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Falls Sie in einer Stadt mit relativ intaktem ö p n v wohnen (das »ö« steht natürlich für »öffentlich«), wissen Sie, dass bestimmte Orte der Stadt besser zu erreichen sind als andere. Die Fahrtzeit hängt in diesem Fall dann eben nicht in erster Linie von der Entfernung zwischen Start- und Endpunkt ab, sondern hauptsächlich von der Entfernung zu den jeweiligen U-Bahn-Stationen, wie oft man umsteigen muss und ob die S-Bahn mal wieder streikt. Technische Erzeugnisse und Systeme legen sich nicht nur wie eine technische Folie (overlay) über einen bereits vorhandenen öffentlichen Raum, sie formen und transformieren ihn. Dies gilt in besonderer Weise für Netze, die bereits in der Antike bestimmte Städte florieren ließen, weil sie an Handelszentren entlang der Wegenetze oder strategisch günstiger Buchten lagen.

2.1.1 Informationsnetze

Wir finden gewaltige Verkehrs- und Informationsnetze bei Augustus (cursus publicus), 500 Jahre zuvor auch in Persien, die neben dem Gütertransport eben auch der Kom-munikation dienten. Der Kirchenhistoriker Christoph Markschies wagt sogar, für diese vergangenen Staatsgebilde die Bezeichnung »Informationsgesellschaft« heranzuziehen.

Er stellt sich die Frage, ob

es nicht doch so ist, dass der Kitt, der das Römische Reich zusammenhält, der also diese Einheit von Spanien über Nordafrika bis in den Nahen Osten zusammenhält, Informationen sind. Zumindest kann man sagen, dass die-ser Kitt nicht das Militär war, denn das war nur eine vergleichsweise kleine Schicht von Leuten. Es wurde nicht durch militärischen Druck zusam-mengehalten, ebensowenig durch wirtschaftliche Zwänge. Ist der Kitt, der dieses riesige Reich mit minimalen Verwaltungsstrukturen zusammenhält, vielleicht die Information, der Informationstransfer? Rechtfertigt dies,

31. P l at o n: Nomoi (wie Anm. 28), Fünftes Buch, 738d-e, S. 297.

32. Der Gesetzestext ist öffentlich zugänglich; anstatt einer Zitatangabe bitte ich Sie, die Original-Quelle selbst zu recherchieren.

2.1. TECHNISCHE RÄUME DER ÖFFENTLICHKEIT

dass wir das Römische Reich als »Informationsgesellschaft« – wenigstens in Anführungsstrichen – bezeichnen können?33

Er begründet sein Wagnis mit drei Beispielen. Das erste handelt von der Geschichte der Wiedereroberung von Feldzeichen durch Augustus. In der Folge wurde nicht nur ein Triumphbogen in Rom errichtet, sondern auch Münzen geprägt, die dieses Ereignis festhielten. Wer immer diese Münzen in den Händen hielt, konnte den militärischen Erfolg des Augustus bestaunen – vorausgesetzt, er konnte lesen, wusste wer Augustus waret cetera. Zum Zweiten finden wir im Römischen Reich etwas vor, das wir heute als Werbung bezeichnen würden. Ein Gastwirt warb mit einem leicht zu merkenden Distichon für sein Haus in Lyon; dieser Werbespruch verbreitete sich schließlich im ganzen Reich. Sein drittes Beispiel handelt von der Synchronisierung des Osterfestes.

In einem riesigen Reich ticken Uhren und Kalender unterschiedlich, müssen aber beim wichtigsten kirchlichen Fest in Einklang gebracht werden. Dies geschieht durch Information. Markschies schließt mit den Worten:

Die Informationen halten nicht nur das Römische Reich zusammen, son-dern sie steuern auch ein gutes Stück die alltäglichen Lebenszusammen-hänge in einer vereinheitlichenden Art und Weise für bestimmte Regionen.

