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6.3 Wissenstechniken

6.3.4 Öffentliche Experimente

Das öffentliche Experiment als Schau ist eine relativ neue Entwicklung. Aristoteles hat, wie Galilei sehr viel später auch, wohl eher Gedankenexperimente als tatsächliche em-pirische Versuche durchgeführt (wenn man mal von seinen Hühnerei-Beobachtungen absieht). Ein berühmtes öffentliche Experiment fand im Jahre 1654 am kurfürstlichen Hofe in Regensburg statt. Den heute als »Magdeburger Halbkugeln« bekannten Schalen wurden mit Hilfe einer Pumpe die Luft im Inneren entzogen, um danach von mehreren Pferden öffentlich und publikumswirksam bestätigt zu bekommen, dass es so etwas wie Vakuum gibt.363

Ganz ähnlich wie die Gerichtsurteile ihre Legitimation, ziehen öffentliche Expe-rimente einen Teil ihres Wahrheitsanspruches aus dem Für-wahr-Anerkennen des versammelten Publikums. Seht!

Die Unmittelbarkeit des Sehens bei gleichzeitiger Unfähigkeit, Wahrnehmung von Wahrheit zu trennen brachte Hermann von Helmholtz auf eine schöne Formel: »Das Auge lügt nicht«. Man kann diesen Satz leicht überprüfen, indem man sich optische Täuschungen vor Augen führt, Eschers Treppen beispielsweise, und anschließend versucht, sein Auge der Lüge zu überführen. Es will partout nicht gelingen. Selbst wenn wir wissen, dass im Falle des Kanizsa-Dreiecks etwa kein weißes Dreieck eingezeichnet ist, sehen wir es dennoch.

Öffentliche Experimente fordern Widerspruch geradezu heraus, sie spielen mit der Möglichkeit des Einspruchs, der von höchster Instanz (im Rahmen eines Gottesbe-weises), aber auch von anwesenden Kindern (bei nicht existenten Kaiserkleidern) kommen kann.

Für den wissenschaftlichen Laien sind bestimmte zugrunde liegende Mechanismen jedoch nicht einsehbar, entweder willentlich, weil das Experiment auf einer Täu-schung beruht, oder weil die Mechanismen aus Standesdünkel heraus so kompliziert beschrieben wurden, dass sie niemand versteht.

Gedankenexperimente sind ein mächtiges Werkzeug des Vernunft gebrauchenden Menschen. Zur Durchführung sind mindestens zwei Menschen nötig, die sich in einem Dialog befinden. Dies können auch Autor und Leser sein, es geht um das Nachvollziehen eines geäußerten Gedankengangs.

Sie sind gerade keine Experimente und unterscheiden sich von ihnen dahingehend, dass sie nicht von einem Computer simulierbar sind.364 Man sollte allerdings mit Papert hinzufügen, dass der Computer sehr wohl dabei helfen kann,

Gedankenexpe-363. Gaspar S c h o t t: Mechanica hydraulico-pneumatica, Francofurten: Joannis Godefridi, 1657, u r l:http://archimedes.mpiwg- berlin.mpg.de/cgi- bin/toc/toc.cgi?dir=schot_mecha_50 9_la_1657;step=thumb, S. 445.

364. Siehe dazu Henning G e n z: Gedankenexperimente, New York: Wiley-VCH, 1999, insb. das einleitende Kapitel sowie die Literaturempfehlungen auf S. 49-50.

6.3. WISSENSTECHNIKEN

rimente zu entwickeln und »durchzuführen«.365 Ein Computer mag beispielsweise nicht in der Lage sein, die Quantenmechanik zu simulieren – er kann sie jedoch gut visualisieren und somit auch einem größeren Publikum zugänglich machen.

Im Geiste kann man zu Erkenntnissen von der Welt gelangen, die experimentell so nicht bzw. noch nicht feststellbar wären. So wurde bis in die Neuzeit hinein das heliozentrische Weltbild mit dem Argument angegriffen, dass man die in der Theorie postulierte Sternparallaxe nicht feststellen kann. Damit der Ausspruch »Und sie bewegt sich doch« überzeugend wirkt, muss er um den Hinweis »für die Öffentlichkeit feststellbar« ergänzt werden.

