• Keine Ergebnisse gefunden

2.3 Digital(t)räume

2.3.2 Virtuelle Kaffeehäuser

Orte der Öffentlichkeit sind öffentliche Orte, die – formal oder aus Tradition heraus – institutionalisierte Orte des politisch interessierten Bürgers sind. Warum hierzulande und heutzutage nach wie vor »die Straße« als Paradebeispiel angeführt wird, erschließt sich bei näherer Betrachtung nicht mehr. Dem sich ohne Automobil oder zumindest irgend eine Art von Fahrzeug bewegendem Bürger steht beispielsweise die Fahrbahn nicht zur Verfügung, da alleine seine räderlose Anwesenheit als Verstoß gegen §1 Abs. 2 StVO ausgelegt werden kann. Picknick-Tischchen in der Parkbucht sind ebenso selten zu sehen wie öffentliche Debatten auf dem Standstreifen.

Mehr noch, eine Ansammlung auf öffentlicher Straße kann von den Behörden unter-sagt werden, wenn dies Sicherheitsrisiken nach sich ziehen könnte. Bleibt also nur der Gehweg, oder, gehobener und in diesem Zusammenhang schlüssiger: der Bürgersteig als möglicher Versammlungsort jenseits von Plätzen und Parks. Das spielt aber keine allzu große Rolle, das soziale Leben findet in der Stadt ohnehin an anderer Stelle statt.

75. C a s t e l l s: The Rise of the Network Society (wie Anm. 71), S. 66.

76. Ebd., S. xxxvii.

34

KAPITEL 2. DER ÖFFENTLICHE RAUM

Abbildung 2.3: Ein kleiner Streit unter Kaffee-Enthusiasten. Dieses wohl nicht sehr akkurate Abbild der damaligen Situation wurde dem satirischen Gedicht »Vulgus Brittanicus« (1710) von Ned Ward entnommen.

Im Bereich des Politischen galten die Londoner oder Wiener Kaffeehäuser in ihrer

»Blütezeit zwischen 1680 und 1730« als Inkubatoren der Öffentlichen Meinung.77 Vielleicht werden diese Orte rückblickend etwas überbewertet. Wenn man sich zeitgenössische Abbildungen und Berichte über die Kaffeehausszene ansieht, lesen wir nicht von kühl geführten Debatten, sondern über erhitzte Streits, wo schon einmal der heiße Tasseninhalt seinen direkten Weg zum politischen Gegner nimmt. Auf der anderen Seite wurden durch die Kaffeehäuser, genauer: durch den Kaffee überhaupt erst Diskussionen möglich. Matthew Green erinnert in seinem Pamphlet über die

»Lost World of the London Coffeehouse« an die damalige Situation:

Remember – until the mid-seventeenth century, most people in England were either slightly – or very – drunk all of the time. Drink London’s fetid river water at your own peril; most people wisely favoured watered-down ale or beer (»small beer«). The arrival of coffee, then, triggered a

77. H a b e r m a s: Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 12), S. 92.

2.3. DIGITAL(T)RÄUME

dawn of sobriety that laid the foundations for truly spectacular economic growth in the decades that followed as people thought clearly for the first time. The stock exchange, insurance industry, and auctioneering: all burst into life in 17th-century coffeehouses – in Jonathan’s, Lloyd’s, and Garraway’s – spawning the credit, security, and markets that facilitated the dramatic expansion of Britain’s network of global trade in Asia, Africa and America.78

Die ökonomischen Dispute ergaben sich an einem solchen Ort der Börsenspekulation von selbst; sie waren jedoch fast immer mit politischen Ansichten verknüpft, wenn man beispielsweise an die south sea bubble Anfang des 18. Jahrhunderts denkt.79 Der Zugang zu den politisch räsonnierenden Kreisen war so einfach wie nie zuvor – aber dennoch exklusiv. Nicht nur, dass keine Frauen zur Kaffeegesellschaft zugelassen wurden, es wurde auch eine Eintrittsgebühr erhoben. Der Zugang kostete um 1700 einen Penny (a penny for your thoughts), eine Schutzgebühr, die sich der Londoner Mittelstand durchaus leisten konnte und wollte, aber eben die ärmeren 60% der Bevölkerung ausschloss.