Alle kriegen den Osterfestbrief des Athanasius vorgelesen. Der wird in der Kirche vorgelesen. Die ganzen dort anwesenden Leute in Ober-, Mittel-und Unterägypten erfahren davon, Mittel-und die Information verändert ihr Leben. Die Antike hatte auch deswegen eine globalisierte »Informations-gesellschaft«, weil beispielsweise der berühmte Tatenbericht des Augustus an ganz vielen verschiedenen Orten in Stein gemeißelt an der Wand stand, und eine zentrale Behörde dafür sorgte, dass man überall in den Augus-tustempeln im Reich lesen konnte, was der Kaiser getan hat. Es gab also Instanzen, die für die Speicherung der Information sorgten.34

Der öffentliche Raum desForum Romanumswar der materielle Ort der immateriellen Information. Doch was meinen wir mit »Information«? Für einen Informations-theoretiker wie Claude Shannon ist es ein Maß für Entropie mit der Einheit »bit«, den Elektrotechniker Shannon interessiert der Inhalt nicht, sondern lediglich die Sicherheit der Übertragung von Information in einem Kanal. Der Menschenkenner Shannon warnt darüber hinaus vor einer Übertragung seines inzwischen berühmten Sender-Kanal-Empfänger-Modells auf zwischenmenschliche Phänomene. Mit dieser Warnung im Ohr könnte eine Definition politisch aufgeladen und in Hinblick auf das Gesellschaftswesen Mensch folgendermaßen lauten: Information ist die in Wort, Schrift, Bild, Akt und Zahl kodierte Meinung eines Individuums oder einer Gruppe von Menschen.Kodiert heißt in diesem Zusammenhang, dass die Meinung geäußert, niedergeschrieben, zur Schau gestellt, verkörpert oder digitalisiert wird. Es gibt beson-dere Meinungen, die wir aufgrund bestimmter Verfahren oder unmittelbarer Einsicht

33. Christoph M a r k s c h i e s: Vergangene Informationsgesellschaften. Oder: auch in der Antike gab es schon Kommunikationsmedien, Ein Beitrag zur Tagung »Shapes of Things to Come« am 15. 2. 2006. Transkribiert und redaktionell nachbearbeitet von Stefan Ullrich für turing-galaxis.de.

Erstellt am am 9. Februar 2012, 15. Februar 2006, u r l: http://www.turing-galaxis.de/blog/wp-content/uploads/Markschies_Transkription1.pdf, S. 3.

34. Ebd., S. 7.

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KAPITEL 2. DER ÖFFENTLICHE RAUM

als Tatsachen bezeichnen oder als Gesetze. Sind diese Verfahren nicht öffentlich, sprechen wir von Glaube oder Überzeugung.

Der Austausch der Meinungen scheint uns als Menschheit inzwischen ein so hohes Gut, dass es in zahlreichen Verfassungen, Verfassungszusätzen und nicht zuletzt in der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte zu finden ist (Art. 19): »Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.« Anders als im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (»in Wort, Schrift und Bild«), heißt es hier explizit »Medien jeder Art«.

Das ist für die vorliegende Arbeit wichtig, da es sich bei informationstechnischen Erzeugnissen wie Software weder um Wort, Schrift oder Bild handelt.

Doch auch wenn wir von Immateriellem wie Information sprechen, müssen wir die materiellen Voraussetzungen mitdenken. Schon Bertolt Brecht fragte provokativ in Hinblick auf die nationalsozialistische Bombardierung von Gernika (baskisch;

spanisch: Guernica): »wenn ein und derselbe gewalttätige Eingriff den Völkern die Butterund das Sonett entziehen kann, wenn also die Kultur etwas so Materielles ist, was muß dann getan werden zu ihrer Verteidigung?«35 Er beantwortet sie am Ende der Rede selbst:

Die Kultur, lange, allzu lange nur mit geistigen Waffen verteidigt, ange-griffen aber mit materiellen Waffen, selber nicht nur eine geistige, sondern auch und besonders sogar eine materielle Sache, muß mit materiellen Waffen verteidigt werden.36

Glücklicherweise befinden wir uns heute in diesem Land nicht in einer solchen Extremsituation, so dass sich Vergleiche nicht adäquat ziehen lassen. Lediglich in der Wortwahl finden wir Martialisches, etwa, wenn Bürgerrechtler zur »Digitalen Selbstverteidigung« aufrufen oder politische Gruppierungen wie »Anonymous« sich als Legion oder Freiheits-Armee bezeichnen – von dem inflationär gebrauchten Begriff

