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1. Ästhetische Erfahrung

1.3. Resümee

1.3.3. Artistisches Erscheinen

Kunstwerke sind durch ein bloßes und/oder atmosphärisches Erscheinen jedoch noch nicht hinreichend charakterisiert (wiewohl sie beides zumeist auch sind). Über den be-sonderen Status von Kunstwerken, ihre spezifischen Produktions- und Rezeptionsbe-dingungen wird im 2. Teil dieser Arbeit noch ausführlicher die Rede sein. Das sich da-raus ergebende artistische Erscheinen dieser Objekte ist durch eine doppelte Gegenwär-tigkeit gekennzeichnet, wie sie im Zusammenhang mit den Objekten der gebundenen Imagination bereits angeklungen ist: Die Gegenwart eines sinnlichen Erscheinens ge-nügt sich hier nicht selbst, sie wird auch nicht lediglich atmosphärisch um Aspekte der eigenen Lebenssituation erweitert, sie geht vielmehr einher mit einer Vergegenwärti-gung beliebiger (anderer) Gegenwarten, verstanden als „Arten der menschlichen [nicht nur der eigenen, L.H.] Involviertheit in reale oder irreale, vergangene, gegenwärtige oder künftige Zustände der Welt.“60

Es gibt da also einen Sinn, einen Gehalt, eine „Wahrheit“, die nicht selbst das sinnliche Kunstobjekt ist, auf die das Kunstobjekt aber auch nicht lediglich wie auf ein Äußeres, Unabhängiges verweist. Sie (und damit das Kunstwerk als Ganzes) erschließt sich nur einer „interpretativ-reflexiven“ ästhetischen Wahrnehmung, kann sich aber auch nie restlos vom konkreten ästhetischen Vollzug dieser Wahrnehmung lösen und ein für al-lemal auf den Begriff gebracht werden. Aus diesem Grund spricht Seel wohl auch in Bezug auf diese geistige Dimension von einer (anderen) Gegenwart, sofern sie nämlich an die Gegenwart des realen sinnlichen Erscheinens gebunden bleibt.

„Nur am Kunstwerk ist zu erfahren, was in ihm gestaltet ist. Nur in der Gegenwart des Werks ist zu erkennen, was es an Erkenntnis vermitteln kann. Im Unterschied zur empiri-schen und sonstigen theoretiempiri-schen Erkenntnis kann diese Erkenntnis nicht in der Form von

59 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 156.

60 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 184.

Aussagen gesichert werden. […] Sie mag zu begrifflich bestimmten Erkenntnissen führen oder bei ihnen ihren Anfang nehmen, aber sie ist keine begriffliche Erkenntnis.“61

Das, was die Kunst sagt (ihr „Inhalt“), ist untrennbar damit verbunden, wie sie es sagt (ihrer „Form“), wie das Gesagte hier und jetzt erscheint. Die Form ist nicht beliebig, nicht austauschbar. Der Gehalt lässt sich nicht (zur Gänze) in ein anderes (nicht-künstlerisches) Medium trans-formieren bzw. isoliert darstellen, ohne dabei entweder ganz verloren zu gehen oder sich zumindest entsprechend seiner neuen Gestalt zu ver-ändern. Mit anderen Worten: Es gibt „Gehalte“, die sich nicht in jedem beliebigen Me-dium ausdrücken lassen, sondern nur dann als sie selbst zum Vorschein kommen, sich an-ihnen-selbst und von-ihnen-selbst-her zeigen können, wenn sie ein ihrer Seinsart angemessenes Medium finden.62

Oftmals bedeutet also die Trans-formation eines bestimmten Gehalts einen Wechsel bzw. eine Ver-wechslung unterschiedlicher und inkompatibler Seinsarten. Beschreibt etwa Rilke in seinem Gedicht „Herbsttag“ das gleiche Phänomen, das auch zum Unter-suchungs-Gegenstand etwa der Meteorologie oder Botanik gemacht werden kann, dort ebensogut (oder vielleicht sogar noch „besser“) – nur eben in einer anderen, nüchterne-ren Sprache – dargestellt wird? Kann eine Zeitungsmeldung von dem gleichen Ereignis berichten, um das Dostojewski seinen Roman Schuld und Sühne kreisen lässt? Ist dabei alles das, was künstlerisch über eine „sachliche“ Information hinausgeht, nur Aus-schmückung, nur subjektive und mehr oder weniger willkürliche Zutat, die jedenfalls der Sache als solcher nichts mehr Wesentliches und Neues hinzufügt? Was heißt hier Sache und welches Verständnis von Sein und Wahrheit kommt dabei zum Tragen? Die-se und ähnliche Fragen werden uns im weiteren Verlauf dieDie-ser Arbeit immer wieder begegnen63

61 Seel, Ästhetik des Erscheinens, 191f.

– vorerst sei immerhin festgehalten, dass Objekte (der Kunst), die im Wie ihres (bloßen, atmosphärischen, artistischen) Erscheinens beachtet werden und zur Gel-tung kommen, auch in ihrem Was bereichert, modifiziert, ja überhaupt erst ermöglicht

62 Das betrifft nicht nur sogenannte „künstlerische“ Gehalte. Warum wählt beispielsweise Platon zur Darstellung seiner Philosophie nicht etwa die Form einer wissenschaftlichen Abhandlung, sondern die eines epischen Dialoges, deren Protagonisten noch dazu immer wieder in Gleichnissen und Analogien sprechen? Ist dies nur eine hübsche Verpackung für etwas, das man genausogut „auspacken“ und in eine andere „Schachtel“ geben könnte?

