• Keine Ergebnisse gefunden

2. Das Spiel der Kunst

2.1. Kennzeichen des Spiels

2.1.10. kommunikativ-verbindend

Dass Spielen immer ein dialogisches Geschehen darstellt und es somit „in einem letzten Sinne überhaupt kein Für-sich-allein-Spielen gibt“51, dass alles Spielen überdies auf der freiwilligen Einhaltung bestimmter Spielregeln beruht, die für alle Beteiligten gleicher-maßen gelten (im Gegensatz zu vielen „Spielregeln“ der Alltagsgesellschaft), erklärt nicht zuletzt auch die kommunikativ-verbindende Kraft des Spiels. Es schafft ein Ge-fühl von Zu(sammen)gehörigkeit, das aus der Hingabe an ein Gemeinsames erwächst und sich oft in der Bildung von Gemeinschaften/Freundschaften (über die Dauer des Spiels hinaus) niederschlägt.

„Das Gefühl aber, sich gemeinsam in einer Ausnahmestellung zu befinden, zusammen sich von den anderen abzusondern und sich den allgemeinen Normen zu entziehen, behält seinen Zauber über die Dauer des einzelnen Spiels hinaus. […] Das Anderssein und das Geheime des Spiels findet sichtbarsten Ausdruck in der Vermummung.“52

Die Verbundenheit im Anderssein besteht meiner Meinung nach jedoch nicht in erster Linie in einer Abgrenzung von anderen Menschen und Personengruppen (die als solche ja immer auch ein erhebliches Gefahrenpotential in sich birgt) – nicht so sehr ein ge-meinsames „anders als die Anderen“, sondern vielmehr ein gege-meinsames „anders als

50 Gadamer, Wahrheit und Methode, 108.

51 Gadamer, Wahrheit und Methode, 111. Vgl. Kap. 2.1.8.

52 Huizinga, Homo ludens, 21f.

sonst“ scheint mir hier maßgeblich zu sein. Eine derartige Verbundenheit gewinnt ja geradezu an Intensität, je mehr TeilnehmerInnen in ihren „Reigen“ miteinstimmen, je globaler ihre außergewöhnliche Situation wird. Die Saturnalien und Feiertage vergan-gener Zeiten geben hierfür ein ebenso überzeugendes Beispiel wie die modernen Groß-veranstaltungen in Sport, Kunst und Kultur, die – abgesehen von ihrem wirtschaftlichen Kalkül – oftmals eine wesentlich politische, „völkerverbindende“ Funktion erfüllen.

Dass dabei mitunter (wie etwa im Sport) verschiedene Akteure vordergründig gegenei-nander antreten, darf nicht über die eigentliche Motivation derartiger Begegnungen hinwegtäuschen, die darin besteht, ein gemeinsames Spiel zu spielen, eine gemeinsame Gegenwart zu stiften und auszukosten (sofern es sich nicht um instrumentalisierte Spie-le im obigen Sinn handelt – eine Gefahr, die das professionelSpie-le, d.h. vorwiegend Spie- leis-tungsorientierte Spiel in besonderer Weise betrifft).

Hans Georg Gadamer spricht der Kunst in diesem Zusammenhang eine „alle Klassen und alle Bildungsvoraussetzungen überspielende Möglichkeit der Aussage und der Kommunikationsstiftung“53 zu, die er mit der Erfahrung des „Festes“ und der damit einhergehenden „erfüllten Zeit“ in Verbindung bringt.

„Wenn etwas mit aller Erfahrung des Festes verknüpft ist, dann ist es dies, daß es jede Iso-lierung des einen gegenüber dem anderen verweigert. Das Fest ist Gemeinsamkeit und ist die Darstellung der Gemeinsamkeit selbst in ihrer vollendeten Form. Fest ist immer für al-le.“54

53 Gadamer, Die Aktualität des Schönen, 67.

54 Gadamer, Die Aktualität des Schönen, 52. Der junge Nietzsche beschreibt in seiner Tragödienschrift einen ähnlichen Zustand: „Jetzt [Unter dem Zauber des Dionysischen] ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder ‚freche Mode‘ zwischen den Menschen festgesetzt haben.“ (Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA). Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Berlin, New York: de Gruyter/dtv 21999, Bd. 1, 29.) Vgl. dazu das veränderte Gemeinschafts-bewusstsein in den gehobenen Stimmungen, Kap. 3.3.3.3.1.