Schon Galilei schrieb in seinem »Dialog über die beiden hauptsächlichsten Welt-systeme« über die Überzeugungskraft der Gedankenexperimente:

Wie viele Behauptungen im Aristoteles habe ich bemerkt – ich meine stets nur in seiner Naturphilosophie –, die nicht nur falsch sind, sondern dermaßen falsch, daß ihr diametrales Gegenteil richtig ist, wie in diesem Falle! Um aber auf unseren Gegenstand zurückzukommen, [die Stelle zu bestimmen, wo ein vom Mast eines Schiffes fallen gelassener Stein aufschlägt, ] so glaube ich, Signore Simplicio ist nunmehr überzeugt, daß aus der Beobachtung des Steines, der immer an derselben Stelle niederfällt, sich nichts betreffs der Bewegung oder der Ruhe des Schiffes schließen läßt. Und wenn das Bisherige [d. i. das Gedankenexperiment] ihn noch nicht befriedigen sollte, so bleibt ihm noch das Mittel des Experimentes, welches ihn wohl völlig vergewissern wird.366

Heute dienen öffentliche Experimente reinen Werbezwecken. Wissenschaftler er-warten lediglich, dass die Ergebnisse (hochschul-)öffentlich zugänglich sind; Kollegen der gleichen oder gar einer anderen Disziplin stellen sich äußerst selten mit an den Labortisch der Naturwissenschaftler und zählen die Erbsen mit.367

365. Pa p e rt: Mindstorms (wie Anm. 355), S. 145.

366. Galileo G a l i l e i: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme. Das Ptolemäische und das Kopernikanische, hrsg. v. Emil S t r a u ß, Leipzig: B. G. Teubner, 1891, S. 161.

367. Die Erbsen sind eine Anspielung auf P f l ü g e r: Du sollst nicht falsch Zeugnis geben (wie Anm. 360), S. 47: »So hat Galilei vermutlich einige seiner Versuche nie wirklich durchgeführt, und Mendel hat wohl seinen Erbsen-Daten etwas nachgeholfen.«

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KAPITEL 6. DER ÖFFENTLICHE VERNUNFTGEBRAUCH

Abbildung 6.1: »After more than three and a half centuries, at a distance of 239,000 miles give or take a few, from his home in Florence, Italy, Galileo Galilei’s discovery that ›gravity pulls all bodies equally regardless of their weight‹ was clearly and vividly demonstrated before a television audience that spanned the planet Earth. He would have loved it.«

Alan B e a n, The Hammer and the Feather, 1986, online unterhttp:

//alanbeangallery.com/hammerfeather-story.html.

7 Mysterium Öffentlichkeit

Abbildung 7.1: Paul Otlet: Monde. Editiones Mundaneum, Brüssel 1935, S. 393.

Im Jahre 1910 öffnete das Mundaneum seine Pforten. Es sollte ein Museum des Weltwissens sein, das neue Zentrum einer großen Weltstadt, so wünschten es sich die Visionäre Paul Otlet und Henri La Fontaine. Um das Wissen der Welt ent-sprechend aufbereiten und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen zu können, entwickelten Otlet und La Fontaine die Universal Decimal Classification, eine Weiterentwicklung von Leibniz’ Dezimalklassifikation mit besonderem Fokus auf Maschinenlesbarkeit der Dokumentationen von Bibliotheksbeständen.

Paul Otlet sah sieben zentrale Kategorien der Wissensordnung vor: choses, espace, temps, le moi, les créations, l’expression, l’inconnu, also Dinge, Raum, Zeitalter, das Ich, Schöpfungen, Ausdruck und das Unbekannte.368In dem hier im siebten Abschnitt

»Mysterium« genannten Bereich verberge sich das eigentlich Spannende einer jeden Epistemologie, lässt auch das Autorenteam um Apostolos Doxiadis den Logiker Wittgenstein in der Gesellschaft des Wiener Kreises sagen. So sage Wittgensteins siebter(!) Hauptsatz im Tractatus, »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«, eigentlich aus: Nur über die Dinge, über die keine Klarheit herrsche,

368. Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass die vorliegende Dissertationsschrift ebenfalls so aufgebaut ist, ohne dass Otlet direkt genannt wurde; dies sei hiermit nachgeholt.