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1. Ästhetische Erfahrung

1.1. Ästhetische Wahrnehmung

Die erste und grundlegende Voraussetzung für eine spezifisch ästhetische Wahrneh-mung ist gewissermaßen anthropologisch grundgelegt.

„[…] allein dort, wo es eine propositionale, eine begrifflich artikulierte Wahrnehmung gibt, allein dort, wo sie wenigstens in Reichweite ist, tut sich eine markante Differenz zwischen ästhetischen und anderen Formen der Wahrnehmung auf. […] Menschen haben diese Fä-higkeiten. Dennoch sind sie nicht daran gebunden, sich einem Gegenstand gegenüber auf diese oder jene Auffassung von diesem Gegenstand festzulegen. Sie können sich in ihrer Wahrnehmung freihalten von einer theoretisch oder praktisch bestimmten Verfügung des-sen, wovon sie Wahrnehmung ist.“4

3 Seel, Martin: „Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung“, in: ders: Die Macht des Erscheinens, 58.

4 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 50f.

Der Mensch nimmt nicht nur bloße Sinnesdaten wahr, seine Wahrnehmung ist prinzipi-ell begrifflich instrumentiert und somit propositional. Er kann etwas als etwas (Dinge, Sachverhalte, etc.) bestimmen und klassifizieren, indem er es auf gewisse allgemeine Aspekte festlegt („so und so ist es“). Erst vor dem Hintergrund dieses Vermögens einer Verallgemeinerung und Begriffsbildung kann er auch auf Einzelnes in seiner Besonder-heit Bezug nehmen (jedes Einzelne ist Eines seiner Art), erst vor dem Hintergrund die-ser prinzipiellen Bestimmbarkeit kann er vom Bestimmen auch weitgehend absehen und etwas - wie im Falle der ästhetischen Wahrnehmung - primär in seinem Erscheinen sein und begegnen lassen.5

„Die Grundunterscheidung, der die Ästhetik des Erscheinens ihren Namen verdankt, mar-kiert eine Differenz zwischen sinnlichem Sosein und ästhetischem Erscheinen. Beides sind Arten, in denen die empirische Erscheinung eines Gegenstands zugänglich ist. Das ästheti-sche Erästheti-scheinen ist demnach ein Modus des sinnlichen Gegebenseins von etwas.“6

Mit dieser Grundunterscheidung werden keine einander ausschließenden Alternativen formuliert. Ästhetisch-vollzugsorientierte können mit theoretisch- bzw. praktisch-zweckgerichteten Formen der Wahrnehmung und des Verhaltens durchaus Hand in Hand gehen. Das Eine kann immer auch Elemente des Anderen beinhalten. Es handelt sich auch nicht um eine andere („subjektive“ bzw. „scheinbare“) Wirklichkeit, die uns die ästhetische Wahrnehmung eröffnet, sondern vielmehr um eine Dimension des Wirk-lichen bzw. sinnlich Gegebenen, die uns in anderen Formen der Wahrnehmung weitge-hend verschlossen bleibt.

5 Um hier gleich vorweg ein naheliegendes Missverständnis zu entkräften: „[…]: da, wo wir etwas so sein lassen, wie es uns hier und jetzt gerade erscheint. Das ist keineswegs eine Begegnung mit einem puren Sein, was immer das sein sollte – denn es sind ja sozialisierte und kulturierte Individuen, die in ihrer An-schauung bei einem Ding oder in einer Situation verweilen; wir bringen unser Können und Wissen, unse-re Unterscheidungen und Ansichten in alle Augenblicke dieser sinnlichen Wachheit mit.“ (Seel, Martin:

„Ein Schritt in die Ästhetik“, 24f.)

6 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 47. Der Terminus „Erscheinen“ bezieht sich nicht nur auf Sichtbares, sondern auf jedwede Sinnesmodalität, also auch auf das Tönen eines Tones, auf das Riechen eines Ge-ruchs, auf das Schmecken eines Geschmacks, auf das Sich-Anfühlen eines Körpers.

