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4.2 Demokratie und Bildung

4.2.2 Meinungsbildung und Partizipation

Politische Partizipation des nicht politisch aktiven Teils des Volkes muss sich nicht mehr nur auf das Setzen eines Kreuzchens alle vier Jahre konzentrieren: Neue, parti-zipative Medien locken mit der faktischen Teilnahme an der Politik, sie ermöglichen vorgeblich nichts Geringeres als die (Heraus-)Bildung eines weisen Allgemeinwillens, der sich aus dem akkumulierten Willen aller zusammensetzt.

Die Weisheit der Masse ist kein allzu neues Konzept, jedoch konnte man ihre Wir-kung bei der Entstehung der Online-Enzyklopädie Wikipedia tatsächlich beobachten und nicht nur theoretisch formulieren. Es lag nahe, den Erfolg auch auf das Politische zu übertragen und das Machtmonopol jener Elite in Frage zu stellen, die einem postulierten Allgemeinwillen anstatt dem Willen der Allgemeinheit gehorchen, der sich in der Gesamtheit aller Äußerungen der (unbedingt vernünftigen) Bürger zeigt.

Jürgen Habermas hat die Vernunft aus der Einzelhaft befreit und sie im inter-subjektiven Raum verortet, der immer dann entsteht, wenn sich miteinander kom-munizierende Menschen in der Absicht versammeln, sich gegenseitig verstehen zu wollen. In einer demokratischen Gesellschaft ist dieser Raum die Öffentlichkeit. Für den Einzelnen und die Gesellschaft wichtige Themen werden in der Öffentlichkeit diskutiert, in der Absicht einen Konsens über durchzuführende politische Handlungen zu erzielen.

Wichtig für die öffentliche Deliberation ist (neben der Abwesenheit von Macht) die Forderung, dass am Ende des Entscheidungsprozesses das beste Argument erstens gefunden wird und sich zweitens durchsetzt. Damit das beste Argument gefunden werden kann, müssen zunächst alle Meinungen gleichberechtigt geäußert werden können, was angesichts der begrenzten Lebenszeit eines Menschen nicht praktikabel ist. In der Praxis werden Meinungen gewichtet und im Falle einer allgemeinen Zustimmung zu einer (kodifizierten) Norm der Gesellschaft.

Mit Hilfe der digitalen Medien könnten wir, so die Hoffnung, tatsächlich alle Argumente in einem Computersystem sammeln und darüber beraten – und eben nicht einfach nur abstimmen. Der eingetragene VereinLiquid Democracy nennt diese neue Form der politischen Willensbildung und Beteiligung »Direkter Parlamentaris-mus«.198Die Idee ist einladend wie einleuchtend: Durch Softwareunterstützt können die Vorteile der repräsentativen Demokratie, insbesondere die Rolle des Parlaments, umgesetzt und gleichzeitig die Nachteile einer direkten Demokratie, beispielsweise die

198. Liquid Democracy e. V.: Direkter Parlamentarismus, http://liqd.net/schwerpunkte/

theoretische-grundlagen/direkter-parlamentarismus/Stand: 2011, abgerufen am 2. März 2013.

4.2. DEMOKRATIE UND BILDUNG

Entstehung einer Ochlokratie, vermieden werden. Da die Software Adhocracy nach demokratischen Prinzipien funktionieren soll, ist deren Beschreibung ebenso komplex wie die einer Staatsform.

Die zentrale Idee ist, das parlamentarische Mandat nicht personenbezogen zu erteilen, sondern die Stimme des Wählers themenbezogen an eine »ihm kompetent erscheinende Person« zu delegieren. Eine Debatte, beispielsweise über bestimmte Normen, erfolgt stets schriftlich, so dass man die Kompetenz (und das Niveau) der Diskussionsteilnehmer anhand der vorgebrachten Argumente ersehen kann. Die Argumente werden durch die Zustimmung oder Ablehnung der Nutzer des Systems gewichtet, das beste (lies: das als bestes bewertete) Argument setzt sich durch und findet, kodifiziert und formalisiert, als »Norm« Eingang in das System.

Adhocracy ist also kein System zur technikgestützten Abstimmung, sondern ein technisches Werkzeug (tool) zur Themenbewertung und Entscheidungsfindung. Es wurde beispielsweise von der Enquête-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des deutschen Bundestags eingesetzt, um so dem Selbstanspruch gerecht werden zu können, die Öffentlichkeit in besonderem Maße in ihre Arbeit einzubeziehen.

