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3. Die Erfahrung des Schönen

3.3. Ontologische Fragestellung nach dem Schön-Sein des Schönen

3.3.5. Schönheit als Präsenz-/Seinserfahrung

3.3.5.2. Der Gabe-Charakter des Schönen

3.3.5.2.2. Zeithaben

Dem veränderten (Eigen-)Sein und (Eigen-)Sinn der Dinge, Personen, Handlungen und Ereignisse, sofern sie in ihrer Schönheit gewahrt und nicht bloß alltäglich bzw. wissen-schaftlich wahrgenommen werden, entspricht gleichursprünglich eine veränderte Zeit-lichkeit. Die vielfältigen Bezüge und Verweisungen, aus denen diese Dinge, Personen, Handlungen und Ereignisse für gewöhnlich ihren Sinn beziehen, sind ja immer auch von einer bestimmten zeitlichen Natur.

Die Gegenwart des Menschen steht, wie bereits erörtert, in einem konstitutiven Bezug zu seiner Vergangenheit und Zukunft.228

226 In diesem Sinn ist auch die bereits erwähnte „ästhetische Distanz“ zu verstehen (vgl. Kap. 3.2.2.2.).

Das Jetzt des alltäglichen Besorgens ist das zu Tuende bzw. zu Unterlassende - es ist primär darauf bezogen, was in der Vergangenheit bereits getan und nicht getan wurde, was sich bereits bewährt und nicht bewährt hat, und vor allem: welche noch ausstehenden Aufgaben und Ziele sich daraus für die Zu-kunft ergeben (was es noch alles zu erledigen gilt). Die Zeit kommt hier also in erster Linie daraufhin in Betracht, wie lange dieses oder jenes dauert, wie viel wir davon für dieses oder jenes brauchen bzw. (nicht) zur Verfügung haben. Um Zeit dementspre-chend strukturieren, einteilen und verplanen zu können, wird sie objektiviert, d.h. als

227 Pöltner, Philosophische Ästhetik, 248f, meine Kursivsetzung, L.H.

228 Ich beziehe mich hier wie auch im Folgenden immer wieder auf die Ergebnisse aus Kap. 3.3.3.3.2., insbesondere auf die dort vorgestellte Zeit- bzw. Gegenwartsanalyse von Gerd Haeffner. Vgl. auch Kap.

1.1.5.

eindimensionale Abfolge von einzelnen homogenen Zeit-Punkten („Jetzten“) ohne inne-ren Zusammenhang, im Sinne einer „Zeit-Rechnung“ vorgestellt.229

„Anders verhält es sich bei der Erfahrung des Schönen. Wer sich auf Schönes einläßt, erfährt Gegenwart nicht als Jetzt, sondern als sich entgegenbringende Präsenz.“230 Ge-genwart kommt hier ausdrücklich auch als GeGe-genwart (und nicht bloß als etwas Be-stimmtes in ihr Gegenwärtiges, zu Tuendes etc.) in den Blick, die gleichursprünglich („erwartete“ – nicht vergegenwärtigte) Zukunft hat und auf („bewahrter“ – nicht erin-nerter) Vergangenheit aufbaut. Damit verlieren (wie bereits in Bezug auf die Zeitlich-keit der gehobenen Stimmungen erörtert) Vergangenheit und Zukunft jene spezifische Aufdringlichkeit und Dominanz, wie sie sich aus dem zielgerichteten Handeln in Alltag und Wissenschaft ergeben, in deren Zuge sich die Gegenwart auflöst in ein verursachtes Mittel zu einem zukünftigen Zweck, ohne eigenen Bestand und permanent im Übergang eines noch-nicht in ein nicht-mehr begriffen. „Daß am Schönen dessen Gegenwart sich ausdrücklich bemerkbar macht, ist ja gleichbedeutend damit, daß die Verweisungen auf das Künftige und Gewesene zurücktreten, der Druck des Zukünftigen und die Last des Gewesenen weichen.“231

