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3. Die Erfahrung des Schönen

3.3. Ontologische Fragestellung nach dem Schön-Sein des Schönen

3.3.3. Befindlichkeit

3.3.3.3. Anthropologie der „gehobenen Stimmungen“

3.3.3.3.3. Leere und fruchtbare Gegenwart

Doch trifft eine derartig einseitige Ästhetik des Scheins und der ablenkenden Illusion eben gerade nicht das volle Wesen jener (ästhetisch-)beglückenden Gegenwart, von der

179 Gernot Böhme spricht in diesem Zusammenhang einer zeitgemäßen Ästhetik eine eminent kritische Aufgabe gegenüber jener allgegenwärtigen und leicht zu missbrauchenden Macht des Ästhetischen zu.

„Diese Macht bedient sich weder physischer Gewalt noch befehlender Rede. Sie greift bei der Befind-lichkeit des Menschen an, sie wirkt aufs Gemüt, sie manipuliert die Stimmung, sie evoziert die Emotio-nen. Diese Macht tritt nicht als solche auf, sie greift an beim Unbewußten. Obgleich sie im Bereich des Sinnlichen operiert, ist sie doch unsichtbarer und schwerer faßbar als jede andere Gewalt. Die Politik bedient sich ihrer ebenso wie die Wirtschaft, sie wurde traditionell schon immer von religiösen Gemein-schaften eingesetzt und hat heute ihr unbegrenztes Feld, wo immer die Kulturindustrie Leben inszeniert und Erleben präformiert. Damit erwächst der Ästhetik der Atmosphären eine gewichtige kritische Aufga-be.“ (Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 39.)

hier die Rede ist. Im Zuge der ästhetischen Aufmerksamkeitsmodulation („Wechsel der Einstellung“) bildet die Ablenkung von nur ein begleitendes Moment einer Bewegung, die primär eine Hinwendung zu bedeutet.

Eine Gegenwart, die in erster Linie aus einem Vergessen und Ausblenden von Vergan-genheit und Zukunft resultiert, „beglückt“ nur vordergründig und für die kurze Dauer ihres Bestehens. Sie besteht aus isolierten Augenblicken, d.h. die jeweilige Sache, der diese Gegenwart gilt, hinterlässt keinen bleibenden Eindruck und verklingt spurlos, so-bald der gewohnte Alltag wieder über sie hereinbricht – sie kommt lediglich als Mittel zum Zweck des Zeit-Vertreibs in Betracht. Mit einer Sache eine Erfahrung (im obigen Sinn) zu machen, wie dies in unserer Rede von ästhetischer und insbesondere von Schönheits-Erfahrung anklingt, impliziert demgegenüber eine Form von Glück, das zwar von einem jeweiligen Hier und Jetzt seinen Ausgangspunkt nimmt, jedoch inso-fern darüber hinaus andauert und nachwirkt, als es sich eben nicht bloß (negativ) der kurzzeitigen Abwesenheit von etwas anderem, sondern (positiv) dem Erfahrenen selbst verdankt, wie es sich als Ganzes in „gleichzeitiger Ungleichzeitigkeit“ über alle drei Zeitdimensionen erstreckt.180

Diese Unterscheidung ist für das Anliegen der vorliegenden Arbeit von größter Bedeu-tung – ist es doch auch das Ziel jeder (künstlerischen) Therapie, nachhaltige gesund-heitsfördernde Prozesse in Gang zu setzen und das im geschützten Rahmen einer Thera-piesitzung Gewonnene auch möglichst in den jeweiligen Alltag des betroffenen Men-schen zu transferieren.

Der zeitlichen „Ausdehnung“ von existenzieller Gegen-wart über einzelne Zeit-Punkte hinaus entspricht also auch eine „Ausdehnung“ der Be-deutsamkeit des jeweils Gegenwärtigen.

