht nur Beamte, auch interessierte Bürger sind jederzeit eingeladen, sich ein Bild von der Situation in dieser öffentlichen Institution:

Assistenten und Stellvertreter sind sie [dem Aufsichtsbeamten], wenn er seiner Pflicht getreu nachkommt, Zeugen und Richter, sollte er seine Pflicht vernachlässigen. Es ist daher völlig gleichgültig, welche Motive sie dazu brachten, das Gefängnis aufzusuchen [. . . ]54

Die Türen der Einrichtung sollen »der Gesamtheit der Schaulustigen, diesem großen offenen Gremium des Gerichtshofs der Welt« offen stehen.55 Die Öffentlichkeit als Kontrollinstanz gegen Machtmissbrauch, fließendes Trinkwasser und sanitäre Einrich-tungen für Gefangene, keine körperliche oder seelische Gewalt nirgends– Bentham liest sich nicht als der Vordenker des Orwell’schen »Großen Bruders«.

Jeremy Benthams Panoptikum war ein Projekt der Aufklärung, das wird beson-ders deutlich, wenn er sein Prinzip auf Krankenhäuser und Schulen anwendet. Es wurde jedoch fälschlicherweise als architektonisch-technisches Projekt verstanden, wie Christian Welzbacher im Nachwort zurecht bemerkt, und eben nicht als politisch-philosophisch-soziales Aufklärungsprojekt.56

Benthams Motive sind natürlich stark von seiner utilitaristisch-kapitalistischen Denkweise geprägt, er spricht sich gegen die Verschiffung von Gefangenen aus, weil auf diese Weise Arbeitskräfte verloren gehen würden. Überhaupt nimmt das Thema (Lohn-)Arbeit eine zentrale Rolle bei ihm ein. So führt er aus, dass die ausgeübte Tätigkeit nicht etwa möglichst anstrengend und damit Strafe, sondern möglichst sinnvoll sein sollte.57 Schließlich solle der Straftäter nach Verbüßung seiner Tat mit einem Gründungskapital entlassen werden.58

Mit seinen Gedanken zur (Fehl-)Interpretation der Idee eines Kontrollhauses schließt Welzbacher mit der recht resignierenden Feststellung ab:

Der Blick ins Internet zeigt, dass der Kampf, dem »Panoptikum« die diabolische Note der düsteren Schlagschatten, sirrenden Peitschenhiebe, allwissenden Riesenaugen zu nehmen, ihm seine ureigenen erzieherischen, reformerischen Impetus zurückzugeben, vergeblich sein dürfte. [. . . ] So ist das »Panoptikum« ein Meisterstück angewandter, in ihrer Anwendung gescheiterter Philosophie der Aufklärung – ja mehr noch: Symbol für das Scheitern der Aufklärung selbst.59

54. B e n t h a m: Panoptikum oder Das Kontrollhaus (wie Anm. 52), S. 35.

55. ebd., S. 36. Hervorhebung vonopen committeeauch im Original (Payne, 1791, S. 33).

56. Dietmar Kammerer hat bereits fünf Jahre früher in seiner Dissertation darauf hingewiesen, K a m m e r e r: Bilder der Überwachung (wie Anm. 47), nun auch der Herausgeber der ersten deutschen Übersetzung: Christian W e l z b a c h e r: Nachwort, in: Panoptikum oder Das Kontrollhaus, Aus dem Englischen von Andreas Hofbauer. Herausgegeben von Christian Welzbacher, Berlin: Matthes

& Seitz Berlin, 2013, S. 196–212.

57. B e n t h a m: Panoptikum oder Das Kontrollhaus (wie Anm. 52), Brief XI, S. 54-58.

58. In der Bundesrepublik steht jedem Entlassenen ein Überbrückungsgeld zu, das nach §51 Abs. 1 StVollzG den »notwendigen Lebensunterhalt des Gefangenen und seiner Unterhaltsberechtigten für die ersten vier Wochen nach seiner Entlassung sichern« soll. Bentham nennt im 14. Brief keine konkrete Zahl, er weist nur darauf hin, dass die Summe ihm die Gründung eines Gewerbes ermöglichen soll.