Anhand des in Kap. 3.3.3.3.2. angeführten Beispiels der ästhetischen Wahrnehmung einer Melodie wird ersichtlich, inwiefern dieses Zurückweichen von Vergangenheit und Zukunft gerade keine Ausblendung oder Verdrängung bedeutet, sondern vielmehr einen konstitutiven Bestandteil der dadurch eröffneten Gegenwart bildet. Lediglich dieses und jenes bestimmte Künftige und Gewesene verliert an Bedeutung, wodurch Zukunft und Vergangenheit nicht mehr daraufhin festgelegt werden, sondern in ihrem ganzen Poten-tial, befreit und unverstellt, im Lichte der in sich ruhenden Gegenwart des Schönen zur Geltung kommen. Als solche dienen sie einer jeweiligen „gelebten Gegenwart“, anstatt diese zu verdrängen bzw. durch sich selbst als „vorgestellte Gegenwart“ zu ersetzen.

229 Dabei wird leicht übersehen, dass eine derartige objektive Zeit-Rechnung bereits eine bestimmte Arti-kulation der existenziellen Zeitlichkeit des Daseins darstellt, diese also voraussetzt, und nicht etwa fun-diert.

230 Pöltner, Philosophische Ästhetik, 250.

231 Pöltner, Philosophische Ästhetik, 250.

Diese „Dialektik des Lebens in der Gegenwart“ zwischen „Vereinnahmung durch“ und

„Verlust von“ Vergangenheit und Zukunft bestätigt sich auch von der Erfahrung des Schönen her.

„Der Gesammelte ist keineswegs jemand, der für die beiden anderen gleichursprünglichen Zeitdimensionen der Zukunft und der Vergangenheit kein Sensorium hätte und blind für das Gewesene und Künftige wäre. Im Gegenteil. Weil er weder in gespannter Erwartung vom Bevorstehenden benommen, noch dem Gewesenen nachhängend von ihm gefangen ist, ist er gerade für die Gleichursprünglichkeit der Zeitdimensionen offen.“232

Analog zum „Eigensein“ und „Eigensinn“ eines Seienden will ich in diesem Zusam-menhang von seiner „Eigenzeit“ sprechen. „Eigenzeit“ gibt es wiederum nur dort, wo (sich) Zeit gelassen wird, wo kein vorgeschriebener Zeit-Plan, keine objektive Zeit ein-gehalten werden muss (wir sprechen im Alltag sehr treffend von „Frei-Zeit“). Wer (sich) Zeit lässt, muss allerdings Zeit haben, die er/sie freilich wiederum nicht von sich aus hervorbringen, sondern immer „nur“ als sie selbst zur Geltung bringen, als (vor-)gegebene an-nehmen kann. Und eben dieses Zeithaben als solches - unabhängig davon, wofür - kommt in der Erfahrung des Schönen in seiner Ursprünglichkeit und Kostbar-keit ausdrücklich zur Geltung (während es für gewöhnlich wiederum auf das Wofür des Zeithabens hin übergangen bzw. als selbstverständlich vorausgesetzt wird).

„Indem das Schöne sich in seinem Eigensein und Eigensinn darbietet und weder zu theoreti-scher, praktischer oder technischer Bewältigung auffordert, kommt die Zeit nicht im Hin-blick auf ihre Planbarkeit, Meßbarkeit und Verfügbarkeit in den Blick. Die Zeit wird nicht mehr vom Innerzeitigen her vorgestellt, nicht im Hinblick darauf, wofür wir Zeit haben, son-dern das Zeithaben selbst wird zum staunenerregenden Faktum: dies, daß wir Zeit haben, daß uns Zeit – Zeit zu sein – gegeben ist. Die Zeit gibt sich als Zeitgabe zu verstehen.“233

Zeit haben bzw. (sich) Zeit lassen bedeutet: da-sein in einem ausgezeichneten Sinn.

232 Pöltner, Philosophische Ästhetik, 249.

233 Pöltner, Philosophische Ästhetik, 250.