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3. Die Erfahrung des Schönen

3.3. Ontologische Fragestellung nach dem Schön-Sein des Schönen

3.3.1. Strukturmomente von Erfahrung

Es wurde bereits zu Beginn des ersten Kapitels auf den Unterschied zwischen (ästheti-scher) Erfahrung und (ästheti(ästheti-scher) Wahrnehmung hingewiesen: Nicht jede Wahrneh-mung bzw. jedes Erlebnis ist bereits eine Erfahrung – umgekehrt beinhaltet eine Erfah-rung immer auch ein Wahrnehmungs- und Erlebnismoment. Martin Seel spricht in die-sem Zusammenhang von dem „Ereignischarakter“ einer Erfahrung. Ereignisse machen sich als „ein Aufstand der Gegenwart gegen die übrige Zeit“, als „Unterbrechungen des Kontinuums der biografischen und historischen Zeit […] bemerkbar, indem sie zugleich das Bemerken verändern.“82

80 Pöltner, Philosophische Ästhetik, 219.

81 „Wenn nach dem Sein eines Läufers gefragt wird, wird nicht nach einem Läufer höherer Ordnung Aus-schau gehalten, sondern nach seinem Lauf gefragt. Der aber läuft nicht, sondern eben der Läufer. Der Lauf ist die Art und Weise, wie der Läufer als der, der er ist, zum Vorschein kommt.“ (Pöltner, Philoso-phische Ästhetik, 221.)

82 Seel, „Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung“, 59.

Günther Pöltner differenziert fünf Strukturmomente von Erfahrung und weist damit in eine ähnliche Richtung.83 Erfahrung lässt sich nicht unmittelbar willentlich herbeifüh-ren, planen oder vermeiden - sie betrifft und überkommt uns (Widerfahrnis). Damit ein-her geht wiederum jener „Vorrang der Sache“ (Entbergung von ihm selbst ein-her), der im Zuge der neuzeitlichen Subjektmetaphysik zunehmend dem Vorrang eines souverän setzenden und verfügenden Subjekts gewichen ist.84

„Nicht wir bestimmen den Inhalt der Erfahrung, sondern das Erfahrene bestimmt uns. Es bestimmt uns, indem es sich neu, anders zeigt. Das Sich-Zeigen geht vom Erfahrenen aus.

[…] Sie [die Sache, L.H.] zeigt sich freilich nur in unserem Erfahrungshorizont. Insofern ist das in ihm wirksame Vorverständnis mitbestimmend dafür, wie und als was etwas für uns zum Vorschein kommt. Aber das Erfahrene zeigt sich dabei so, daß es den Erfahrungshori-zont verwandelt und durchkreuzt. […] Es geschieht etwas mit unserem Weltbezug und un-serer Art, die Dinge zu sehen.“85

Erfahrung ist untrennbar an einen jeweiligen Menschen geknüpft, der diese Erfahrung

„macht“, oder besser: der diese Erfahrung ist – denn in und als meine Erfahrung voll-ziehe ich mich selbst (Jemeinigkeit). Andere Menschen können meine Erfahrung allen-falls verstehend nachvollziehen, nicht aber selber erfahren. Dass eine Erfahrung je mei-ne ist, bedeutet freilich nicht, dass sie „bloß“ subjektiv und somit solange für die Er-schließung von Welt ohne Relevanz bleibt, bis von ihrer Jemeinigkeit genügend

83 Vgl. Pöltner, Philosophische Ästhetik, 221ff.

84 Besonders plakativ kommt diese Verschiebung in Kants Kritik der reinen Vernunft als sogenannte

„kopernikanische Wende“ zum Ausdruck: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wo-durch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir anneh-men, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten […]. Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des K o p e r n i k u s bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewe-gungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, ver-suchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.“ (Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, Bd. III (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 55), B XVI, meine Kursivsetzung, L.H.)

85 Pöltner, Philosophische Ästhetik, 222.

hiert und das Subjekt der Erfahrung beliebig austauschbar – d.h. die Erfahrung zum Experiment umgewandelt wird. Gerade jenes „Wissen“, das für den Menschen von exis-tenzieller Bedeutung ist, kann nur in Form der jemeinigen Erfahrung angeeignet und verstanden, und nicht einfach von anderen übernommen und gelernt (bzw. gelehrt) wer-den.

Dass jeder seine Erfahrungen selber machen muss, bedeutet aber nicht, dass dabei jeder etwas grundsätzlich anderes erfährt. „Was sich zu erfahren gibt, ist etwas Gemeinsames, etwas, was uns gemeinsam angeht – was nicht heißen muß, in gleicher Weise angeht.

(Wäre es anders, gäbe es keine Möglichkeit der Kommunikation. […])“86 Eine Erfah-rung kann nur machen, wer sich selber ernst nimmt in dem Sinn, dass er seine Jemeinigkeit nicht zu einer allgemeinen und austauschbaren Subjektivität ausdünnt und auf diese Weise einem bestimmten Wissensideal opfert, das nur das Reproduzier- und Objektivierbare (an-)erkennt, das sich auf etwas anderes als es selbst zurückführen lässt.

Eine Erfahrung gibt (etwas) zu denken (Notwendigkeit der Deutung) und unterscheidet sich in dieser Hinsicht vom bloßen Erlebnis, sofern es darin in erster Linie um den un-mittelbaren (sinnlichen) Genuss des Sich-Selbst-Erlebens bei einer Sache und nicht um die Erfahrung dieser Sache selbst geht.

„Was uns trifft und in der Erfahrung überkommt, verlangt Besinnung, Deutung, begriffliche Aufschließung.87 Es verlangt, freigegeben und ins Offene gebracht zu werden, so daß es möglichst unverkürzt zum Vorschein kommen kann. Das Phänomen ist darauf angewiesen, in sein Sich-Zeigen freigegeben zu werden. […] In Abwandlung einer Formulierung Kants kann gesagt werden: Erfahrung ohne Erkenntnis ist blind, Erkenntnis ohne Erfahrung leer.“88

86 Pöltner, Philosophische Ästhetik, 224.

87 „Damit ist keine Auflösung des Erfahrungsinhalts in einen Begriffsinhalt gemeint. Etwas begreifen ist nicht identisch mit begrifflich auflösen. Man kann etwas genau dann begriffen haben, wenn man dessen Unauflöslichkeit in den Begriff erfaßt hat (‚Jetzt habe ich begriffen, wie es um die Sache steht‘).“

(Pöltner, Philosophische Ästhetik, 225.)

88 Pöltner, Philosophische Ästhetik, 225.