Auch für Bollnow ergibt sich „grade von dem Gesichtspunkt aus, ob sich eine fruchtba-re Wirkung einstellt oder nicht, ein Kriterium dafür, den leefruchtba-ren Rausch vom fruchtbafruchtba-ren Augenblick zu unterscheiden.“181

180 In diesem Sinn wird sich auch jenes Glück, das mit der Erfahrung des Schönen einhergeht, als ein solches erweisen, das nicht etwa einer Flucht, sondern im Gegenteil einer besonderen Zuwendung zur Wirklichkeit entspringt. „Beglückung aber liegt nicht im Realitätsverlust, sondern beruht im Kontakt mit ihr: Die Gegenwart positiver Realität ist der Grund der Freude und des Glücks.“ (Pöltner, „Die Erfahrung des Schönen“, 13.) Vgl. Kap. 3.3.5ff.

181 Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, 252.

„Diese Augenblicke stehen zwar als solche außerhalb der Zeitlichkeit des Lebens, aber sie stehen ihm dennoch nicht beziehungslos gegenüber, sondern sie erweisen ihre Fruchtbarkeit für das Ganze des zeitlichen Lebens dadurch, daß die hier gefaßten Ideen auch über den als solchen schwindenden Augenblick hinweg Gültigkeit behalten und das Ganze des übrigen Lebens umzugestalten vermögen.“

Demgemäß ereignet sich auch der Übergang aus diesen besonderen Augenblicken zu-rück in die alltägliche Zeitlichkeit nicht „als ein einfaches Hinausfallen, bei dem der Mensch sich enttäuscht aus dem erträumten Paradies wieder hinausgeworfen und in die frühere Alltäglichkeit des Lebens zurückversetzt findet.“ Vielmehr „wächst aus der Zeitlosigkeit dieses Erlebens selber die Spannung hervor, welche den in sich selber ru-henden Augenblick von innen heraus sprengt und sich dann in dem tätigen Einsatz für die Verwirklichung des zuvor Erschauten entlädt.“182

In diesem Sinn bleibt auch das Schöne wesentlich auf die (Handlungs-)Dimension des Guten bezogen, indem es uns zwar unmittelbar innehalten lässt, gerade dadurch aber das darauffolgende Handeln orientiert und motiviert. In einer Erfahrung mit Schönem erfah-ren wir immer auch, wofür und warum überhaupt es sich zu handeln lohnt.

Die fruchtbare Wirkung eines solchen Augenblicks darf jedoch nicht einfach im Sinne einer kausalen Ursache-Wirkungs-Relation verstanden werden – sie unterliegt immer auch der eigenen Selbstverantwortung.

„Aber auf der andern Seite fällt dem Menschen diese fruchtbare Wirkung nicht in den Schoß, sondern hängt es jetzt von der Anstrengung des folgenden Lebens ab, ob das in diesen

182 Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, 253f. Es ist laut Bollnow v.a. diese Zeitlosigkeit des Glückser-lebens, diese in sich ruhende, selbstzweckhafte (entelechiale) „Zeit ohne Ziel“, die in Nietzsches zentra-lem Gedanken von der „ewigen Wiederkehr“ zum Ausdruck kommt. „So erscheint die Lehre von der

‚ewigen Wiederkehr‘ als eine begriffliche Auslegung der im höchsten Glück des Mittags erfahrenen Ewigkeit. Das antike Bild vom Kreislauf der Zeit […] drängt sich jetzt auf, um diese in sich selbst ruhen-de, auf keine Zukunft über sich selbst hinausweisende Zeitform der erfahrenen Ewigkeit zu deuten […].“

Und auch der kryptische Zusammenhang der „ewigen Wiederkehr“ mit der Lehre vom „Übermenschen“

wird von hier aus verständlich, wenn man (wie oben ausgeführt) berücksichtigt, dass diese besonderen Ewigkeits-Augenblicke nicht einfach spurlos vorübergehen, sondern das darauffolgende Leben neu moti-vieren und bestärken (können). (Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, 234, vgl. auch 219-236.)

nen Augenblicken Ergriffene festgehalten und fruchtbar gemacht werden kann oder ob es ungenutzt wieder entschwindet.“183

Auch dieser Hinweis ist für ein adäquates Verständnis von Therapie sehr bedeutsam, sofern diese ihre PatientInnen gerade nicht - wie etwa die Medizin (über weite Strecken) - ihrer eigenen Verantwortung entheben und den (Macht-)Anspruch vertreten will/muss, es für sie „wieder gut“ zu machen. Therapie kann gar nicht anders funktionieren als in Form einer „Hilfe zur Selbsthilfe“.184