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3. Die Erfahrung des Schönen

3.2. Die ästhetische Deutung des Schönen

3.2.2. Exkurs: Wahrheit als Unverborgenheit des Seienden

3.2.2.3. Wahrheit als therapeutische Kategorie

Der Streit zwischen Welt und Erde kennzeichnet jedoch nicht nur das Sein und die Wahrheit des Kunstwerkes, sondern erweist sich darüber hinaus als charakteristisch für das Geschehen der Wahrheit überhaupt, welche als Unverborgenheit in sich wesenhaft auf Verborgenheit bezogen bleibt. Insofern gewinnt der Kunstwerkaufsatz eine maßge-bende Bedeutung für ein angemessenes Verständnis der Heideggerschen Seins- und Wahrheitsfrage insgesamt.

„Was so am Kunstwerk seine Ausweisung findet, soll aber das Wesen des Seins überhaupt ausmachen. Streit von Entbergung und Verbergung ist nicht nur die Wahrheit des Werkes, sondern die alles Seienden. […] Wahrheit ist nicht einfach schlechthinnige Anwesenheit von Seiendem, so daß es dem richtigen Vorstellen gleichsam entgegensteht. […] Was ist, das bietet nicht nur als Oberfläche einen kenntlichen und vertrauten Umriß, es hat auch eine in-nere Tiefe der Selbständigkeit, die Heidegger als ‚Insichstehen‘ bezeichnet. Die vollendete Unverborgenheit alles Seienden, die totale Vergegenständlichung von allem und jedem (durch ein in seiner Perfektion gedachtes Vorstellen), würde das Insichsein des Seienden aufheben und eine totale Einebnung bedeuten.“40

Wahrheit, verstanden als Unverborgenheit des Seienden, verweist also sowohl über den Bereich der Logik und Erkenntnistheorie (Wissenschaft) als auch über den Bereich der Kunst hinaus in eine grundlegende Dimension des Seins alles Seienden. Welche Impli-kationen ergeben sich daraus für den Bereich der Therapie? Gibt es nicht zuletzt auch

40 Gadamer, Hans-Georg: „Zur Einführung. Von Hans-Georg Gadamer“, in: Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, 110f.

einen Bezug zwischen Unverborgenheit und (psychischer) Gesundheit? Worin könnte ein solcher Bezug bestehen?

Insbesondere für therapeutische Zusammenhänge liegt die unterschiedliche Relevanz der oben genannten Seins-, Wahrheits- bzw. Weltauffassungen auf der Hand. Hier inte-ressiert nicht etwa die „Welt“ der nackten, allgemeingültigen Tatsachen – hier geht es vielmehr darum, die Lebens-Welt eines jeweiligen Menschen (der er nicht etwa distan-ziert und neutral gegenüber steht, die ihn vielmehr unmittelbar betrifft und angeht, an der er leiden bzw. in der er keinen Sinn, keine Orientierung finden kann) möglichst um-fassend und unreduziert zu erschließen. Freilich kann und soll auch in diesen therapeuti-schen Zusammenhängen immer wieder auf Erkenntnisse zurückgegriffen werden, die sich erst aus einer Vergegenständlichung und Entweltlichung ergeben (z.B. die Anato-mie und Physiologie des menschlichen Körpers). Derartige Rückgriffe dürfen allerdings nicht mehr als bloße Hilfsgriffe sein, wenn anders ein genuines Anliegen von Therapie, das zum Vorschein und zur An-Erkennung kommen des je individuellen Mensch-Seins (als In-der-Welt-sein), nicht verdeckt werden soll. Zwar gibt es auch in Bezug auf den Menschen bestimmte Situationen, in denen seine Betrachtung bzw. Behandlung als weltlos-vorhandenen Gegenstand weitgehend angebracht bzw. sogar gefordert sein mag (wie beispielsweise im Zuge eines chirurgischen Eingriffs) – doch kann gerade er in seiner Existenz (d.h. etwa in seinen Freuden und Leiden, in seinen Ängsten, Nöten und Hoffnungen…) nicht verstanden werden (bzw. sich selbst nicht verstehen), solange sei-ne jeweilige Welt keisei-nen angemessesei-nen Ausdruck findet, solange also das ihn umge-bende Seiende lediglich unmittelbar besorgt (bzw. befürsorgt41) oder auf ein bloß Vor-handenes reduziert wird.

