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4. DIE RELEVANTEN BERUFS- UND BRANCHENKULTUREN

4.1. Wissenschaft und Ethnologie/anthropology

4.1.1. Wissenschaftliche Berufskultur

Am Anfang dieses Abschnittes ist zu erörtern, ob es einen Beruf Wissenschaftler und so etwas wie eine gemeinsame Kultur aller Wissenschaftler geben kann. Wie unter Wissenschaftlern zu erwarten, ist auch diese Frage strittig und nicht absolut im Sinne einer mathematischen Gewißheit zu beantworten. Snow (1965) ist einer

derjenigen, die bereits Ende der Fünfziger von unterschiedlichen Kulturen mit un-überbrückbar erscheinenden Unterschieden zwischen Disziplinen ausgingen. Litera-ture steht für Snow stellvertretend für "the arts" im weitesten Sinne und Science für das gesamte Feld der Naturwissenschaften. Die Veröffentlichung eines 1959 an der Universität von Cambridge gehaltenen Vortrages löste große Aufmerksamkeit aus, vor allem weil Snow den Terminus "Kultur" für zwei unterschiedliche Welten, Geistes- und Naturwissenschaften, innerhalb einer Gruppe, der der Akademiker, ausmachte, die er mit "comparable in intelligence, identical in race, not grossly diffe-rent in social origin, earning about the same incomes" beschrieb, die aber nicht mehr in der Lage waren, miteinander zu kommunizieren und "who in intellectual, moral and psychological climate had so little in common that instead of going from Bur-lington House ... to Chelsea, one might have crossed an ocean" (Snow 1965: 2).

Schaeper (1995) sieht, sich auf Light (1974) berufend, ebenfalls keine allgemeine

"academic profession", da sich ihrer Ansicht nach Wissenschaftler an ihren jeweili-gen Disziplinen orientieren; sie beschäftigt sich daher mit Unterschieden zwischen

"Fachkulturen", beleuchtet diese allerdings anhand "zentrale[r] Aspekte der Arbeits-situation von Lehrenden an Hochschulen" (1995: 128), sieht also gemeinsame Merk-male, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, worauf ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch näher eingehen werde.

Zunächst einmal geht es um die Frage, was denn überhaupt 'richtige Wissen-schaft' ist47

"Die faktische Dominanz des von den Naturwissenschaften ... eingenommenen Erkenntnisideals ist bekannt und wird eher bestätigt als aufgehoben durch den defensiven Ton, mit dem die geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer (jeweils in großen Teilen) ihre Studierenden auf die Berechtigung des herme-neutisch-(ideologie)kritischen Erkenntnisanspruchs zu verpflichten suchen"

(Huber 1991: 17) :

48

Die Suche nach der Antwort auf die Frage nach 'richtiger Wissenschaft' ist wei-terhin geprägt durch Unterschiede, die sich aus der Zugehörigkeit zu unterschiedli-chen Kulturregionen ergeben. Galtung (1985) unterscheidet für die Sozialwissen-schaften "sachsonische, teutonische, gallische und nipponische" Wissenschaftsstile und markiert unterschiedliche Wege der Erkenntnisgewinnung und Debatte. Als Aufgaben von Intellektuellen sieht Galtung Beschreibung und Erklärung, Debatte unter Kollegen und die Analyse bestehender Paradigmen, oder, kürzer ausgedrückt, Intellektuelle "verarbeiten ... Eindrücke zu Ausdrücken - wir geben ihnen sprachliche Fassung, mündlich oder schriftlich" (Galtung 1985: 152).

.

Eine 'epistomologische Schwierigkeit' entsteht bei der Behandlung dieser Frage:

nicht nur der Autor, sondern alle Personen mit universitärer Ausbildung haben kultu-relle Artefakte des Wissenschaftsbetriebes angenommen, woraus die Problematik einer ausreichenden Distanz zum Thema entsteht. Wenn, wie oben beispielhaft auf-geführt, Wissenschaftler meinen, es gäbe keine gemeinsame Kultur aller wissen-schaftlich Tätigen, so mag dies zum Teil daran liegen, daß eben nie der Schritt aus dem eigenen Zirkel heraus gemacht wurde und daher Abgrenzungsmerkmale zu anderen Teilbereichen innerhalb des Wissenschaftsbereichs stärker ins Auge fallen als die Gemeinsamkeiten, die sie mit anderen Wissenschaftlern in Abgrenzung zu anderen Berufen