1.1.1. Ä

STHETISCHES

S

UBJEKT

Ebensowenig handelt es sich auf Seiten des wahrnehmenden Subjekts um ein eigenes Wahrnehmungsvermögen, gewissermaßen einen „sechsten Sinn“, der in der ästheti-schen Wahrnehmung zur Anwendung käme. Dieselben sinnlichen und kognitiven Ver-mögen des Menschen, die auch in allen anderen Wahrnehmungssituationen zum Tragen kommen, treten hier vielmehr in eine spezifisch ästhetische Konstellation - sie sind, wie Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft ausführt, „in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie [die Erkenntniskräfte, L.H.] auf eine besondere Erkenntnis-regel einschränkt.“7 Die ästhetische Wahrnehmung bedeutet für den Menschen also gleichsam eine Befreiung8 - und zwar nicht nur von äußerlichen Konventionen (sofern sich die ästhetische Wahrnehmung im autonomen Rahmen einer künstlerischen Institu-tion ereignet), sondern in erster Linie von den „innerpsychischen“ Einschränkungen der eigenen „Erkenntnisregeln“ (Begriffe) – eine Befreiung, die als solche laut Kant auch

„directe ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich führt“.9

Die Freiheit der ästhetischen Wahrnehmung ist freilich keine absolute. Die Begriffe, mithilfe derer wir in der alltäglichen Wahrnehmung etwas als dieses oder jenes bestim-men, werden nicht schlichtweg verworfen (sodass man plötzlich vor der Welt als einem

„unbeschriebenen Blatt“ stünde) - sie sind durchaus noch „im Spiel“, verlieren darin allerdings jene streng organisierende Funktion, die ihnen im Verfolgen der alltäglichen theoretischen und praktischen Zielsetzungen (schlussfolgern, erkennen, klassifizieren, bewerkstelligen…) zukommt.

7 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M.:

Suhrkamp 1974, Bd. X (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 57), 132, meine Kursivsetzung, L.H.

8 „Kant hat hierin ein wichtiges Moment der Freiheit, nahezu einen Beweis von Freiheit gesehen. […]

Der Vielfalt des Erscheinenden entspricht eine Vielfalt des Wahrnehmenkönnens, die wir in der Gegen-wart dieses Erscheinenden ausleben können, ohne zur Selbstbegrenzung theoretischen Erkennens und realisierenden Handelns fortschreiten zu müssen. Im ästhetischen Zustand, so Kant, erfahren wir unsere Bestimmbarkeit durch uns selbst, ohne diese zur Bestimmtheit einer beschränkenden Stellungnahme ausführen zu müssen.“ (Seel, Ästhetik des Erscheinens, 224.) Vgl. auch Kap. 2.1.1.

9 Kant, Kritik der Urteilskraft, 165.

„Diesen Wechsel der Einstellung erläutert Kant, wenn er sagt, daß der ästhetische Gegen-stand ‚ohne Begriff‘ gefällt. Nicht daß wir keine Begriffe für den GegenGegen-stand hätten, nicht daß wir den Gegenstand nicht auf diese oder jene Weise in seinem Sosein wahrnehmen könnten – aber auf das Begreifen kommt es hier nicht an. Wir sind aufmerksam für die phä-nomenale Präsenz des Objekts. Wir können einen Gegenstand unter einem bestimmten As-pekt erfassen oder ihn in seinem Erscheinen begegnen lassen.“10

Konkret heißt das, verdeutlicht an einigen beliebigen Beispielen:

„Wir können zum Himmel schauen, um zu sehen, ob es regnen wird, oder auf das Erschei-nen des Himmels achten. Wir könErschei-nen nach der Regenpfütze sehen, um uns keine nassen Füße zu holen oder um die Spiegelung der Gebäude in ihr zu betrachten. […] Wir können bei einem Vortrag auf das Vorgetragene achten oder aber auf Sprachklang, Gestik und Mi-mik des Vortragenden. […] Wir können den Besuch beim Frisör als teure Dienstleistung abbuchen oder als Schauspiel aus dem Alltagsleben konsumieren. Wir können die Haltbar-keit eines Stoffs prüfen oder die Textur des Stoffs ertasten. Wir können bei der Heimkehr in die Wohnung riechen, was es wohl zu essen gibt, oder den Geruch als ein Vorspiel des Es-sens genießen. Wir können die Mona Lisa als Bügelbrett oder als Fahndungsfoto verwenden oder als künstlerisches Bild betrachten. […]“11