41 Mit dem Begriff der „Fürsorge“ bezeichnet Heidegger unser je schon (auf diese oder jene Weise) auf unsere Mitmenschen Bezogen-Sein. „Das Für-, Wider-, Ohne-einandersein, das Aneinandervorbeigehen, das Einander-nichts-angehen sind mögliche Weisen der Fürsorge. Und gerade die zuletzt genannten Modi der Defizienz und Indifferenz charakterisieren das alltägliche und durchschnittliche Miteinandersein.

Diese Seinsmodi zeigen wieder den Charakter der Unauffälligkeit und Selbstverständlichkeit, der dem alltäglichen innerweltlichen Mitdasein Anderer ebenso eignet wie der Zuhandenheit des täglich besorgten Zeugs.“ (Heidegger, Sein und Zeit, 121.)

Wenn nun also auch die Wahrheit bzw. das Sein des Menschen durch Öffnung (Welt) und Verbergung (Erde) zugleich gekennzeichnet ist, dann gilt wohl auch von ihm, dass er sich an-ihm-selbst und von-ihm-selbst-her nur da zeigen kann, wo er (auch)

„unentborgen und unerklärt bleibt“ (nicht etwa aus Dummheit oder sonstigem Mangel an Erkenntnismitteln, sondern gerade aus jener tieferen Einsicht in sein Wesen und aus Respekt vor diesem seinem „Insichstehen“42 als Person), dass eine „nur rechnerische Zudringlichkeit“ sein eigenstes Zum-Vorschein- und Zur-Geltung-Kommen unweiger-lich zerstört.

So wie das Schwere und das Lasten eines Steines unter der Hand einer vergegenständli-chenden Beschreibung zu einem Gewicht, zu einer bloßen Zahl wird und als Schwere nicht mehr zur Geltung kommen kann, so läßt sich wohl auch die Schwere (oder Leich-tigkeit) eines menschlichen Gemüts in keiner Depressionsskala und keinem neurologi-schen Befund als Schwere abbilden, wohl aber künstlerisch „ins-Werk-Setzen“, bzw.

von einem Werk an- und aussprechen, darin wiederfinden.43

42 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, 35.

Im Unterschied zum Stein - so lautet die hier vertretene These - bedeutet dieses seiner Schwere angemessenere

Me-43 Ulrich Pothast geht in seinem Aufsatz „Bereitschaft zum Anderssein: Über Spürenswirklichkeit und Kunst“ davon aus, dass das stets in Veränderung begriffene „Spürensleben“ (262) einer Person nicht von Haus aus selbst-durchsichtig, sondern vielmehr darauf angewiesen ist, zur Sprache gebracht, d.h. in ein mehr oder weniger dauerhaftes äußeres Äquivalent überführt bzw. in einem solchen (wieder)gefunden zu werden. Ein solches „Sich-Erkennen im Unbekannten“ (271) beschreibt Pothast als ein „Befreiungserleb-nis“ (273), als „Erlösung bisher sprachlos gebliebener Spürenszüge des eigenen Innengrunds durch ein sie treffendes Gegenüber“ (272). Erlöst wird gleichsam die „innere Einsamkeit“ (269) eines Menschen, sein Mit-sich-selbst-unbekannt/fremd-Sein. Er lernt sich selbst, seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Ansich-ten, Wertungen etc. besser kennen und verstehen (bzw. von fremden, vorgegebenen, normierten unter-scheiden und abgrenzen) und kann somit auch Stellung dazu beziehen, anstatt ihnen blind ausgeliefert zu sein. In diesem Zusammenhang spricht Pothast insbesondere der Kunst (neben der Sprache) eine wichtige Bedeutung und ein großes Potential zu. (Pothast, Ulrich: „Bereitschaft zum Anderssein: Über Spürenswirklichkeit und Kunst“, in: Liessmann, Konrad Paul (Hg.): Im Rausch der Sinne. Kunst zwischen Animation und Askese. (2. Philosophicum Lech, 1998). Wien: Zsolnay 1999.) Im Anschluss an Heidegger könnte man der Wahrheit dieses „Spürenslebens“ also gewissermaßen einen „Zug zum Werk“ attestieren.