Im 20. Jahrhundert fand sich in Deutschland kein Pendant zu den österreichischen Kaffeehäusern und den englischen Clubs, in denen sich politisch interessierte (und, wir erinnern uns: ausschließlich männliche, wohlhabendere) Bürger über aktuelle Entwicklungen der Weltgeschichte austauschten. In Deutschland organisiert sich der Zusammenschluss der Privatleute zum Publikum in geheimen Zirkeln, Orden, Kam-mern und Akademien. Die Versammlung in öffentlicher Absicht musste hierzulande paradoxerweise im Geheimen stattfinden:

Die Vernunft, die sich in der rationalen Kommunikation eines Publikums gebildeter Menschen im öffentlichen Gebrauch des Verstandes verwirkli-chen soll, bedarf, weil sie jedes Herrschaftsverhältnis bedroht, selber des Schutzes vor einer Veröffentlichung.80

In anderen Orten der Erde waren Versammlungen in politischer Absicht ebenfalls unerwünscht, in Venedig etwa war es Kaffeehausbesitzern am Markusplatz verboten, mehr als fünf Leute gleichzeitig zu bedienen. Habermas zeichnete einen Verfall der literarischen Öffentlichkeit, aber auch Green spricht von einem Verfall, nämlich dem der Orte der literarischen Öffentlichkeit. Wenn ein Besucher heute das berühmte Kaffeehaus besuchen möchte, das der Schriftsteller Joseph Addison 1712 eröffnete und das Steele, Pope, Swift, Arbuthnot und andere prominente Figuren der Zeitgeschichte frequentierten, dann müsse man sich auf einen Kulturschock gefasst machen: Das

»Button’s« ist inzwischen ein Starbucks. Green schließt seinen Essay mit den Worten,

»there is no trace of the literary, convivial atmosphere of Button’s. Addison would be appalled.«81

Die netzpolitische Elite des jungen 21. Jahrhunderts hat sich die Cafés zurück-erobert, selbst die der großen Ketten wie Starbucks oder – hier in Berlin –Einstein.

78. Matthew G r e e n: The Lost World of the London Coffeehouse, in: Adam G r e e n (ed.):

Public Domain Review vom 7. August 2013, u r l: http://publicdomainreview.org/2013/08/0 7/the-lost-world-of-the-london-coffeehouse/.

79. Alfred M a s o n: The Royal Exchange, London: Royal Exchange, 1920, S. 51ff.

80. H a b e r m a s: Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 12), S. 96.

81. G r e e n: The Lost World of the London Coffeehouse (wie Anm. 78).

36

KAPITEL 2. DER ÖFFENTLICHE RAUM

Sie lesen dutzende Zeitungen und diskutieren über das Gelesene. Die Zeitungen liegen selbstverständlich digital vor und werden natürlich über das offene Funknetz des Kaffeehausbesitzers bezogen. Der fundamentale Unterschied ist jedoch, dass die Diskussionspartner in der Regel nicht im selben Lokal sitzen, sondern per Chat, Twitter oder (seltener in politischen Fragen) Facebook – das Prinzip ist jedoch das gleiche.82

Dass Orte der Öffentlichkeit im Digitalen, bzw. um die digitale Dimension erweitert nachgebildet werden, ist begrüßenswert. Jedoch scheint es so, dass gerade Restriktio-nen penibel nachgebildet werden, wohingegen Macht in Frage stellende Praktiken nicht gewünscht sind. Eine »Digitale Ecke des Sprechers«, analog zurspeaker’s corner im Londoner Hyde-Park, explizit durch Gesetze geschützt, fehlt in den elektronischen Medien völlig, beziehungsweise ist dort »gezähmt« worden:

Die private Medienproduktion ist weiter nichts als konzessionierte Heim-arbeit. Bloßes Zugeständnis bleibt sie auch dann, wenn sie veröffentlicht wird. Dafür haben die Inhaber der Medien eigene Programme und Ru-briken entwickelt, die gewöhnlich Demokratisches Forum oder so ähnlich heißen. Dort, in der Ecke, hat dann »der Leser (Hörer, Zuschauer) das Wort«, das ihm natürlich nach Belieben abgeschnitten werden kann. Wie in der Praxis der Demoskopie wird er nur gefragt, damit er Gelegen-heit habe, seine eigene Abhängigkeit zu bestätigen. Es handelt sich um einen Regelkreis, bei dem die Eingabe den feedback bereits vollständig einkalkuliert.83

In den Privaträumen von Facebook und Co. hingegen scheint es nur noch Schreihälse zu geben, die um Aufmerksamkeit buhlen. Die Betreiberfirmen mit kommerziellem Interesse schotten diese Diskursräume hermetisch ab, was beispielsweise die Arbeit der Polizei erschwert, etwa, wenn es um Volksverhetzung oder sexuelle Belästigung geht. Es erschwert aber auch den Meinungspluralismus, wenn die normativ garantierte Meinungsfreiheit faktisch von den Allgemeinen Geschäftsbedingungen eingeschränkt werden kann.