Gelegenheiten zur ästhetischen Wahrnehmung finden sich, wie die obigen Beispiele zeigen, keineswegs nur im Bereich der Kunst, sondern praktisch überall.12 Wir können einen Dusch- oder Badegang als bloße Körperhygiene oder13

10 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 52, meine Kursivsetzung, L.H.

als Ganzkörpererfahrung vollziehen. Wir können ein Lagerfeuer einfach als Hitzequelle in Bezug auf unser

Grill-11 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 63f.

12 „Es ist alles da. Wir können auf alles und jedes, das irgendwie sinnlich gegenwärtig ist, ästhetisch rea-gieren – oder auch nicht. Es gibt Orte, an denen es schwerfällt, sich nicht ästhetisch zu verhalten (je nach Neigung eher im Wald oder im Garten, im Autosalon oder im Museum, in der Konzerthalle oder in der Sportarena), ebenso wie es Orte gibt, an denen das eher schwerfällt (beim Behördengang, in Parkhäusern, während einer Prüfung, beim Zahnarzt oder bei Aldi). […] Welches diese Orte sind, ist natürlich histo-risch, kulturell und auch individuell äußerst verschieden.“ (Seel, Ästhetik des Erscheinens, 64.)

13 Es handelt sich hier wie gesagt immer um ein einschließendes „oder“, das die Möglichkeit eines „so-wohl als auch“ offen lässt.

fleisch betrachten, oder uns in sein Farbenspiel, in sein Flackern und Knistern verlieren usw. usw.

In Anknüpfung an Kant postuliert Martin Seel also eine spezifische „Aufmerksamkeit für das Erscheinen von Erscheinendem“14 als grundlegendes Charakteristikum jeder ästhetischen Wahrnehmung (bei allen Unterschieden und Besonderheiten, die es darüber hinaus jeweils zu berücksichtigen gilt).15 Diese Aufmerksamkeit, dieser „Wechsel der Einstellung“ vom Sosein zum Erscheinen kann einerseits bewusst befördert werden, indem wir uns den sinnlichen Konstellationen eines Kunstwerkes oder Naturschauspiels als solchen aktiv zuwenden. Er kann sich aber auch unwillkürlich und gleichsam wie von selbst ereignen, wenn uns etwas „in seinen Bann zieht“ und gleichsam überwäl-tigt.16 Beide Momente in ihrem engen Wechselspiel machen die ästhetische Erfahrung als Ganzes aus. „Ästhetische Wahrnehmung ist ein Spiel, das wir spielen und das mit uns gespielt wird.“17

1.1.2. Ä

STHETISCHES

O

BJEKT

Dieses freie Spiel der Erkenntnisvermögen darf jedoch nicht dahingehend missverstan-den wermissverstan-den, als schwebe es im luftleeren Raum und konstruiere dabei willkürlich seine

14 Seel, „Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung“, 57.

15 Die Rede von ästhetischer Erfahrung bzw. Wahrnehmung ist freilich eine sehr allgemeine. Es ist klar, dass beispielsweise das Hören eines Musikstückes in vielerlei Hinsicht eine durchaus andersartige Erfah-rung darstellt als etwa das Lesen eines Romans, das Betrachten eines Bildes, das Riechen an einer Blume, das Schmecken einer Mahlzeit usw. Umso größer ist die philosophische Herausforderung, diese vielfälti-gen Erfahrunvielfälti-gen zueinander in Beziehung zu setzen und auf ein Gemeinsames hin zu interpretieren, das ihre jeweilige Besonderheit nicht etwa übergeht, sondern im Gegenteil herausstellt und bewahrt.