"Aufgrund der Logik der Konkurrenz, die sie [Intellektuelle] zu Gegnern macht, und die ... in ihren ausgeprägtesten Formen zur Folge hat, daß jeder Produzent seine ärgsten Konkurrenten zugleich zu seinen besten Kunden hat, zählen

teilen. Ähnlich urteilt Pierre Bourdieu:

47 Zumindest gibt es Organisationen, in denen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aller Richtungen gemeinsam vertreten sind, z.B. die 145 000 Mitglieder starke "American Association for the Advancement of Science", kurz AAAS, mit ihrem Journal "Science". Ähnliches wurde am 15.März 1997 in Straßburg für Europa gegründet: "Euroscience". Diese Organisation "soll offen sein, unabhängig von Staaten oder Unternehmen und multidisziplinär: eine Plattform für Natur- und Geisteswissenschaftler, Sozial- und Nichtwissenschaftler [sic], etwa Lehrer oder Journalisten"

und will nicht nur eine Lobby der Wissenschaft sein, sondern auch Fragen wie "How can scientists avoid to become Fachidioten?" beantworten helfen. (DIE ZEIT, 13/1997, S. 36)

48 S. dazu auch Schnädelbach (1988:35), der die Geschichte der Geisteswissenschaften als eine der "Selbstverteidigung" gegen Versuche, sie abzuschaffen, bezeichnet. Andere sehen in gegen-wärtig geäußerter und als "postmoderne Angriffe" empfundener Kritik an der traditionellen Wis-senschaft den Beginn eines Rückfalls in "vor-aufklärerische" Zeiten von willkürlicher Herrschaft (Holton 1993, Gross u. Levitt 1994, s. dazu Lederman 1996)

samerweise die Intellektuellen zweifellos zu den Gruppen, die am wenigsten imstande sind, der gemeinsamen Interessen, die sie verbinden, gewahr zu wer-den" (Bourdieu 1991: 62).

Da es aber kaum Veröffentlichungen von Nicht-Wissenschaftlern, also 'neutralen Personen', die zur Wissenschaft (als Beruf) den gleichen Abstand haben wie zu an-deren Berufen, zu diesem Themenbereich gibt, sind die hierzu gefundenen Werke fast ausschließlich von innen heraus geschrieben und eine entsprechende

'Betriebsblindheit' ist bei ihrer Lektüre zu berücksichtigen.

Im Handbook-Büro hatten alle dort tätigen Personen, mit Ausnahme der Verwal-tungsmitarbeiterin, eine universitäre Ausbildung mit einem Abschluß als (mit einem Bachelor of Art als Ausnahme) Magister (Master of Arts) oder Doktor (PhD), d.h.

(fast) alle hatten sich spätestens in ihrer Abschlußarbeit mit einer wissenschaftlichen Art des Arbeitens beschäftigen müssen. Von den mit einer Zugehörigkeit (affiliation) genannten Autoren der ersten neun "Handbooks of ..." waren 74% an einer Univer-sität und 14% an einem Museum beschäftigt, hinzu kamen einige, die an staatlichen oder privaten Forschungseinrichtungen tätig waren, so daß von ca. 90% der Autoren behauptet werden kann, daß sie einen wissenschaftlichen Beruf ausübten.

Da die Wissenschaften von den Universitäten dominiert werden und nicht nur in Deutschland das höchste Ziel der akademischen Laufbahn ein Lehrstuhl mit über-wiegend forschender Tätigkeit ist (Steinheimer 1985: 76), gehe ich bei der Beschrei-bung der kulturellen Merkmale der Wissenschaft zunächst von den Universitäten aus. Es gibt Arbeiten, die sich mit Kultur(en) der Wissenschaft(en) beschäftigen, also allen Wissenschaftlern gemeinsame kulturelle Merkmale49

Max Weber (1994 [1919]) spricht ausdrücklich von "Wissenschaft als Beruf", so der Titel eines 1918 gehaltenen und 1919 veröffentlichten Vortrages, in dem er eini-ge dieser eini-gemeinsamen Merkmale, verbunden mit einem Plädoyer für sein Ver-ständnis von Wissenschaft, beschrieb. Neben Max Weber haben sich unter ande-rem Austin (1992), der einige dieser Merkmale in einem Aufsatz in der "Encyclope-dia of Higher Education" zusammengefaßt hat, Bourdieu (1991), Herrmann (1989) sowie Liebau und Huber (1985) mit der Thematik intensiv auseinander gesetzt.

herausstellen, auch wenn dabei einzelne Fach- und/oder Fakultätskulturen im Vordergrund stehen, die als Hauptidentifikationspunkte in der akademischen Welt gesehen werden (Becher 1984, 1987, 1989; Clark 1987; Huber 1991; Schaeper 1995).