59. W e l z b a c h e r: Nachwort (wie Anm. 56), S. 212.

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KAPITEL 2. DER ÖFFENTLICHE RAUM

Der Begriff des Panoptikums hat sich schon längst von seiner Ursprungsbedeutung gelöst, insofern ist es in der Tat ein müßiges Unterfangen, ihm seinen »erzieherischen Impetus« zurückzugeben. Doch wenn wir nur das Prinzip ohne den inzwischen irrefüh-renden Begriff betrachten, so entdecken wir heute viele Bentham’sche Kontrollhäuser, allen voran unser menschlicher Körper.

Unter den Modebegriffen »Quantified Self« oder »Medical Self-Monitoring« tauchen wesentliche Elemente des Panoptikums auf. Wir als Gefängnisbesitzer, Wärter und Gefangene in einem benötigen offensichtlich dringend Inspektoren, wenn es um unsere Gesundheit geht. Der nicht ganz sosmarte Schuh zählt die Schritte pro Tag, die etwas smartere Uhr am Handgelenk zählt Art und Menge der eingenommen Speise und der Umweltsensor auf dem Balkon warnt uns vor Feinstaub oder Ozon.

Auf dem Bildschirm des Heimcomputers können wir dann mit einem Blick unseren Gesundheitszustand erfassen.

Diese Selbstüberwachung wird zumeist zur Selbst-Disziplin eingesetzt, also in bestimmten Situationen unseres Lebens, in denen wir aus Verhaltensmustern ausbre-chen wollen. Oder aus Neugier, um bestimmte Prozesse besser verstehen zu können, beispielsweise den komplexen Vorgang der Genese der eigenen wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit.

Bleiben wir einmal bei der Diätetik, so drängt sich eine Frage in den Vordergrund:

Wer zieht aus den gewonnenen Erkenntnissen die entsprechenden Konsequenzen?

Doch wieder derjenige, der die Daten über sich selbst erhoben hat. Er ist nur sich selbst gegenüber rechenschaftspflichtig, es drohen nur selbst auferlegte Sanktionen, die aber ebenso schnell wieder aufgehoben werden können. Diesem Dilemma der Pflichten gegen sich selbst haben sich die Philosophen aller Zeiten immer wieder angenommen.

In Platons Politeia wird die Verinnerlichung der Sitte als Ideal beschrieben, der Einzelne soll sich unter die Herrschaft des »Göttlichen« und des »Verstands« stellen, am »liebsten zwar so, daß jeder es als sein eigenes in sich selbst habe, wenn aber nicht, dann daß es ihm von außen [jemand] gebiete, damit wir alle als von demselben beherrscht auch nach Vermögen einander insgesamt ähnlich seien und befreundet.«60 Sokrates zielt natürlich auf Gesetze und Staatsverfassung ab, er zeigt sein Argument aber am Beispiel der Ernährung auf und setzt dabei ganz auf den Vernunftmenschen.

Jedoch weiß der Vernunftmensch zuweilen, dass er das Richtige unterlässt und das Schlechte verfolgt: »video meliora proboque deteriora sequor«.61Der innere Zwang ist manchmal nicht ausreichend, also statten wir andere mit Vollmachten aus und engen unsere Handlungsfreiheit ein wenig ein. Diese politische Idee eines Leviathan erfährt in der Informationsgesellschaft eine ungeheure Dimension: die technische. Widerstand gegen die Staatsgewalt wird sanktioniert, sie ist aber möglich. Der kybernetische Leviathan hingegen duldet keinen Widerspruch – resistance is futile.

Unterscheiden wir einmal den Kontrollbegriff nach seiner Funktion. Da haben wir zum einen die Kontrolle im Sinne einer gewissenhaften Überprüfung einer Behauptung.

Der Richterbeamte in Benthams Plan ist ein Kontrolleur in diesem ersten Sinne.