16 Etwas Überwältigendes darf jedoch, um ästhetisch relevant zu bleiben, die grundsätzlichen Grenzen der Freiheit und Freiwilligkeit des Subjekts nicht überschreiten. „Das Moment der Freiheit grenzt das ästhe-tisch gesteigerte Gegenwartsbewusstsein von einem angsthaften oder panikartigen Gebanntsein durch Gegenwärtiges ab, das den überwältigten Subjekten den Spielraum eines willkürlichen oder unwillkürli-chen, aber grundsätzlich freiwilligen Verweilens bei einem Ereignis nimmt, ohne das auch Horrorfilme und dergleichen nicht ästhetisch genossen werden können.“ (Seel, Martin: „Form als eine Organisation der Zeit“, in: ders.: Die Macht des Erscheinens, 51.)

17 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 65.

eigenen subjektiven Scheinwelten. Vielmehr korreliert es immer auch (jeweils mehr oder weniger) mit einem objektiven „Spiel der Gestalten“18, an dem es sich entzünden und in seinem Verlauf orientieren, in dessen Rahmen es erst eigentlich seine Freiheit entfalten kann. Die Bezeichnung dieses objektiven Korrelats als „ästhetisches Objekt“

darf nicht über seinen spezifischen ontologischen Status hinwegtäuschen.

„Dies sind keine Objekte, denen die Wahrnehmenden gegenüber stünden, dies ist ein kom-plexes Geschehen, das sie umfängt und umfaßt. Selbst wenn das ästhetische Objekt ein be-harrliches Ding ist, haben wir es in der ästhetischen Anschauung nie mit einer statischen Gegebenheit zu tun. Denn die Konstellation von Erscheinungen, die an diesen Dingen er-kennbar sind, tritt auch hier in den Zustand eines Spiels, eines Geschehens am Gegen-stand.“19

„Nicht was sie sind, auch nicht, was sie zu sein scheinen, vielmehr: wie sie uns erscheinen – darauf kommt es bei ihrer Wahrnehmung in erster Linie an.“20

Ästhetische Objekte sind wesentlich (wenn auch nicht immer ausschließlich) im kon-kreten Vollzug ihres Erscheinens, als ein „‚Spiel‘ von Qualitäten […], die an einem Gegenstand aus einer jeweiligen Warte und zu einem jeweiligen Zeitpunkt vernehmbar sind. […]; es kann wahrnehmend verfolgt, nicht aber erkennend festgehalten werden.“21 Dabei handelt es sich durchaus um objektive, d.h. intersubjektiv zugängliche und je-weils erkennbare Qualitäten – die jedoch in der ästhetischen Wahrnehmung nicht iso-liert und für sich genommen in Betracht kommen.

„Es geht hier nicht um ein Erfassen einzelner Gegenstandsqualitäten, sondern vielmehr um ihr hier und jetzt (bei dieser Beleuchtung, von diesem Standpunkt oder diesem Wechsel von Standpunkten aus) sich ergebendes Zusammenspiel. Für diese Betrachtung sind Kontraste, Interferenzen und Übergänge wichtig, die jeder Beschreibung spotten, da sie nur in der Gleichzeitigkeit und oft nur in der Augenblicklichkeit der betreffenden Momente gegeben sind.“22

18 Kant, Kritik der Urteilskraft, 141.

19 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 98.

20 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 223, meine Kursivsetzung, L.H.

21 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 82f.

22 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 54f.

1.1.3. P

OSITIVE

S

PRACHLOSIGKEIT

Das hier angesprochene Fehlen von adäquaten Begriffen und allgemeinen Bestimmun-gen - das eben nicht primär die entsprechenden zuständlichen Qualitäten als solche, sondern den Prozess ihres simultanen und momentanen „Zusammenspiels“ im Kontext einer jeweiligen Wahrnehmungssituation, das Erscheinen im zeitwörtlichen Sinn betrifft - dieser Verlust an Allgemeinheit bedeutet aus ästhetischer Sicht nicht etwa einen Man-gel, sondern umgekehrt einen Gewinn, einen gesteigerten Sinn für die phänomenale Individualität und Besonderheit, die sinnliche Fülle und Präsenz eines Gegenstandes oder Ereignisses in seinem Hier und Jetzt, wovon im Zuge seines allgemeinen Erken-nens bzw. praktischen Verfügens weitgehend abstrahiert werden muss.

