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4. Rekapitulation: Sein-Lassen

4.5. Therapeutische Implikationen

4.5.1. Vom gegenständlich zum zwischenmenschlich Schönen

Das therapeutische „Spiel“ zeichnet sich also gegenüber dem rein künstlerischen in ers-ter Linie durch seinen weit intimeren und persönlicheren Rahmen aus. Die daraus er-wachsende therapeutische Beziehung zwischen PatientIn und TherapeutIn ist zwar selbst nicht wiederum ein ästhetisches Phänomen – kommt aber auch nicht einfach als etwas Äußerliches zum künstlerisch-therapeutischen Setting hinzu. Dieser auf den ers-ten Blick unscheinbare Zusammenhang lässt sich von der ästhetischen Erfahrung her nicht mehr verständlich machen und verweist uns - am Leitfaden des Sein-Lassens - auf die Erfahrung des Schönen.

Schön ist ja - wie bereits des öfteren angeklungen - nicht nur und nicht primär das Künstlerisch- (bzw. Naturhaft-)Ästhetische. Das lässt sich bereits an einem einfachen musikalischen Beispiel aus der Alltagserfahrung verdeutlichen: Das „Ständchen“, das einem persönlich gilt, bzw. das gemeinsame Singen und Musizieren kann (trotz geringe-rer Virtuosität) oft weit schöner sein, uns weit mehr berühren und bedeuten, als wenn wir inmitten eines anonymen Konzertpublikums von den Musikern oben auf der Bühne (oder gar nur technisch vermittelt durch Radio oder Stereoanlage) noch so perfekt „be-spielt“ werden. Denn die Qualität und Intensität, die Schönheit einer Erfahrung lässt sich niemals nur an den ästhetischen Eigenschaften des erfahrenen Objekts (z.B. seinen ausgewogenen Proportionen, seiner sinnlichen Vollkommenheit, seiner technischen Virtuosität etc.) bemessen. Insofern „das Schöne […] weder ein ästhetisches Phänomen unter anderen, noch das maßgebliche ästhetische Phänomen, sondern primär überhaupt

35 Zum Spiel (der Kunst) vgl. Kap. 2.

kein ästhetisches Phänomen [ist]“36, kann ein Weniger an Ästhetik durchaus einherge-hen mit einem Mehr an Schönheit.37

Die Wende von der ästhetischen Erfahrung zur Erfahrung des Schönen impliziert also gewissermaßen einen Rückgang vom Gegenständlichen zum Zwischenmenschlichen.

Dieses Mehr entspringt dann also nicht wiederum dem gegenständlich Dargebotenen – es gründet vielmehr in einer spezifischen Art des (Sich-jemandem-)Darbietens, d.h. in einer spezifischen zwischenmenschlichen Seinsweise, wie sie in dem (oft allzu leichtfertig gebrauchten) Wort „Liebe“ zum Aus-druck kommt (im obigen Beispiel angedeutet durch das Moment des Persönlichen bzw.

Gemeinsamen).

„Schließlich begegnet uns Schönheit zuerst ohnehin nicht an Kunstdingen [bzw. Naturdin-gen, L.H.], sondern an der uns geschenkten Liebe, der wir unser Dasein verdanken.“38 „Am ursprünglichsten begegnen wir dem Schönen in den Menschen, die wir lieben und die (uns) lieben, ja in der Liebe selber.“39

„Deshalb bildet die Liebe das ursprüngliche Phänomen des Schönen, geht uns an ihr zual-lererst auf, worin das Schönsein des Schönen liegt. Denn was es heißen kann, sein lassen, geht uns in seiner vollen Phänomenalität weder schon an der ästhetischen Betrachtung der Natur noch an der des Kunstschönen auf, sondern das erschließt sich uns eben zuerst und zuletzt an der Liebe. Jemanden sein lassen heißt, ihn zu seiner Freiheit freigeben.“40

36 Pöltner, Philosophische Ästhetik, 234.

37 „Deshalb kann ein ästhetisch betrachtet unansehnliches Gesicht sehr wohl schön sein. Freilich ist diese Schönheit nicht gegenständlich feststellbar, sondern nur für die liebenden Augen sichtbar, die in gemein-samer Lebensgeschichte sehend geworden sind, weil immer der ganze, von seiner Geschichte geprägte Mensch sieht.“ (Pöltner, „Die Erfahrung des Schönen“, 15.)

38 Pöltner, „Die Erfahrung des Schönen“, 10f.

39 Wucherer-Huldenfeld, „Sein und Wesen des Schönen“, 21. Vgl. auch Beig, Stefan: „Die Erfahrung des Schönen in der Begegnung mit Anderen“, in: Esterbauer, Reinhold (Hg.): Orte des Schönen. Phänomeno-logische Annäherungen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, 37-54.