»cyber war« einmal ganz abgesehen. Der Hinweis auf die vermeintlich immateriel-le Kultur sollte dazu dienen, die ebenfalls als immateriell geltende Öffentlichkeit auch als Teil der materiellen, sinnlich erfahrbaren Welt zu sehen. Nehmen wir eine besonders gut sichtbare Manifestationen von Öffentlichkeit: Demonstrationen. Zur Durchführung sind mindestens drei ganz materielle Voraussetzungen zu identifizie-ren. Zu einer politischen Demonstration aufgerufen wird die Bevölkerung von einer Gruppe Aktivisten. Der Aufruf wird über (a) Informations- und Kommunikations-netze verbreitet, zu der Demonstration selbst reist man dank eines funktionierenden (b) Verkehrsnetzes an. Sie selbst findet auf einem (c) öffentlichen Platz statt. Gerade der Punkt der Informations- und Kommunikationsnetze wirft die Frage auf: Wer hält eigentlich den Hauptschalter für sie in den Händen? Die Kabelnetzbetreiber oder die Diensteanbieter? Der Jurist und Internetaktivist Tim Wu wirft die Frage nach dem

35. Bertolt B r e c h t: Rede zum II. internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur, in: Gesammelte Werke 18. Schriften zur Literatur und Kunst 1, hrsg. v. S u h r k a m p -V e r l a g z u s . m . E l i s a b e t h H a u p t m a n n, Ausgabe für die DDR, in Umfang und Text identisch mit Frankfurt: Suhrkamp 1966, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1966, S. 302–305, S. 304.

36. Ebd., S. 305.

2.1. TECHNISCHE RÄUME DER ÖFFENTLICHKEIT

»Master Switch« in seinem gleichnamigen Buch auf und beantwortet sie mit seiner Forderung nach »net neutrality«.37 Es sind für ihn die Besitzer, bzw. Kontrolleure des materiellen Trägers der Information.

Wer kontrolliert das materielle Substrat der Öffentlichkeit, wem gehört der öffent-liche Raum, sofern es ihn überhaupt (noch) gibt?

2.1.2 Informationelle Zugänglichkeit

In der politischen Theorie wie auch in der Praxis gibt es bestimmte Hürden, die einen Missbrauch von Macht verhindern sollen; diese sind nicht zu verwechseln mit den Barrieren, die der politischen Partizipation entgegenstehen. Hürden sind stets bewusst platziert und wünschenswert, Barrieren können hingegen auch kontingenterweise ent-standen sein. (Wobei Barrieren auch dazu dienen, bestimmte Herrschaftsverhältnisse zu sichern, bestimmten Ethnien oder Religionen die faktische Teilnahme zu verwei-gern etc. In diesem Fall sind sie bewusst platziert, jedoch nicht vernünftigerweise wünschenswert.) Beide können gleichermaßen faktisch abgeschafft werden, doch nur im Falle der Barrieren ist dies auch gewollt.

Hürden der Politik sind beispielsweise die bereits im Namen als solche erkennbare Fünf-Prozent-Hürde, die erforderliche Zweidrittelmehrheit der Parlamente bei beson-ders schwerwiegenden Eingriffen in die Grundrechte der Bürger, die Unantastbarkeit des Wesensgehaltes des Grundgesetzes et cetera. Hürden sind normativ festgelegt, manchmal aufgrund weiser Überlegung, zumeist jedoch aus schlechter Erfahrung in der Vergangenheit.Barrieren der Politik sind unter anderem die Illiteralität, kontin-gente bürokratische Sachzwänge wie Wohnsitz oder andere faktische Einschränkungen der verbrieften (Grund-)Rechte.

Technische Systeme sind nicht gerade unschuldig an so mancher Barriere, bauen sie doch vereinzelt sogar die Barrieren erst auf, und dennoch können diese mit Hilfe geeigneter Technik eingerissen oder zumindest überwindbar gemacht werden.

