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4.1 Autonomie und handelndes Subjekt

4.1.1 Privatheit

Die Gedanken sind frei Kein Mensch kann sie wissen, wer kann sie erraten? kein Jäger erschießen

Sie fliehen vorbei mit Pulver und Blei:

wie nächtliche Schatten. Die Gedanken sind frei!

Im allgemein bekannten Volkslied »Die Gedanken sind frei« ist der erste Satz nicht allein aus Gründen des Versmaßes als rhetorische Frage formuliert. Die Überzeugung, dass niemand anderes die eigenen Gedanken erraten kann, gehört zu den Wesenszügen des Menschen. Die eigene Geisteswelt ist vor dem Zugriff eines anderen sicher.

Die Privatheit der eigenen Gedanken, Wünsche und Begierden ist eine notwendige Bedingung für jedes gesellschaftliche Zusammenleben. Was hat man im Geiste nicht alles durchgespielt!

Es ist keine moralische Forderung, sondern eine Feststellung derconditio humana, wenn es im Lied weiter heißt: »Mein Wunsch und Begehren // Kann niemand ver-wehren«. Die Möglichkeit des Menschen, selbst über das eigene Leben zu bestimmen, sich selbst eigene Gesetze geben zu können, scheint auch angesichts der Bedrohungen durch Kerker, Fußketten, Blendung nicht gefährdet (»Und sperrt man mich ein // im finsteren Kerker, // das alles sind rein // vergebliche Werke«). Doch reicht die Gedan-kenfreiheit aus, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Beate Rössler sieht durch die gegenwärtige Informations- und Kommunikationstechnik das Autonomieprinzip gefährdet und fordert die Gesellschaft zum Schutz des Privaten auf:

Begreift man als das telos von Freiheit, ein autonomes Leben führen zu können, dann kann man, in der Ausbuchstabierung der Bedingungen eines solchen autonomen Lebens, sehen, dass für den Schutz von Autonomie Freiheitsrechte selbst nicht ausreichend sind, sondern dass Autonomie angewiesen ist auf die Substantialisierung dieser Freiheitsrechte in Rechten und Ansprüchen auf den Schutz des Privaten. Denn die Autonomie einer Person kann verletzt, beschädigt werden auf Weisen, die die Freiheitsrechte

174. Rawls schreibt: »Die Formulierung im obigen Text [über den Schleier des Nichtwissens] scheint mir auch indirekt in Kants Lehre vom kategorischen Imperativ enthalten zu sein, sowohl was die Definition dieser Verfahrensbedingung als auch ihre Verwendung durch Kant betrifft.« JohnR aw l s: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979, S. 160.

4.1. AUTONOMIE UND HANDELNDES SUBJEKT

selbst gar nicht unmittelbar berühren: und um ebendieser Möglichkeiten willen sind Personen, in ihrer Autonomie, angewiesen auf den Schutz des Privaten.175

Die Substantialisierung macht den Unterschied zwischen Gewährung von Freiheit und Gewährleistung von Freiheit aus. Damit der liberale demokratische Staat die Freiheit gewährleisten kann, muss er zunächst die Privatheit schützen, so Rösslers Argument. Welche Räume, Angelegenheiten oder Sachen privat sind, entscheidet jeder Mensch für sich. Wenn jedoch etwas als privat angesehen wird, können wir dieses mit Hilfe der Kategorien der Privatheit einordnen. Rössler unterscheidet zwischen dezisionaler Privatheit, lokaler Privatheit, körperlicher Privatheit und informationeller Privatheit. Sie beschreibt dezisionale Privatheit als Sicherung der Interpretationsho-heit über das eigene Leben und sieht besonders diesen Bereich als schutzbedürftig an.

Diese Interpretationshoheit kann maßgeblich durch die Gesellschaft beeinflusst werden, ohne dass dies für einen Anderen ersichtlich ist. Gesellschaftsbilder, Normen und Gruppenzwang können die dezisionale Privatheit ebenso beeinträchtigen wie körperliche Leiden, persönliches Schamempfinden oder Weltanschauungen.

Die dezisionale Privatheit ist eine nach innen gewandte; Beeinträchtigungen der dezisionalen Privatheit sind von außen nicht feststellbar, im Gegensatz zu Verletzungen der lokalen oder informationellen Privatheit durch Eindringlinge und Datenhändler.

