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2. Das Spiel der Kunst

2.1. Kennzeichen des Spiels

2.1.8. medial

„Ästhetische Wahrnehmung“, so hatte es weiter oben geheißen, „ist ein Spiel, das wir spielen und das mit uns gespielt wird.“35

33 Gadamer, Die Aktualität des Schönen, 36.

In ähnlicher, etwas verschärfter Weise be-schreibt Gadamer diese Ambivalenz des Spiels.

34 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 98. Vgl. Kap. 1.1.2.

35 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 65. Vgl. Kap. 1.1.1.

„Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird. Auch wenn es sich um Spiele handelt, in denen man selbstgestellte Aufgaben zu erfüllen sucht, ist es das Risiko, ob es ,geht‘, ob es ‚gelingt‘ und ob es ‚wieder gelingt‘, was den Reiz des Spieles ausübt.

Wer so versucht, ist in Wahrheit der Versuchte. Das eigentliche Subjekt des Spieles […] ist nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst. Das Spiel ist es, was den Spieler in seinen Bann schlägt, was ihn ins Spiel verstrickt, im Spiele hält.“36

Spielen ist ein dialogisches Geschehen. Es entsteht aus einer wechselseitigen und inei-nander übergehenden Dynamik zwischen Anspruch und Antwort.37 Dabei ist der An-spruch immer von der Art, dass er mich persönlich meint, wie auch umgekehrt die Ant-wort meine eigene sein und wiederum auf ein konkretes Gegenüber bezogen werden muss. Als solches ist das Spiel weder bloß passiv-mechanisches Bewegt-Werden, noch willkürlich-souveränes Bewegen. Es kann in einer Sprache wie dem Deutschen, die lediglich zwei Diathesen (Aktiv und Passiv) unterscheidet, vielleicht nur unzureichend bzw. indirekt charakterisiert werden, wohingegen etwa das Altgriechische zusätzlich ein drittes, mediales genus verbi kennt, das keine klare Differenzierung zwischen passivem Objekt und aktivem Subjekt eines Vorganges trifft. Eine derartige Indifferenz in Bezug auf die Verursachung zugunsten einer Betonung des Geschehens als solchem rückt auch und insbesondere das Phänomen des Spiels in ein klareres Licht.

„Das Spiel stellt offenbar eine Ordnung dar, in der sich das Hin und Her der Spielbewegung wie von selbst ergibt. Zum Spiel gehört, daß die Bewegung nicht nur ohne Zweck und Ab-sicht, sondern auch ohne Anstrengung ist. Es geht wie von selbst. Die Leichtigkeit des Spiels, die natürlich kein wirkliches Fehlen von Anstrengung zu sein braucht, sondern phä-nomenologisch allein das Fehlen der Angestrengtheit meint, wird subjektiv als Entlastung erfahren. Das Ordnungsgefüge des Spieles läßt den Spieler gleichsam in sich aufgehen und

36 Gadamer, Wahrheit und Methode, 112.

37 „Das Hin und Her gehört offenbar so wesentlich zum Spiel, daß es in einem letzten Sinne überhaupt kein Für-sich-allein-Spielen gibt. Damit Spiel sei, muß zwar nicht ein anderer wirklich mitspielen, aber es muß immer ein anderes da sein, mit dem der Spielende spielt und das dem Zug des Spielers von sich aus mit einem Gegenzug antwortet. So wählt die spielende Katze das Wollknäuel, weil es mitspielt, und die Unsterblichkeit des Ballspieles beruht auf der freien Allbeweglichkeit des Balles, der gleichsam von sich aus das Überraschende tut.“ (Gadamer, Wahrheit und Methode, 111, meine Hervorhebung, L.H.)

nimmt ihm damit die Aufgabe der Initiative ab, die die eigentliche Anstrengung des Daseins ausmacht.“38

Spielerisches Handeln ist kein Leisten, kein Erarbeiten – es wird nicht durch die einzel-nen Spieler bewerkstelligt, wiewohl es freilich auch nicht ohne sie stattfinden kann.39 Sowohl das Leisten-Müssen als auch das Verfügen- und Kontrollieren-Können, das die Subjektivität des Menschen im Alltag kennzeichnet, wird hier suspendiert. Spielen ist derjenige Zustand, in dem diese Suspension der Subjektivität nicht als Verlust oder Be-drohung, sondern im Gegenteil als anregend und bereichernd erlebt und sogar bewusst inszeniert wird. An die Stelle der gewohnten Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Interpre-tationsmuster, die unseren Alltag bestimmen und deren Aufrechterhaltung oft mit einem enormen Kraftaufwand verbunden ist, können nun andere, neue Eindrücke und Erfah-rungen treten, und zwar „wie von selbst“.40