„Objekte der Wahrnehmung sind durch singuläre Begriffe vielfach ansprechbar und durch allgemeine Begriffe vielfach charakterisierbar, aber sie sind durch keine denkbare Ansamm-lung solcher Charakterisierungen erschöpfend bestimmt. Sie sind nicht nur das, als was wir sie jeweils erfassen können. Sie sind auch das, wie sie uns jeweils erscheinen können. Ihre erfahrbare Wirklichkeit überschreitet das, was wir erkennend an ihnen festhalten können.“23

„Die Beachtung des Erscheinenden macht erfahrbar, daß die Wirklichkeit reicher ist als al-les, was an ihr mit propositionaler Bestimmtheit erkannt werden kann.“24

1.1.4. P

OSITIVE

P

ERSPEKTIVITÄT

Die für jede begriffliche Bestimmung konstitutive Reduktion der erfahrbaren Wirklich-keit auf gewisse allgemeine Aspekte wird im Zuge der ästhetischen Wahrnehmung nicht etwa aufgehoben in dem Sinn, dass nun plötzlich die „ganze“ Welt in ihrem „eigentli-chen“ Sein zum Vorschein käme. Derartige überhöhte Ansprüche, wie sie im Laufe der

23 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 88.

24 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 41. Dieser Umstand, dass sich der ästhetische Reichtum der Wirklich-keit nicht begrifflich einholen lässt, kommt auch im Alltag sprichwörtlich zum Ausdruck: „Ein Bild (und analog dazu ein Klang, ein Geruch, ein Geschmack, eine Berührung) sagt mehr als tausend Worte.“

Zeit immer wieder und in unterschiedlicher Form an sie herangetragen wurden, schaden der Ästhetik letztendlich mehr, als sie ihr nützen. Nicht nur versprechen sie zu viel und enden somit häufig in Enttäuschung und Resignation - sie verfehlen insbesondere die Eigenart des Ästhetischen, dem eben gerade nicht mit erkenntnistheoretischen Maßstä-ben beizukommen ist. Die Ästhetik durchbricht die Reduktion des Begrifflichen nicht durch eine überlegene Erkenntnis, sondern durch ein Absehen von (einer Fixierung auf) Erkenntnis. Denn nur im Hinblick auf (möglichst vollständige) Erkenntnis bzw. Verfü-gung als dem entscheidenden Telos unserer Wahrnehmungs- und Handlungsvollzüge erfahren wir unsere menschliche Begrenztheit als Einschränkung im negativen Sinn, und in dieser Hinsicht ist sie aus prinzipiellen Gründen wohl auch nicht zu hinterge-hen.25

Und auch im Absehen von (einer Fixierung auf) Erkenntnis bleiben ja, wie bereits erör-tert, unsere Begriffe mit „im Spiel“, auch hier wird weiterhin Vieles und weiterhin be-grenzt erkannt und festgehalten - jedoch gewissermaßen beiläufig und nicht mehr pri-mär um des Erkennens bzw. Handhabens willen. Die Begrenzung wird nicht aufgeho-ben, sondern gewinnt im Hinblick auf das Ästhetische eine neue, ermöglichende statt einschränkende Bedeutung.

„Die ästhetische Lust ist eine Lust des endlichen Daseins am endlichen Dasein. […] Sosehr das Bewußtsein des Faktums einer weitreichenden kognitiven und praktischen Unbe-stimmtheit und Unbestimmbarkeit der Welt in vielen Kontexten lähmend sein kann – eben-sosehr kann es befreiend sein.“26

25 Abgesehen von seiner Nicht-Einlösbarkeit erweist sich das hier zugrunde liegende szientistische Ideal (einer restlos durchsichtigen Wirklichkeit) als solches bereits als grundsätzlich fragwürdig. „Denn der Mensch kann im grellen Licht einer durchgängig szientistisch interpretierten Welt nicht leben; Szientist kann man nur stundenweise und mit dem Kopf sein. Das Dunkel, das die Helle des menschlichen Geistes begrenzt, umfängt sie zugleich tragend. Es darf nicht umgefälscht werden zu einer bloß äußeren, im Prin-zip zu überwindenden und überwindbaren Grenze der Selbstdurchsichtigkeit und der Macht, möglichst alles zu durchschauen. Es gehört zur inneren Begrenzung, die als positive Ermöglichung des Könnens zur Endlichkeit des menschlichen Geistes gehört.“ (Haeffner, Gerd: Philosophische Anthropologie. 4., durch-gesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer 2005 (= Grundkurs Philosophie 1), 230f.)