Eine Beeinträchtigung der lokalen Privatheit findet statt, wenn gewünschte Ab-stände zu anderen Mitmenschen nicht eingehalten werden. Ob und welcher Raum einem Mitglied der Gesellschaft als privat zugestanden wird, hängt von der jeweiligen Kultur ab. Diese Privatheit ist jedoch eine objektivierbare; Beeinträchtigungen, ob gewollte oder auch unbewusste, können von außen festgestellt werden. Es kann durch-aus sein, dass es Personen gibt, die für sich keine privaten Räumlichkeiten fordern und demzufolge auch keine Verletzung darin sehen, wenn zugestandene Räume von anderen okkupiert werden. Allerdings kann von außen festgestellt werden, dass es sich bei diesem Beispiel um ein Fall handelt, der in die Kategorie der lokalen Privatheit einsortiert werden kann. Die körperliche Privatheit ist ein Sonderfall der lokalen Privatheit.

Die informationelle Privatheit schließlich beschreibt die Kontrolle über die eigenen Daten, die Informationen, die über die eigene Person zu erlangen sind. In modernen Gesellschaften sind dies meist die digitalen Daten, die bei der Verarbeitung infor-mationstechnischer Systeme anfallen; die informationelle Privatheit betrifft jedoch darüber hinaus alle erhobenen (oder erhebbaren) persönlichen Daten.

Mit dieser Unterscheidung haben wir das Rüstzeug, verschiedene Beeinträchtigungen der Privatheit genauer zu beschreiben. Die Trennung der einzelnen Privatheitska-tegorien hilft nicht nur bei der analytischen Einordnung, sondern dient in letzter Konsequenz auch dem Schutz der Privatheit.

175. Beate Rö s s l e r: Der Wert des Privaten, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, S. 26.

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KAPITEL 4. INDIVIDUUM UND NEUE MASSEN

Ich möchte an dieser Stelle das technische Bild eines »Schiebereglers« verwenden, das es uns erlauben soll, den Grad der Privatheit einer Sache, bzw. den Grad der Beeinträchtigung einer Privatheit festzustellen.176

In welcher Kategorie der »Regler« angesetzt wird, lässt sich aufgrund einer Ana-lyse der Situation festlegen. Welchen Wert er auf der »Privatheitsskala« einnimmt, entscheidet jedoch jeder für sich allein. Wenn diese Entscheidung beeinflusst ist, beispielsweise durch Ideologien, gesellschaftliche Normen oder Gruppendruck, müssen wir von einer Beeinträchtigung der dezisionalen Privatheit sprechen. Das Dilemma ist, dass der so Beeinträchtigte sich in den meisten Fällen seiner Beeinflussung durch äußere oder innere Faktoren gar nicht bewusst ist. Die Verletzung der dezisionalen Privatheit hat somit weitreichende Konsequenzen in der Beurteilung potentieller Verletzungen der lokalen bzw. informationellen Privatheit.

Dezisionale Privatheit wird beeinflusst durch:

Weltanschauungen, Vorschriften, Verbote, Gebote

Gruppenzwang, Etiquette Drohung, Folter, Drogen, Krankheit

beeinflusst die

»Schieberegler«

Lokale Privatheit Informationelle

Wohnung Privatheit

Abgesteckter Raum Persönliche Daten

Körper Aufnahmen des Körpers

Biometrie

Abbildung 4.1: Dezisionale Privatheit beeinflusst die Stellung der »Schieberegler«.

Im Bild 4.1 soll die besondere Rolle der dezisionalen Privatheit berücksichtigt werden, sie steht kategorisch über der lokalen bzw. informationellen Privatheit. Sie ist nach innen gewandt und besitzt zwar auch »Schieberegler«, die wir jedoch nicht in jedem Fall bewusst bedienen können (wir können zwar machen, aber nicht wollen, was wir wollen). Verletzungen der lokalen und informationellen Privatheit können von außen festgestellt werden.

Wenn innerste Gedankenvorgänge, Überzeugungen und Glaube von außen einsichtig werden, erzeugt das eine bis zur Verzweiflung reichende Verletzung der dezisionalen Privatheit. Eindrucksvoll wird das in George Orwells berühmter Dystopie »Nineteen Eighty-Four« beschrieben: die Gedankenpolizei soll genau in dieses Innerste des Menschen eindringen, alles natürlich zum Wohle der Gesellschaft und damit vorgeblich auch zu seinem eigenen Wohle.177

176. Mein Dank für dieses Bild gilt den Teilnehmern des Seminars »Privatheit« von 2010/2011, Anja, Anna-Lisa, Anne, Florian, Maximilian und Rainer.

177. George O rw e l l: Nineteen Eighty Four, Middlesex: Penguin Books, 1980.

4.1. AUTONOMIE UND HANDELNDES SUBJEKT

Orwells Welt spielt zwar im fiktiven Jahr 1984, spielt aber wohl eher auf die realen Verhältnisse von 1948 an, das Jahr, in dem das Manuskript fertiggestellt wurde.