„Weil es zum Wesen der Wahrheit gehört, sich in das Seiende einzurichten, um so erst Wahrheit zu wer-den, deshalb liegt im Wesen der Wahrheit der Zug zum Werk als einer ausgezeichneten Möglichkeit der Wahrheit, inmitten des Seienden selbst seiend zu sein.“ (Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, 62.)

dium, dieser Zuwachs an Unverborgenheit (Wahrheit) für den Menschen nicht zuletzt aber auch einen Zuwachs an (psychischer) Gesundheit.

Diese Argumentation - wie überhaupt der Rückgriff auf das Wahrheitsverständnis Hei-deggers im Rahmen einer Arbeit über therapeutische Relevanzen - mag auf den ersten Blick befremden. Sie erscheint mir jedoch nicht zuletzt insofern gerechtfertigt, als das Denken Martin Heideggers „in sich“ bereits therapeutische Züge aufweist (was auch seinen großen Einfluss auf verschiedene psychotherapeutische Konzepte (insbesondere der „Daseinsanalyse“) verständlich macht).

„In der Analytik des Daseins [in Sein und Zeit, L.H.] ist der Anspruch enthalten, den Men-schen als Phänomen sein zu lassen, ihn nicht aufgrund eines methodiMen-schen Vorurteils von Nichtmenschlichem her zu verstehen. Darin liegt, verglichen mit dem erwähnten Reduktionismus, ein Freimachen und Freiwerden für die Phänomene. In diesem Moment der Befreiung darf über das Faktum des Verhältnisses von Phänomenologie und Psychothe-rapie hinaus von einem in sich therapeutischen Moment dieses Denkens – wenn anders Be-freiung auch ein Gesundwerden ist – gesprochen werden.“44

Wahrheit wird also im Zuge der hier skizzierten Überwindung ihrer bloß erkenntnisthe-oretischen Relevanz als Unverborgenheit nicht zuletzt auch eine therapeutische Katego-rie, und zwar nicht primär im Sinne eines Wissens um… (beispielsweise die traumati-schen Ursachen eines bestimmten Verhaltensmusters), sondern vielmehr im Sinne von:

auf eine bestimmte Weise zum Vorschein und zur Geltung kommen (nämlich im Modus des Schönen)45

44 Vetter, Helmuth: „Heideggers Denken und die Psychotherapie“, in: Kühn, Rolf/Petzold, Hilarion (Hg.):

Psychotherapie & Philosophie. Philosophie als Psychotherapie? Paderborn: Junfermann 1992 (= Reihe Innovative Psychotherapie und Humanwissenschaften 50), 229. Vgl. Kap. 4.5.

, sich an-ihm-selbst und von-ihm-selbst-her zeigen können, welches

Zei-45 Über den Zusammenhang von Schönheit und Wahrheit schreibt Heidegger u.a.: „Wenn die Wahrheit sich in das Werk setzt, erscheint sie. Das Erscheinen ist – als dieses Sein der Wahrheit im Werk und als Werk – die Schönheit. So gehört das Schöne in das Sichereignen der Wahrheit. Es ist nicht nur relativ auf das Gefallen und lediglich als dessen Gegenstand.“ (Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, 85.) Ähnlich argumentiert er in der bereits zitierten Nietzsche-Vorlesung in Anlehnung an den platonischen Dialog Phaidros: „Ebendieses, was die Wahrheit ihrem Wesen nach vollbringt und ausmacht, die Enthül-lung des Seins selbst, ebendieses und nichts anderes vollbringt die Schönheit, indem sie aufleuchtend im Anschein entrückt in das darin aufscheinende Sein, d.h. in die Offenbarkeit des Seins, in die Wahrheit.

[…] Wahrheit und Schönheit sind in ihrem Wesen bezogen auf dasselbe, das Sein. Sie gehören zusammen

gen sich jedoch nicht einfach wie von selbst ergibt, sondern eines geeigneten Zeugen46 sowie eines (der Seinsart des Sich-Zeigenden) angemessenen Ausdrucksmediums be-darf.