38 Gadamer, Wahrheit und Methode, 110, meine Hervorhebung, L.H. Johan Huizinga verknüpft Spiel und Ästhetik insbesondere über diesen Gedanken der Ordnung: „Es [das Spiel] schafft Ordnung, ja es ist Ord-nung. In die unvollkommene Welt und in das verworrene Leben bringt es eine zeitweilige, begrenzte Vollkommenheit. […] Diese innige Verknüpfung mit dem Begriff der Ordnung ist vielleicht der Grund, daß das Spiel […] zu solch großem Teil innerhalb des ästhetischen Gebiets zu liegen scheint. Das Spiel, so sagten wir, hat eine gewisse Neigung, schön zu sein. […] Die Wörter, mit denen wir die Elemente des Spiels benennen können, gehören zum größten Teil in den Bereich des Ästhetischen.“ (Huizinga, Homo ludens, 19.)

39 Der folgenschwere Fehlschluss vom nicht ohne auf ein durch den Menschen wird uns noch öfter be-gegnen. Vgl. etwa Kap. 3.3.3.3.1 bzw. 3.3.5.

40 Aus therapeutischer Sicht könnte man hier von einer „Regression im Dienste des Ich“ sprechen – ein Begriff, den Ernst Kris in seinen 1952 erschienenen „Psychoanalytic Explorations in Art“ (New York, International Universities Press) geprägt hat. Regression bedeutet „die Rückkehr zu oder den Rückgriff auf frühere Formen des Erlebens und Verhaltens, des Denkens und der Beziehungen […]. Es geht um die zeitweise Aufgabe höherer [relativ spät erworbener, L.H.] Ich-Funktionen, z.B. die kognitive Strukturie-rung, mit dem Ziel, wieder zum Primärvorgang zu finden, der das Erleben des Kindes bestimme und in dem weder psychische Strukturen noch der Intellekt die Gefühlsregungen kontrollieren, um von dort aus neu aufbauen oder wieder aufbauen zu können. […] Die Regression ist Voraussetzung für die Erschaf-fung von etwas Neuem. Sie ist der erste Teil des schöpferischen [bzw. therapeutischen, L.H.] Prozesses, indem es zunächst zur Entstrukturierung von vorhandenen, gespeicherten Formen kommt und anschlie-ßend zu einer Neustrukturierung […]. Mit Musik kann dieser regressive Prozeß auf sehr spezielle Weise gefördert werden.“ (Willms, Harm: „Regression in der Musiktherapie“, in: Bruhn, Herbert u.a. (Hg.):

Musikpsychologie. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, 431ff.)

Bedarf es womöglich gerade dieser „Leichtigkeit des Spiels“, dieses „Fehlen[s] der An-gestrengtheit“, um jene „höchste Anstrengung unseres Wesens“ vollbringen zu können, von der Heidegger (im Anschluss an Kant) spricht: den Dingen in „freier Gunst“ zu begegnen, sie sein zu lassen und in ihrer Schönheit zu gewahren?41

Martin Seel sieht in dem Ineinander von subjektiver Spieltätigkeit und objektivem Spielgeschehen (dem Spiel der Erscheinungen an den Dingen) ein Spezifikum des äs-thetischen Spiels.

„Die ästhetische Wahrnehmung ist Spiel, und sie ist Aufmerksamkeit für ein Spiel. Sie ist ein spielendes Mitgehen mit einem Spiel, das nicht allein ihr Spiel ist. […] Anders als bei den anderen Spielen, bei denen das Spiel erst anfängt, wenn die Spielenden damit anfangen, wird das objektive, von beliebigen Spielern erfahrbare ästhetische Spiel nicht generell durch eine Tätigkeit des Spielens eröffnet; stets jedoch wird es zugänglich in der Tätigkeit eines perzeptiven Spielens.“42