49 Siehe dazu auch Bungarten (1981a,b), der die Wissenschaften ebenfalls als einen eigenen Be-rufszweig, wie ich es verstehe, auffaßt. Dieser unterscheidet sich von anderen Berufen u.a. auf Grund einer gemeinsamen Wissenschaftssprache, die

"über den wichtigen Bereich der Fachterminologien hinaus spezifische syntaktische und seman-tische Strukturen, Argumentations- und Sprechaktformen, textstrukturale und stilisseman-tische- stilistische-statistische Merkmale aufweis[t] und besondere kommunikative und soziale Funktionen" erfüllt (Bungarten 1981a: 12).

4.1.1.1. Neue Erkenntnisse

Die neue Erkenntnis, ihr Erlangen (Austin 1992, Dubinskas 1992: 201; Gregory 1983: 371) und, an der (Hoch-) Schule, ihre Vermittlung ist eines der an oberster Stelle genannten Merkmale der Wissenschaft:

"A primary value is the notion that the purpose of higher education and the work of the professor is to pursue, discover, create, produce, disseminate, and

transmit truth, knowledge and understanding. Research, writing, publication, and teaching are all vehicles for enacting this value". (Austin 1992: 1620).

Was die Stellung zur Praxis

"Producing scientifc knowledge is the primary and most valued goal of the scientists, and this professional worldview conversely devalues purely economic aims". (Dubinskas 1992: 201).

anbelangt, gibt es, besonders an den Universitäten, egal ob "weiche" oder "harte" Wissenschaften, deutliche Abneigungen gegen die anwendende Ausrichtung der jeweiligen Wissenschaften und eventuelle finanzielle Motive der Forschung:

Höchste Priorität haben neue Entdeckungen, das Vordringen in bisher Unbe-kanntes und nicht das 'herumdoktern' an bereits bestehenden Erkenntnissen, wie es z.B. Ingenieure betreiben.

"In development [work] there's too much pressure to get something done, and sometimes the only way to solve a problem is to think up a new idea. But an engineer's point of view is you don't want to do that. You want to use well-known techniques that are sure to work. Only if there's a problem that no one knows how to solve you have to invent a new thing. There's a risk to invention.

Scientists are the other way. They don't want to do what's been done before because then they won't be able to publish a paper. So, even if there's a per-fectly good way to do it, you'd better think of another way". (Gregory 1983: 372).

Das Hervorbringen neuer Erkenntnisse steht unter dem Primat eines "commit-ment to serving society", dem Dienst für das gesellschaftliche Wohl und dem Fort-schritt des Wissens. Es geht vorrangig um ideelle Werte und wissenschaftliche Ziele, nicht so sehr um persönliche Bereicherung (wie beim Kaufmann) (Merton 1968:

275).

Auch für Eckart Liebau und Ludwig Huber (1985: 326) ist das Ziel wissenschaft-licher Praxis "die Erweiterung des gesellschaftlichen Wissens wie auch der in-dividuellen Einsicht und Erfahrung", wobei "Erkenntnisziele im Mittelpunkt ste-hen und sozialer und ökonomischer Reichtum nur als Mittel zum Zweck dienen". Die beiden Autoren beschreiben in ihrem Aufsatz unterschiedliche "Fachkulturen" und wenden dabei die Theorie von Bourdieu50

50 Zur den Grundlagen der Theorie Bourdieus siehe Bourdieu (1979) und (1982).

zur Rolle des Habitus in der Prägung von Kulturen an, die auch das Verhältnis von Individuen zum, von Bourdieu so

genann-ten, kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapital51 beinhaltet. Wissenschaft wird, gesamtgesellschaftlich gesehen, "zur kulturellen Sphäre des sozialen Raumes ge-rechnet", "weil seine wichtigste Aufgabe in der Entwicklung von Erkenntnislei-stungen und damit Beiträgen zum kulturellen Reichtum der Gesellschaft besteht"

(Liebau & Huber 1985: 327).

4.1.1.2. Objektivität und Integrität in der Forschung

Nach Weber (1994: 44) sollte die Wissenschaft nur der Wahrheitsfindung

Wissenschaftler sollten in Lehrveranstaltungen keine Wertungen einbringen, sondern lediglich beschreiben, d.h. sich einer "voraussetzungslosen" Wissenschaft verpflichtet fühlen. Dabei ist es Weber klar, daß auch die rational-intellektuell be-stimmte Wissenschaft nicht "voraussetzungslos" ist, denn vorausgesetzt werden:

dienen und nicht werten dürfen, da sie keine Antwort geben kann auf die von Weber zi-tierten Fragen Leo Tolstois "Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?" (Weber 1994: 44).