2.2. R

ESÜMEE

Meine Absicht im zweiten Teil dieser Arbeit war es, jene Spur des Spielerischen weiter zu verfolgen, auf die wir bereits zuvor im Zuge einer Charakterisierung der ästhetischen Erfahrung gestoßen sind. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich das Ästhetische oftmals in spielerischer Weise, ja gleichsam als Spiel ereignet bzw. artikuliert, wurde die These aufgestellt, das Spiel in seinen unterschiedlichen Ausprägungen erweise sich umgekehrt als besonders günstiger Nährboden für das Aufkommen von ästhetischen Erfahrungen. Um also nicht nur die Struktur der ästhetischen Erfahrung, sondern auch diejenigen realen Bedingungen aufzuzeigen, die das Machen solcher Erfahrungen be-sonders begünstigen, galt es nunmehr, das Phänomen des Spiels selbst zum Gegenstand der Untersuchung zu machen.

Angesichts der Vielfalt real existierender Spielformen wurde dabei das Hauptaugen-merk auf jenes Spiel gelegt, das in besonderer Weise mit dem Ästhetischen korreliert:

das Spiel der Kunst. Zwar kommt jedem Spiel grundsätzlich ein ästhetischer Charakter zu – und die oben angeführten Merkmale versuchen trotz einer Orientierung an der Kunst dieser Allgemeinheit auch möglichst Rechnung zu tragen. Jedoch unterscheidet sich das Spiel der Kunst von anderen Spielen in seinem Bezug zum Ästhetischen in zweierlei Hinsicht: dem Ausmaß und der Intention nach.

Anhand der Differenzierungen von Martin Seel lässt sich überzeugend darstellen, inwie-fern das artistische Erscheinen der Kunst nicht nur ein bloßes und/oder atmosphärisches Erscheinen, sondern darüber hinaus auch verschiedene reflexiv-interpretative Kompo-nenten mit umfasst und damit eine Sonderstellung innerhalb des weiten (Spiel-)Feldes des Ästhetischen einnimmt.55

55 Vgl. Kap. 1.3.3.

Der Intention nach ist das Spiel der Kunst von Anfang an daraufhin angelegt, ästhetisch (im Sinne welcher ästhetischen Theorie auch immer) in-terpretiert und erfahren zu werden. Das liegt nicht nur an der besonderen Beschaffenheit ihrer Spiel-Objekte, das verdankt sich zu einem großen Teil auch einem real existieren-den gesellschaftlichen Rahmen, der für die Kunst eigene Räume und Zeiten schafft und dadurch die Unterscheidung und das Verhalten gegenüber Kunst und Nicht-Kunst we-sentlich beeinflusst. Was weiter oben in Bezug auf das Verhältnis von ästhetischer

Er-fahrung und künstlerisch-ästhetischer ErEr-fahrung gesagt wurde, lässt sich analog auch auf das Verhältnis Spiel und Spiel der Kunst übertragen: Während seine ästhetische Dimension bei dem Einen jederzeit auch zur Geltung kommen kann, ist sie für das An-dere konstitutiv.

Während Kinder ohnedies ein weitgehend spielerisches Grundverhältnis zum Leben haben, bleiben vielen Erwachsenen oft nur mehr diese eigenen Räume und Zeiten der Kunst, in denen sie (mit-)spielen dürfen, ja sogar (mit-)spielen sollen, in denen sie auch (mit-)spielen können, ohne dabei „ihr Gesicht zu verlieren“. Kunst zeichnet sich also nicht zuletzt dadurch vor anderen Spielen aus, dass sie problemlos ein Leben lang (öf-fentlich) gespielt werden kann.

Das Spiel (der Kunst) stellte sich uns als ein Handeln dar, das innerhalb eines raum-zeitlich begrenzten und durch Spielregeln strukturierten Rahmens dennoch offen und frei bleibt, insofern es weder in seinem Ursprung noch in seinem Ziel wesentlich über sich selbst hinausweist, sich weder kausal noch final von etwas Anderem (restlos) her-leiten und in seinen Verläufen berechnen lässt.56

56 Diese (relative) Eigenständigkeit und Unberechenbarkeit gilt grundsätzlich auch von nicht-spielerischen Objekten, Aktivitäten und Ereignissen. Der wesentliche Unterschied besteht wiederum darin, dass sie in wissenschaftlichen bzw. alltäglich-pragmatischen Zusammenhängen meist negativ/als Einschränkung gewertet wird, während sie im Spiel bejaht und als lustvolle Bereicherung erfahren wer-den kann. Vgl. Kap. 1.1.4. bzw. 3.3.6.1.