Während das nicht (primär) ästhetische Spiel ohne das aktive Zutun der Spielenden überhaupt nicht zustande käme und somit weitgehend davon bestimmt bleibt, richtet sich das Spiel der ästhetischen Wahrnehmung immer (auch) nach den Vorgaben des ästhetischen Objekts, mit dessen Spiel von Erscheinungen es „mitgeht“ und „mitspielt“

(wiewohl es sich freilich nicht immer in einem bloßen Mit-Spielen erschöpft). Aus die-sen unterschiedlichen Spielformen ergibt sich für Seel eine „Differenz zwischen einem durch agierende Verausgabung und einem durch anschauendes Verweilen gewonnenen Sinn für Präsenz.“ Jedoch räumt auch er ein, dass „der Schritt vom einen zum anderen […] doch oft nur ein kleiner (und manchmal fast gar kein) Schritt ist“ und somit „das ästhetische Spielen oft ein nichtästhetisches und dieses oft ein ästhetisches Spielen an[zieht].“43

41 Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, 127f. Vgl. Kap. 2.1.3. bzw. 4.

42 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 217.

43 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 218f. Vgl. dazu auch „Spiel“ und „Betrachtung“ als zwei verschiedene Dimensionen des guten Lebens. (Seel, Versuch über die Form des Glücks, 159-170.)

2.1.9. „E

RNST

Die Freiheit des Spiels, von der zuallererst die Rede war, darf nach dem bisher Gesagten also gerade nicht dahingehend missverstanden werden, als würde sich hier die Subjekti-vität des Menschen willkürlich und grenzenlos entfalten, indem sie aus den realen Ge-gebenheiten in eine eigene, autonome Scheinwelt des Illusionären flüchtet, in der zwar alles möglich, aber nichts wirklich ist. Eine derartige „Freiheit“ beruht auf einem Para-dox, wie es sich bereits im Zusammenhang mit den ungebundenen Imaginationen44 er-geben hat: Trotz oder gerade wegen ihrer unbegrenzten Reichweite bleibt sie auf eigen-tümliche Weise in ihrem eigenen Umfeld befangen. Trotz oder gerade wegen des Feh-lens von Widerständen wächst sie niemals über sich selbst hinaus. Was sie an Möglich-keiten gewinnt, büßt sie an WirklichMöglich-keiten ein. Aus den fernsten Ländern und Gefilden kehrt sie unverändert wieder zu sich selbst zurück. Ihre Freuden sind „wie das Finden von Ostereiern, die sie selber versteckt hat“45, deshalb leidet sie auch nie, denn solche Eier kann man nicht nicht finden. So frei sie innerhalb ihres abgesteckten Bezirks von jeglichen äußeren Einschränkungen ihrer Möglichkeiten sein mag, so unfrei wird sie darin andererseits zu einer Begegnung, Einsicht und Veränderung der Wirklichkeit da-rüber hinaus.

Eine derartige Verkennung und Verschiebung der Freiheit des Spiels in eine eigenstän-dige und losgelöste Sphäre der Subjektivität der Spielenden, wie sie laut Gadamer ins-besondere seit Kant und Schiller noch bis heute wirksam ist, bringt nicht zuletzt auch das Spiel der Kunst um seine ontologisch-lebensweltliche Relevanz.

„Mit der Inanspruchnahme eines eigenen, autonomen Geltungsbereiches für die Ästhetik ging eine strikte Trennung zwischen der faktischen Wirklichkeit und der verklärten Schein-welt der Kunst einher. Dieser eigengesetzliche Bezirk des Fiktiven hatte – obwohl er impli-zit als Gegenentwurf einen (negativen) Bezug zur Realität voraussetzte – keine Veranke-rung im alltäglichen Leben mehr; […] Das Kunstwerk führt lediglich als eines von vielen

44 Vgl. Kap. 1.2.2.

45 Sinngemäß Günther Pöltner in seiner Vorlesung zur „Ästhetik“, gehalten am Institut für Philosophie an der Universität Wien im Sommersemester 2007.

möglichen Vehikeln in einen phantastischen Traum, aus dem man später ohne Nachwirkun-gen für das reale Leben erwacht.“46