Denken wir beispielsweise an die Barriere der fehlenden oder unzureichenden Bildung – die maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass wir noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter leben –, so kann eine technische Erfindung, nämlich die der Schrift in all ihren analogen und digitalen Ausprägungen, zur Aufklärung (wenn nicht sogar zum Erreichen der Milleniumsziele) entscheidend beitragen.38

Bei der Betrachtung politischer Barrieren, die mit Hilfe von Technik überwunden werden sollen, müssen auch die technischen Barrieren und Hürden berücksichtigt werden. Technische Hürden werden insbesondere bei kritischen Systemen eingebaut, sie sollen unsachgemäßen Gebrauch verhindern, der zu Gefahr auf Leib und Leben einer Person führen kann. So ist die Bedienung von Siebträger-Kaffeemaschinen speziell geschulten Baristas vorbehalten, der Führerschein erlaubt das Autofahren auch hierzulande nur ausgebildeten Personen etc. Unter dem Schlagwort der

»Bar-37. Tim W u: The master switch: the rise and fall of information empires, New York: Alfred A.

Knopf, 2010.

38. Stefan K l u m p p: Die Gelbe Kurbel. Der Einsatz von Computern zur Förderung von Bildung in Entwicklungsländern, Diplomarbeit zum Erwerb des akademischen Grades Diplom-Informatiker am Institut für Informatik der Humboldt-Universität zu Berlin bei Prof. Wolfgang Coy, 2009.

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KAPITEL 2. DER ÖFFENTLICHE RAUM

rierefreiheit« wurde die Forderung laut, technische Barrieren, die kontingenterweise entstanden sind, abzuschaffen.

Wir müssen also zunächst analysieren, ob es sich bei dem zu betrachtenden Hinder-nis um eine Hürde oder um eine Barriere handelt. Um mit einer der schwereren Fragen zu beginnen: Ist die repräsentative Demokratie eine Hürde (gegen den »Pöbel«) oder eine Barriere, errichtet von einer politischen Elite zur Stabilisierung der Unmündigkeit des Großteils der Bevölkerung? Gibt es dafür einen Prüfstein, einen »litmus test«?

Der Prüfstein der Demokratie ist Publizität, also die Gewährleistung der bzw. die Berufung auf Öffentlichkeit. Ähnlich wie bei der Barrierefreiheit (»Web Content Accessibility Guidelines«) könnte ein Kriterienkatalog gefunden werden, der quali-tativ überprüfbar macht, wie es ein Staat mit der Demokratie hält. Die einzelnen Komponenten lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Toleranz und Förderung.

Inwieweit toleriert der Staat die Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit? In welchem Maße fördert der Staat eine solche Öffentlichkeit? Welche Prinzipien der Öffentlichkeit liegen dem staatlichen Handeln und seinen Institutionen zugrunde?

Kurz: Gibt es das Recht auf Gewährleistung der informationstechnischen Grundbedin-gungen der Öffentlichkeit? Die Tabelle 2.1.2 zeigt mögliche Kriterien, mit denen das

»Demokratie-Maß« bestimmt werden könnte (in Klammern die jeweilige Bedrohung, die zur Abwertung führt):

– Öffentlichkeit der Wahl (Wahlcomputer)

– Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen (Geheimgerichte) – freie Meinungsäußerung (Zensur)

– Grundversorgung (Privatisierung)

– Freiheit der Andersdenkenden (Devianzüberwachung)

– allgemeiner Zugang zu öffentlich relevanten Informationen (Copyright) – Öffentlichkeit des Parlaments (Hinterzimmer-Verhandlungen)

– Unabhängigkeit von politischen Entscheidungen (Ökonomische Zwänge) – et cetera (Alternativlosigkeit)

Tabelle 2.1: Kriterienkatalog für ein Demokratie-Maß

Die Geschichte der Staatsgründungen ist immer auch eine Geschichte der politi-schen Experimente und der dazugehörigen (Mess- und Test-)Instrumente. Für sicher gehaltene kosmologische Theorien über das Leben, das Universum und den ganzen Rest können über Nacht mit Hilfe eines Fernrohrs widerlegt werden – eine Revolution deutet sich an.

Politische Theorien hingegen werden nicht oder nur unzureichend getestet. Von Platons Philosophenrepublik bis zur Bundesrepublik Deutschland scheint es nur eine Methodik zu geben: Kluge Köpfe machen sich kluge Gedanken zur klügsten Verfassung des möglichst besten Staates. Die so entstehende Verfassung beispielsweise einer demokratischen Republik ist jedoch völlig undemokratisch entstanden. Es wird argumentiert, das ein vernunftbegabter Staatsbürger dem Gründungsdokument zustimmen können muss und es sinnvollerweise auch tut.