26 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 220.

Erst aus einer jeweiligen und begrenzten Perspektive auf eine unverfügbare und ständig sich verändernde Konstellation von Dingen und Ereignissen, erst dort, wo dieser Zu-stand nicht (mehr) als bedrohlich empfunden und möglichst kompensiert wird, kann etwas überhaupt in seinem Erscheinen, d.h. ästhetisch wahrgenommen werden, kann ein

„Spiel von Gestalten“ von sich aus entstehen und unsere Aufmerksamkeit auf seine In-dividualität, Phänomenalität und Zeitlichkeit lenken, kann sich eine Dimension der Wirklichkeit erschließen, die einem rein erkennenden bzw. verfügenden Zugriff aus prinzipiellen Gründen verborgen bleiben muss.

1.1.5. G

ESTEIGERTE

G

EGENWART

Ästhetisches Bewusstsein enthält somit tatsächlich - wie dies in der Tradition der Ästhe-tik ja auch immer wieder behauptet wurde - eine Offenbarung über die Wirklichkeit. Es vermag jedoch ebensowenig das theoretische bzw. praktische Wissen zu ersetzen oder überbieten, wie es umgekehrt auch nicht einfach als „subjektiv“ oder „phantastisch“

abgetan werden kann, weil es nicht die Form einer allgemeinen, begrifflich artikulierbaren Erkenntnis annimmt. Es gründet nicht in theoretischer Durchsichtigkeit oder praktischem Know-how, sondern in einer sinnlichen Ver-Gegenwärtigung, in einer besonderen Gegenwärtigkeit des Wahrgenommenen, die mit einer besonderen Gegen-wärtigkeit des Wahrnehmens korreliert.

„Es ist ein spürendes Sich-gegenwärtig-Sein, das das Verweilen bei der sinnlichen Beson-derheit von etwas begleitet. Die besondere Gegenwärtigkeit des Gegenstands der Wahr-nehmung ist so an eine besondere Gegenwärtigkeit des Vollzugs dieser Wahrnehmung ge-bunden. Wir können nicht auf die Gegenwart eines Gegenstands achten, ohne unserer eige-nen Gegenwart innezuwerden.“27

Der Mensch entwickelt in der ästhetischen Wahrnehmung einen gesteigerten Sinn, ein gesteigertes Bewusstsein für eine jeweilige Gegenwart (des Wahrgenommenen), die zugleich seine jeweilige Gegenwart (als Wahrnehmender) ist.

27 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 60. Vgl. dazu die „Vollzugsidentität“ von Wahrnehmendem und Wahr-genommenem, Kap. 3.3.5.

„Für Lebewesen, die in ihrem Denken und Imaginieren beliebig weit in Raum und Zeit aus-greifen (und sich dabei in Vergangenheit und Zukunft durchaus verlieren können), ist dies keine geringe Leistung. Denn die Fähigkeit zur ästhetischen Wahrnehmung erdet ihr für Abstraktionen, Antizipationen und Retrospektiven so empfängliches Bewusstsein durch Phasen eines anschauenden Rückgangs auf die Gegenwart […].“28

Über die grundlegende Bedeutung der existenziellen Zeitlichkeit und ihre verschiedenen Ausprägungen in den verschiedenen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodi wird noch ausführlicher die Rede sein.29 Zunächst gilt es jedoch, die konstitutive Offenheit der bisher entwickelten Grundbegriffe der ästhetischen Wahrnehmung bzw. des ästheti-schen Erscheinens für weitere ästhetisch relevante Phänomene wie Schein, Imagination, Interpretation und Reflexion aufzuzeigen.