Entgegen einer solchen polarisierenden Auffassung gilt es zu betonen: Spiel ist nicht das Gegenteil, die Abwesenheit von Ernst schlechthin - nur von jenem „Ernst des Le-bens“, der ja lediglich eine bestimmte Form des Handelns und Erkennens meint, wie sie in einem bestimmten Zeit- und Kulturraum bestimmend sein mag.47 Die spezifische Ernsthaftigkeit des Spiels kommt sowohl darin zum Ausdruck, dass es seine eigenen verbindlichen Regeln und Ordnungen generiert, deren Nichtbeachtung zum „Spielver-derb“ führt,48 als auch im Wahrheitsgehalt und in der Bedeutung des in ihm Erfahre-nen.49

46 Flatscher, Matthias: „Das Spiel der Kunst als die Kunst des Spiels. Bemerkungen zum Spiel bei Gada-mer und Wittgenstein“, in: Esterbauer, Reinhold (Hg.): Orte des Schönen. Phänomenologische Annähe-rungen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, 126f.

Die im und durch das Spiel eröffneten (nicht notwendigerweise

begrifflich-47 Etwas ist nicht schon allein dadurch „bloß subjektiv“, dass es nicht einem bestimmten (wissenschaftli-chen) Ideal von Objektivität entspricht. Viele, und vielleicht sogar die entscheidenden/existenziellen

„Wahrheiten“ können ohnehin nur jeweils „am eigenen Leib“ erfahren werden, was durchaus nicht aus-schließt, dass hier (auch) etwas allgemein Menschliches erfahren wird. Es sind oft die Dinge, die ohnehin jeder „weiß“, und die einen dennoch überraschen und oft genug befremden, sobald sie „subjektiv“ erfah-ren werden (wie beispielsweise die Sterblichkeit des (Mit-) Menschen). Man weiß auch danach oft nicht

„mehr“, aber man „weiß“ jetzt anders als zuvor. Davon abgesehen kann auch etwas Subjektives wahr sein und gelten - das „nur für mich“ besagt dabei noch keineswegs, dass ich es konstruiere oder einbilde, son-dern lediglich, dass sich mir etwas an diesem meinem Ort und zu dieser Zeit anders zeigt als an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit, was gewissermaßen in der Natur der Sache liegt. Wir erinnern uns an Husserl, der „[d]as u n mi t t e l b a r e ‚Sehen‘“ als „die letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behaup-tungen“ bezeichnet und sogleich hinzufügt: „Das schließt übrigens nicht aus […], daß unter Umständen doch ein Sehen mit einem anderen Sehen streiten kann und ebenso eine r e c h t mä ß i g e Behauptung mit einer anderen. Denn darin liegt nicht etwa, daß Sehen kein Rechtsgrund sei, so wenig das Überwiegen einer Kraft durch eine andere besagt, daß sie keine Kraft sei.“ (Husserl, Ideen zu einer reinen Phänome-nologie und phänomenologischen Philosophie. § 19, 43.)

48 „Nicht der aus dem Spiel herausweisende Bezug auf den Ernst, sondern nur der Ernst beim Spiel läßt das Spiel ganz Spiel sein. Wer das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber.“ (Gadamer, Wahrheit und Methode, 108.)

49 Martin Seel spricht in Bezug auf die ästhetische Erfahrung davon, dass diese „ihre Subjekte mit einer Art der Bewusstheit versorgt, mit der sie keine andere Erfahrungsweise versorgen kann.“ (Seel, „Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung“, 56.) Vgl. Kap. 1.3.3. Verschiedene Wahrheitsbegriffe und der spezi-fische Wahrheitsgehalt der Kunst werden in Kap. 3.2.2.1.f. erörtert.

propositionalen) Eindrücke und Erfahrungen können – neben dem unmittelbar „ange-nehmen Gefühl“ und der zeitweiligen Erleichterung, die man im Spiel durch das Aufge-hen in dessen eigener Ordnung und Initiative erfährt - von durchaus bleibendem Wert und nachhaltiger Auswirkung auf das „ernste“ Leben danach sein. In diesem Fall hört das Spiel nicht eigentlich mit der Tätigkeit des Spielens auf - der Austritt aus dem Spiel geht dann einher mit dem Wiedereintritt in einen neuen, veränderten Alltag, eine neue,

„verwandelte“ Subjektivität. „Das Kunstwerk hat […] sein eigentliches Sein darin, daß es zur Erfahrung wird, die den Erfahrenden verwandelt.“50