Der digital vernetzte Bundesbürger konnte sich als »18. Sachverständiger« in die Expertenkommission einbringen; mit welchem Erfolg sei dahingestellt.199

Bis Anfang Dezember 2011 beteiligten sich knapp 250 Wähler an dieser vom Bundestag bereitgestellten Instanz von Adhocracy, nach Abschluss der Enquête im Februar 2013 waren es bereits über 3300. Die verhältnismäßig geringe Beteiligung lag nicht nur am Unwillen der Enquête-Beteiligten mit besonders schwerem Parteibuch, sondern auch und nicht zuletzt an der fehlenden Berichterstattung in den etablierten und den so genannten neuen Medien: Nur wenige politisch Interessierte wussten überhaupt, dass sie sich in dieser Form beteiligen konnten.

Dabei ist die Bürgerbeteiligung essentiell für das demokratische Leben. Der Philo-soph und ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin hat mehrfach darauf hingewiesen, dass eine Demokratie aus weit mehr besteht als aus regelmäßigen Ab-stimmungen zum Thema, erfolgten sie durch das Volk direkt oder vertreten durch gewählte Abgeordnete. Doch selbst der vorgeblich so einfache Fall von Abstimmungen kann unter noch so idealen Bedingungen durchaus irrational sein, wie er gemeinsam mit dem Mathematiker Lucian Kern in Anlehnung an das Abstimmungsparadox des Marquis de Condorcet von 1785 feststellt. Kern und Nida-Rümelin nennen als ein Problem die

[. . . ] zyklische Folge, die keine sinnvolle gemeinsame Entscheidung über die Alternativen erlaubt, da trotz konsistenter (strikter) Präferenzen der Individuen ein kollektives Resultat entsteht, bei dem innerhalb der

199. Enquête-Kommission Internet und digitale Gesellschaft, 18. Sachverständiger be-ta, https://www.enquetebeteiligung.de/. Ein schönes Beispiel für einen gelungenen Diskurs, der in einer Zustimmung mündet, findet sich hier: https://neutralitaet.

enquetebeteiligung.de/proposal/295-Erhebung_zur_Netzauslastung, ein in der Sache ab-gelehnter Vorschlag dort: https://neutralitaet.enquetebeteiligung.de/proposal/304-Nutzerseitige_Differenzierung_der_Netzqu.

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KAPITEL 4. INDIVIDUUM UND NEUE MASSEN

zyklischen Folge jede Alternative gegenüber jeder anderen bevorzugt wird.200

Ein einfaches Beispiel, das jedem Studenten der Informatik bekannt ist, illustriert das Problem. Nehmen wir an, Alexa, Boris und Christoph wollen einen Laptop mit einem Betriebssystem bespielen, jedoch haben alle drei unterschiedliche Präferenzen bei der Wahl des Betriebssystems. Sie einigen sich darauf, ihre Präferenzen geheim auf ein Blatt Papier zu schreiben und dann die Mehrheit entscheiden zu lassen. Wie es der Zufall (und der Autor) will, entsteht jedoch eine von Condorcet beschriebene zyklische Folge (siehe Tabelle 4.1).

Alexa Boris Christoph Linux Windows Mac OS

Mac OS Linux Windows

Windows Mac OS Linux

Tabelle 4.1: Das Abstimmungsparadox von Condorcet in der Version fürGeeks

Die Autoren Kern und Nida-Rümelin lassen keinen Zweifel an der Häufigkeit solcher zyklischen Folgen. Sie schreiben:

Tatsächlich treten [die zyklischen Folgen] bei drei Entscheidungsbeteilig-ten und drei Alternativen bereits mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,06 auf, d. h. 6% der möglichen (und als gleichwahrscheinlich angenommenen) Präferenzstrukturen führen zu einer zyklischen Folge, denn in diesem Fall gibt es (3!)3= 216 mögliche Präferenzstrukturen, von denen 12 eine zyklische Folge implizieren. Mit steigender Zahl von Entscheidungsbe-teiligten und Alternativen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit deutlich, so daß bei 7 Beteiligten und 4 Alternativen schon in 15% der Fälle eine Präferenzstruktur vorliegt, die eine zyklische Folge ergibt.201