40 Pöltner, Philosophische Ästhetik, 246. „Schönheit ist freiheitsanalog, von sich gewährender Freiheit her und auf sie hin zu verstehen.“ (Pöltner, „Die Erfahrung des Schönen“, 15.) Den Zusammenhang von Sein-Lassen und Liebe hat auch Erich Fried in einem seiner Gedichte zum Ausdruck gebracht: „Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist Unglück / sagt die Berechnung / Es ist nichts als Schmerz / sagt die Angst / Es ist aussichtslos / sagt die Einsicht / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist lächerlich / sagt der Stolz / Es ist leichtsinnig / sagt die Vorsicht / Es ist unmöglich / sagt die Erfahrung / Es ist was es ist / sagt die Liebe“ (Fried, Erich: „Was es ist“, in: ders.: Es ist was es ist. Liebesgedichte, Angstgedichte, Zorngedichte. Berlin: Wagenbach 1996, 43.)

„Liebe“ meint hier nicht nur und nicht primär ein romantisches, im engeren Sinn part-nerschaftliches Phänomen, sondern eben eine grundlegende zwischenmenschliche Seinsweise, die als solche durchaus auch mit der therapeutischen Beziehung in Verbin-dung gebracht werden kann. Vor dem Hintergrund des hier vorgebrachten Vorschlages, Therapie im Allgemeinen als einen Rahmen anzusehen, der dem betroffenen Menschen ein Sich-Zeigen an-ihm-selbst und von-ihm-selbst-her ermöglichen soll, erweist sich die

„Liebe“ des Therapeuten/der Therapeutin eben darin, dieses Sich-Zeigen zu bezeugen – gerade auch in seinen Widrigkeiten und Abgründen.

Als eine Form des Sein-Lassens meint dieses Bezeugen wiederum kein bloßes unbetei-ligtes Zur-Kenntnis-Nehmen des Vorhandenen, sondern eine aktive Zuwendung, die ein solches Sich-Zeigen (über die gewohnten Konventionen hinaus) überhaupt erst ermög-licht und in Gang setzt – ein Be-zeugen also, das in sich Momente eines Er-zeugens enthält.41 Als solches kommt es nicht einfach zusätzlich (und somit entbehrlich) zum Sich-Zeigen hinzu, sondern ist ein wesentlicher Bestandteil desselben. In diesem Sinn kann auch gesagt werden, dass wir der Liebe „unser Dasein verdanken“ – wobei Dasein hier nicht das bloße Vorhandensein eines lebendigen Körpers, sondern eben das uns Menschen eigene und uns Menschen würdige Existieren meint. Es kommt hier das spe-zifische Sein und Sich-Zeigen des Menschen zum Tragen, denn „Mensch wird man nur durch den Mitmenschen, durch Dialog, durch Ko-respondenz, durch ‚wechselseitige Empathie‘ – hier liegt also ein Konsens der großen ‚Beziehungsphilosophen‘ und füh-renden Psychotherapeuten dieses Jahrhunderts.“42

41 Zu erinnern wäre in diesem Zusammenhang wohl auch an die sokratische Methode des Philosophierens als einer „Hebammenkunst“ (Mäeutik), „insofern sie keine eigenen Behauptungen aufstellt, sondern durch geschicktes Fragen dem Gesprächspartner dazu verhilft, seine eigenen Gedanken zu artikulieren und sie im Zuge der dialektischen Überprüfung einer begrifflichen Klärung zu unterziehen.“ (Hogen, Hildegard u.a.: „Mäeutik“, in: dies. (Hg.): Der Brockhaus Philosophie. Ideen, Denker und Begriffe.

Mannheim/Leipzig: F.A. Brockhaus 2004, 202.)

42 Orth, Ilse/Petzold, Hilarion: „Beziehungsmodalitäten – ein integrativer Ansatz für Therapie, Beratung, Pädagogik“, in: Petzold, Hilarion/Sieper, Johanna (Hg.): Integration und Kreation. Band 1: Modelle und Konzepte der Integrativen Therapie, Agogik und Arbeit mit kreativen Medien. Paderborn: Junfermann 1993 (= Reihe Innovative Psychotherapie und Humanwissenschaften 56), 117. Dieser philosophisch-therapeutische „Konsens“ reicht wohl auch über unseren Zeit- und Kulturraum hinaus – zwei afrikanische Sprichwörter mögen hier als Andeutung genügen: „Das Wort, das dir hilft, kannst du dir selbst nicht