60. P l at o n: Politeia, in: Bd. 2, Sämtliche Werke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie, 1994, S. 211–537, 590d, S. 503.

61. Ovid, Metamorphosen, VII, Z. 20-21, online unter http://la.wikisource.org/wiki/

Metamorphoses_(Ovidius)/Liber_VII.

2.2. DIE VERDRÄNGUNG DES ÖFFENTLICHEN RAUMES

Abbildung 2.1: Erzieherischer Impetus durch YouTube, Verbotsschild in Mikulov, Tschechien. (c) The Atlantic.

Dann gibt es noch die Kontrolle im Sinne einer Führung, Leitung, Wahrung der Hoheit. Das »offene Gremium des Gerichtshofs der Welt« kontrolliert auch ohne vorauszusetzende Absicht die Kontrolleure.

Diese Kontrolle zweiter Ordnung, die Kontrolle der Kontrolle ist eine abstrakte, die nur dann sinnvoll ausgeübt werden kann, wenn die entsprechenden Machtmittel bereitgestellt werden. Die erste ist eine faktische, die zweite eine normative Kontrolle.

Einen ähnlichen Kategorienwechsel sehen wir bei der Unterscheidung zwischen Open-Source-Software und Freier Software (free software, free as in freedom). Die Kontrolle des offenen Gremiums aller Programm-Code-Literaten bezieht sich beiopen source software auf die gewissenhafte Prüfung, ob die Quelltexte Fehler enthalten.

Freie Software ist dagegen solche, die es dem vernetzten Weltbürger ermöglicht, seine geschriebenen und ungeschriebenen Grundrechte durchzusetzen.62

Diese Doppelbedeutung kann man auch am Begriff »Überwachung« festmachen.

»Überwachung« kann im Englischen mit »surveillance« und mit »monitoring« über-setzt werden, wobei im ersteren Fall noch der Schutz eines Menschen oder eines Objektes mitgedacht wird. Im Deutschen, daran erinnert Dietmar Kammerer, trägt das Wort Überwachung stets die Komponente der Übermüdung mit sich, die entsteht, wenn man am Lager eines Freundes »Wache hält« und dementsprechend die ganze Nacht wach bleiben muss.63 Kammerer verweist auf das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, wo wir als erste Bedeutung von »überwachen« das lateinische Synonym »pernoctare«, die Nacht durchwachen, präsentiert bekommen.

62. Siehe dazu den verwandten Diskurs um die Einführung einer Zivilklausel für die bekannte Open-Source-Lizenz GPL.

63. K a m m e r e r: Bilder der Überwachung (wie Anm. 47), S. 11.

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KAPITEL 2. DER ÖFFENTLICHE RAUM

Wir lesen die Warnung, dass wer »ettliche nächt überwachen« müsste, wohl alsbald in »schwere kranckheyt fallen« würde.64

In der Bedeutung bewachen (vigilare), beaufsichtigen, im Auge behalten findet es sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dann im Zusammenhang mit Gen-darmen undPolizey. Beide Bedeutungen fallen in den modernen Kontrollräumen von Sicherheitsbeamten und – Überwachung ist längst keine staatliche Angelegenheit mehr – vor allem Angestellten von Sicherheitsfirmen zusammen. Übermüdet sind sie, was angesichts der unzähligen flimmernden Monitore, die sie ständig im Blick haben müssen, wollen sie ihren Auftrag erfüllen, nicht weiter verwundert. Das wache Blick-richten-auf ist einem müden Berieseln-lassen-von gewichen; aus dem vigilare wurde wieder einpernoctare.

Damit sind gleich zwei Orte der Öffentlichkeit beim Einsatz von Überwachungssys-temen gefährdet: Einerseits der zu überwachende Platz im öffentlichen Raum, aber zudem der Platz des öffentlichen Überwachers. In Jeremy Benthams Panoptikum war der zentrale Raum des Gefängniswärters zwar nicht von den Gefangenen, sehr wohl aber von der interessierten Öffentlichkeit einsehbar, dem »great open committee of the tribunal of the world«.65