In dem gewählten Beispiel ging es nur um Geschmacksurteile, den größte Ärger bei der Wahl eines für die vorgesehene Aufgabe bestimmten Betriebssystems verursacht die Mühe, die Datensicherungen einzuspielen, nachdem man sich eine Schadsoftware eingefangen (Windows), eine Systembibliothek falsch kompiliert (Linux) oder das Datum falsch eingestellt (Mac OS) hat.202 Für den Marquis de Condorcet und seine Zeitgenossen ging es nach der Revolution um mehr. Er wurde 1791 als Vertreter von Paris in die gesetzgebende Nationalversammlung gewählt, seine Stärke lag jedoch mehr in der Mathematik als in der Rhetorik, wie George Szpiro in seinem wunderbaren Werk zur »verflixten Mathematik der Demokratie« ausführt.203

200. Lucian K e r n und Julian N i d a - Rü m e l i n: Logik kollektiver Entscheidungen, München:

Oldenbourg Verlag, 1994, S. 29.

201. Ebd., S. 30, Tabelle auf S. 31.

202. Samuel G i b b s: Setting the date to 1 January 1970 will brick your iPhone, iPad or iPod touch, Guardian vom 12. Februar 2016, online unterhttps://www.theguardian.com/technology/

2016/feb/12/setting-the-date-to-1-january-1970-will-brick-your-iphone-ipad-or-ipod-touch.

203. George S z p r i o: Die verflixte Mathematik der Demokratie, Berlin: Springer, 2011, S. 73.

4.2. DEMOKRATIE UND BILDUNG

Doch eben diese Mathematik hat ihre Grenzen in sozialen Fragen. Platons Be-geisterung über die algorithmische Bestimmung der Partition der Ländereien oder Leibniz’ Hoffnung einer algorithmischen Lösung von Meinungsverschiedenheiten hält Condorcet sein nach ihm benanntes Paradoxon entgegen:

Worin besteht nun die Lösung? Die Antwort ist niederschmetternd: Es gibt keine. Es gibt keinen Ausweg aus Condorcets Paradoxon. Was auch immer man auswählt, es gibt eine Mehrheit, die etwas anderes vorziehen würde. Die Vorlieben drehen sich im Kreis durch alle Möglichkeiten hindurch und das Paradoxon bleibt bestehen. [. . . ] Im mathematischen Jargon würde man sagen, dass „Mehrheitsmeinungen nicht transitiv“ sind.

Was für eine Enttäuschung für die Demokratie!204

Aktuelle Vorschläge zu Wahlmethoden, die nicht nur geheim und transparent, sondern auch noch wirklich gerecht sein sollen, können sinnvoll nur noch mit Hilfe von Computerprogrammen umgesetzt werden. Wenn wir dann auch noch mehrere Stimmen pro Wähler zulassen (»Kumulieren und Panaschieren«), ähnelt die Matrix, die bei der Errechnung der Sitzverteilung entsteht, einem s u d o k u-Spielzettel. Dabei soll die Wahl von allen Wählern nachvollziehbar sein, wie eine wichtige Forderung aus der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Wahlcomputer lautet. Kurz: Es soll (von entsprechend politisch Gebildeten) einfach zu verstehen sein.

In der politischen Berichterstattung der Medien und in den unzähligen TV-Gesprächskreisen scheint die Einfachheit der mess- und vergleichbaren Zahlen eine magische Anziehungskraft zu sein. Bei politischen Umfragen soll die Balkenhöhe in den präsentierten Diagrammen den Grad der Zustimmung ausdrücken, die An-zahl von tweets unter bestimmten #hashtags soll politische Relevanz widerspiegeln – Gesellschaft ist in dieser Sichtweise lediglich ein (Online-)Publikum im digitalen Colosseum, das bei den unterschiedlichsten Themen seinen Daumen nach oben oder unten richten soll.205

Doch wie soll man so hochkomplexe Entscheidungen treffen, beispielsweise über das menschenwürdige Leben, wenn es eben hierbei um Lösungsansätze gehen sollte, die gemeinsam ausgehandelt werden sollten. Nach welchem internen Kriterienkatalog richtet sich der moralisch handelnde Mensch in seinen Entscheidungen? Wie könnte ein solcher Katalog aussehen, in dem nicht nur geschrieben steht, was der Mensch darf und was er unterlassen muss, sondern auch, wie er fühlen und denken muss.

Philosophen und Ethiker verhandeln seit Jahrhunderten im Dialog mit sich und der Gesellschaft aus, wie ein solcher Katalog aussehen könne und ob es so etwas überhaupt geben kann.