63 Vgl. insbesondere Kap 3.2.2f.

werden. Diese Bereicherung bzw. Ermöglichung besteht jedoch nicht in erster Linie im Entdecken weiterer objektiver Eigenschaften, die einem flüchtigen oder auf bestimmte Ab- und Hinsichten fixierten Blick nicht auffallen (wiewohl auch dies ein positiver Ne-beneffekt von ästhetischer Wahrnehmung sein kann). Es kommt nicht einfach mehr des-selben, sondern etwas Neues und Anderes zur Geltung, das auch mithilfe der genauesten Analyse nicht als objektive Eigenschaft am Gegenstand ausgewiesen werden kann, das aber dennoch auch keine bloß subjektive Einbildung ist. Das ästhetisch wahrgenomme-ne „Objekt“ ist auf eiwahrgenomme-ne spezifische Art und Weise: nämlich in der Fülle seiwahrgenomme-nes momen-tanen und simulmomen-tanen Erscheinens, in dessen sinnlicher Besonderheit zugleich ein uner-schöpfliches Sinnpotential64

Das Sinnpotential des Erscheinens ist keineswegs ausschließlich begrifflich-diskursiv.

Es kann letztendlich „nicht in der Form von Aussagen gesichert werden“ - seine wis-senschaftlich-methodische bzw. alltäglich-pragmatische Aktualisierung in isolierte In-formationen, „nackte Tatsachen“ und bestimmte Zweckdienlichkeiten (kurzum: in ein bestimmtes Soseins) bleibt zwangsläufig äußerlich und bruchstückhaft. Keine noch so genaue Inhaltsangabe kann die Bewegungen eines Romans wiedergeben oder gar erset-zen, keine Partitur das Erklingen einer Musik, keine Beschreibung von Formen und Farben das Erscheinen eines Bildes. Im ästhetischen Lesen, Hören und Sehen (wie auch im Riechen, Tasten und Schmecken)

enthalten ist, aus dem heraus wir angesprochen, bewegt und in (s)ein Spiel verstrickt werden. Wie wir antworten und mitspielen, hängt freilich von der jeweiligen Situation und unserem persönlichen Einsatz ab.

65 erfahren wir immer mehr, als wir ohne es jemals wissen könnten - und auf eben dieses Mehr kommt es in der Kunst (und jeder anderen ästhetischen Erfahrung) in erster Linie an.66

64 Vgl. dazu „Eigensein“ und „Eigensinn“ bzw. den „Symbolcharakter“ des Schönen, Kap. 3.3.5.1. bzw.

3.6.2.

65 Eine philosophisch-ästhetische Rehabilitierung der sogenannten „Nahsinne“ unternimmt Madalina Diaconu in ihrem Buch: Tasten, Riechen, Schmecken. Eine Ästhetik der anästhesierten Sinne. Würzburg:

Königshausen & Neumann 2005.

66 „Denn ich meine, dass die ästhetische Erfahrung ihre Subjekte mit einer Art der Bewusstheit versorgt, mit der sie keine andere Erfahrungsweise versorgen kann.“ (Seel, „Über die Reichweite ästhetischer Er-fahrung“, 56.) Ähnlich wird übrigens gegen den Physikalismus in der Philosophie des Geistes argumen-tiert, dass sich das phänomenale Bewusstsein eines Menschen, die subjektiven Erlebnisgehalte mentaler Zustände (die sogenannten „Qualia“) auf kein noch so umfassendes Wissen über dieses Erleben, seine neurobiologischen Abläufe, seine Gegenstände etc. reduzieren lassen. Vgl. etwa das Gedankenexperiment

Von dieser Differenzierung der verschiedenen Dimensionen des Erscheinens her wird nun noch einmal besser verständlich, inwiefern die Kunst zwar nicht den einzigen, sehr wohl aber einen ausgezeichneten Ort der ästhetischen Erfahrung darstellt, inwiefern sich also auch die meisten theoretischen und therapeutischen Konzepte im Zusammenhang mit ästhetischer Erfahrung in erster Linie auf sie berufen. Zum einen, weil künstlerische Objekte eigens auf ein ästhetisches Wahrgenommen-Werden hin angelegt sind, weil hier also das Erscheinen konstitutiv ist, während es in Bezug auf nicht-künstlerische Objekte lediglich auch beachtet werden kann. Zum anderen, weil in der Kunst alle drei Dimensionen des Erscheinens zur Geltung kommen, während für die ästhetische Wahr-nehmung eines nicht-künstlerischen Objekts bereits ein bloßes und/oder atmosphäri-sches Erscheinen ausreicht.