Im realen Jahr 1984 existierten zwar nach wie vor totalitäre staatliche Regimes, jedoch war eine neue, unsichtbare Macht am Werk, die die ganze Welt erfasste. Der Neoliberalismus ist spätestens mit Thatchers Vereinigtem Königreich und mit dem ökonomischen Erfolg des faschistischen Chile salonfähig geworden. »Das Wunder von Chile« schrieb der Ökonom Milton Friedman in der Newsweek des Jahres 1982 und lobte den Sieg der freien Marktwirtschaft.178 Es ist verständlich, dass Friedman die Berater des chilenischen Diktators so lobte, schließlich waren »die Chicago-Boys«

seine Schüler gewesen. Verschwiegen wird bei einer solchen einseitigen Darstellung die prekäre Entwicklung im sozialen Bereich, übrigens auch im Vergleich mit dem nicht-sozialistischen Chile vor Allende: Gesundheitssystem und Rentensystem wurden privatisiert, Arbeiterrechte massiv eingeschränkt, das gesellschaftliche Leben hatte sich Staat oder Markt unterzuordnen. Nicht der Staat, sondern die Privatmenschen hatten sich um ihre weniger glücklichen Mitbürger zu kümmern: »There is no such thing as society«.179

Es sollte den Leser daher nicht allzu sehr verwundern, wenn wir direkt von Orwells zum neoliberalen Regime schwenken; beide sind totalitär, ein Schutz des Kernbe-reichs privater Lebensführung ist nicht vorgesehen. Suchanfragen im Internet werden protokolliert, um dem Nutzer relevantere Informationen zu liefern und um die Akku-ratheit der Profilbildung zu testen. Die Suchhistorie ist ein sehr persönliches Datum, das innere Vorgänge spiegelt. Ängste und Sorgen, aber auch persönliche Interessen und Vorlieben bestimmen die Wörter, die in die Eingabemaske einer Suchmaschine eingetragen werden. Vom Erzeugen eines Persönlichkeits-Profils bis hin zur Vor-wegnahme eigener Entscheidungen (»did you mean. . . «) – alles, was eine erneute Suche erfolgreicher gestalten soll, ist eine Beeinträchtigung, wenn nicht zwingend der dezisionalen, so doch mindestens der informationellen Privatheit. Diese Unmündigkeit und der damit einhergehende Kontrollverlust können durchaus gewollt sein (etwa aus Bequemlichkeit), eine Beeinflussung sind sie dennoch.

In demokratisch verfassten Gesellschaften, anders als in totalitären oder faschisti-schen, geschieht dieser Kontrollverlust freiwillig, wir müssen dementsprechend argu-mentieren, um die Notwendigkeit einer informationellen Privatheit zu betonen. Wie gehen wir damit um, dass Leute in densocial media ihre Daten freiwillig preisgeben?

In den Fällen, in denen nicht nur die Daten der Nutzer betroffen sind, sondern auch die ihrer Freunde und Bekannten, können wir aus deren Sicht argumentieren: »Auch wenn du (angeblich) nichts zu verbergen hast – ich als dein Kommunikationspartner schon!« Edward Snowden versucht es auf Twitter mit einer Analogie: Wer keine

178. Milton F r i e d m a n: Free Markets and the Generals, in: Newsweek vom 25 Januar 1982, S. 59.

Für Kontext siehe Alejandro R e u s s: Milton Friedman’s »Chilean Miracle«, in: Dollars & Sense, Januar/Februar 2007, online unterhttp://www.dollarsandsense.org/archives/2007/0107reuss.

html.

179. »There is no such thing as society. There is living tapestry of men and women and people and the beauty of that tapestry and the quality of our lives will depend upon how much each of us is prepared to take responsibility for ourselves and each of us prepared to turn round and help by our own efforts those who are unfortunate«. Margaret T h at c h e r: Interview for Woman’s Own (»no such thing as society«), 23. September 1987, online unterhttp://www.margaretthatcher.org/

speeches/displaydocument.asp?docid=106689.

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KAPITEL 4. INDIVIDUUM UND NEUE MASSEN

informationelle Privatheit fordert, weil er nichts zu verbergen habe, würde aus dem selben Grund auch das Recht auf Meinungsfreiheit ablehnen, weil er nichts zu sagen hätte.180

Lebensinszenierer und Künstler, deren »Schieberegler« bei der informationellen Privatheit auf Null stehen, müssen gesondert betrachtet werden, ebenso wie Personen und Organisationen, die eine bedingungslose Offenbarung menschlicher Handlungen weltweit und kulturübergreifend fordern (so genanntePost-Privacy-Bewegungen).