Es verfolgt primär keine äußerlichen Interessen und schafft somit eine spezifische Aufmerksamkeit und ein spezifisches Be-wusstsein für das momentane Geschehen und die eigenen Handlungsvollzüge, so wie sie sich an-ihnen-selbst und von-ihnen-selbst-her zeigen. Das Spiel ist erst eigentlich im konkreten Gespieltwerden, zu dem es alle in seinem Wirkungskreis Anwesenden einlädt und auffordert. Dieser Aufforderung folgend, werden die Spielenden gleichermaßen bewegt, wie sie (sich) selbst bewegen, was phänomenologisch einem Gefühl von Leich-tigkeit, einem Fehlen von Angestrengtheit trotz oftmals beträchtlicher „Leistung“ ent-spricht. Dabei entschwinden sie keineswegs in eine losgelöste, subjektiv-illusionäre Welt, sondern erfahren vielmehr ihre persönliche Lebenswelt auf eine andere, durchaus

„ernste“ Art und Weise, mit neuen Möglichkeiten der Wahrnehmung, der Interpretation

und des Verhaltens, die oftmals nachhaltig und über die Dauer des Spiels hinaus berei-chernd und verbindend bleiben.

Die Frage nach der Struktur und den realen Bedingungen von ästhetischer Erfahrung wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit im Hinblick auf ihre mögliche therapeutische Relevanz gestellt. Der hier vorgeschlagene Zusammenhang zwischen ästhetischer Erfah-rung und Spiel hat sich somit nicht zuletzt an der Möglichkeit einer therapeutischen Interpretation des Spiels zu bewähren, wie sie weiter oben an einigen Stellen bereits angeklungen ist. Ein prominentes Beispiel einer solchen Interpretation liefert der Psy-choanalytiker Donald W. Winnicott, in dessen Abhandlung Vom Spiel zur Kreativität es etwa heißt:

„Psychotherapie geschieht dort, wo zwei Bereiche des Spielens sich überschneiden: der des Patienten und der des Therapeuten. Psychotherapie hat mit zwei Menschen zu tun, die mit-einander spielen. Hieraus folgt, daß die Arbeit des Therapeuten dort, wo Spiel nicht mög-lich ist, darauf ausgerichtet ist, den Patienten aus einem Zustand, in dem er nicht spielen kann, in einen Zustand zu bringen, in dem er zu spielen imstande ist.“57

Winnicott weist außerdem darauf hin, dass es „eine recht begrenzte Sichtweite [wäre], anzunehmen, daß Psychoanalyse der einzige Weg ist, um kindliches58 Spiel therapeu-tisch nutzbar zu machen. Man sollte sich immer wieder daran erinnern, daß Spielen an sich schon Therapie ist.“ Somit „hilft uns diese Beobachtung zu verstehen, wie es mög-lich ist, daß umfassende Psychotherapie auch ohne Deutung durchgeführt werden kann“59

57 Winnicott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität. Übers. von Michael Ermann. Stuttgart: Klett-Cotta 21979 (= Konzepte der Humanwissenschaften), 49.

bzw. „daß der entscheidende Augenblick der ist, in dem das Kind in

Verwunde-58 „Was ich hier über das Spielen bei Kindern sage, trifft eigentlich genauso für Erwachsene zu, nur las-sen diese Dinge sich viel schwerer beschreiben, wenn das Material des Patienten sich hauptsächlich in verbaler Kommunikation äußert. Ich bin der Meinung, daß wir uns darauf einstellen müssen, daß Spielen in der Analyse von Erwachsenen genauso Aussage ist wie in unserer Arbeit mit Kindern. Es manifestiert sich beispielsweise in der Wortwahl, in der Stimmführung und ganz sicher in der Stimmung.“ (Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, 51.)

59 Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, 62, meine Hervorhebung, L.H.

rung gerät. Nicht der Augenblick, in dem ich eine kluge Deutung gebe, ist der entschei-dende.“60

An das spielerische „in Verwunderung geraten“ als dem „entscheidende[n] Augenblick“

einer Therapie knüpft auch jenes „Staunen“ an, als welches sich die ursprüngliche Er-fahrung des Schönen ereignet.61 Das Verständnis dieses Zusammenhangs soll im Fol-genden erweitert und vertieft werden durch den Versuch, das Schöne in seiner ganzen Tragweite – über das bisher Gewonnene Ästhetisch-Spielerische hinaus – zur Geltung zu bringen.

60 „Vorzeitige Deutungen des Materials stellen eine Belehrung dar und führen zur Anpassung. Als Folge von Deutungen, die außerhalb des Überschneidungsbereiches des gemeinsamen Spiels von Patient und Analytiker gegeben werden, entsteht Widerstand. Deutungen sind einfach nutzlos oder wirken verunsi-chernd, wenn der Patient die Fähigkeit zu spielen nicht hat. Kommt es aber zum gemeinsamen Spielen, so können Deutungen, die den üblichen psychoanalytischen Prinzipien entsprechen, die therapeutische Ar-beit voranbringen. Dieses Spielen muß spontan sein, nicht angepaßt oder gefügig, wenn die Psychothera-pie gelingen soll.“ (Winnicott, Vom SPsychothera-piel zur Kreativität, 63.)

61 Vgl. insbesondere Kap. 3.3.5.2.3.