- "die Geltung der Regeln der Logik und Methodik: dieser allgemeinen Grundlagen unserer Orientierung in der Welt"

- "daß das, was bei wissenschaftlicher Arbeit herauskommt, w i c h t i g im Sinn von 'wissenswert' sei. Und da stecken nun offenbar alle unsere Probleme darin.

Denn diese Voraussetzung ist nicht wieder ihrerseits mit den Mitteln der Wis-senschaft beweisbar. Sie läßt sich nur auf ihren letzten Sinn d e u t e n , den man dann ablehnen oder annehmen muß, je nach der eigenen letzten Stellung-nahme zum Leben" (Weber 1994: 44/45).

Er führt hier seinen Streit mit Gustav Schmoller und die Diskussion um die Wertfrei-heit der Wissenschaften weiter, die er unter anderem 1917 unter dem Titel "Der Sinn der 'Wertfreiheit' in der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften"

veröffentlicht hatte (Weber 1951: 475-526). Die Entscheidung darüber, was erforscht werden soll, ist nur durch das subjektive Werturteil des Forschers möglich, aber innerhalb

51 Die Ressourcen innerhalb der Wissenschaft werden von den Autoren (Liebau & Huber 1985: 325), Bourdieu folgend, unterschieden nach:

des Bereiches ist eine werturteilsfreie Vorgehensweise, die Feststellung kausaler Beziehungen, erforderlich (Hauck 1984: 86).

- kulturellen Ressourcen:

"Fachtraditionen, die wissenschaftlichen 'Schulen' und die spezifischen Erfahrungen"

- ökonomischen Ressourcen:

"die räumliche und sachliche Ausstattung, die verfügbaren Mittel und die Ausstattung mit Per-sonalstellen"

- sozialen Ressourcen:

"die wissenschaftliche Reputation der Lehrenden, das Ansehen und die Bedeutung des Instituts oder Seminars in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit"

Akademiker sind (sollten) intellektueller Ehrlichkeit, Integrität, und Fairness ver-pflichtet (sein) und nur auf Fakten beruhende Urteile

Ein solches Verständnis von objektiver Wissenschaft liegt bei vielen Wissen-schaftlern vor; aber die Grundlagendiskussion über Objektivität wurde weiter geführt (z.B. der Positivismus-Streit der Soziologie) bis in die Gegenwart hinein (Rockwell &

Rockwell 1985). An dieser 'Objektivität' und 'Rationalität des akademischen Han-delns' gibt es jedoch viel Kritik, da nicht nur "the academic world, like the rest of the world, is only partially governed by reason" (Bailey 1992), sondern auch die Mög-lichkeit der Objektivität in Frage gestellt wird

abgeben, was bereits dem Nachwuchs vom Beginn des Studiums an beigebracht wird. Da Gedanken und Ideen in der akademischen Welt das wertvollste Gut darstellen, ist es die Aufgabe von Lehrkräften "to deal with knowledge honestly, always shunning plagiarism and falsi-fication of data and findings" (Austin 1992: 1620).

52

Herrmann (1989) kritisiert die Einstellung einer vermeintlichen Loslösung der (Geistes-) Wissenschaftler von der sie umgebenden realen Welt, denn jede Person ist ein Kind seiner Zeit und "eine Abspaltung eines angeblich eigenen Reiches der Kultur, mit eigener Wahrheit und eigener Geschichte jenseits der realen Geschichte"

ist eine Illusion (Herrmann 1989: 61). Dies gilt ebenso für die vermeintliche Loslö-sung der Theorie von der gesellschaftlichen Praxis, auf der ein Großteil des Selbst-verständnisses der Wissenschaft beruht, ausgehend von der Freiheit der Wissen-schaft, d.h. ihrer Freiheit von (politischer) Macht und Beeinflussung. Aber eine

"relative Freiheit von gesellschaftlichem Druck ... bedeutet nicht die Freiheit von ge-sellschaftlicher Verflechtung" (Herrmann 1989: 62), d.h. Wissenschaft ist immer Auseinandersetzung mit den herrschenden Gedanken in einer Gesellschaft. Her-mann zitiert Berthold Brecht, der über die Kunst gesagt hat, sie sei "autonom, aber nicht autark" und sieht diese Aussage als genauso gültig für die Wissenschaft.

.

Auch wenn die "Forderung nach wissenschaftlicher Genauigkeit, Redlichkeit und sogenannter 'Objektivität' der wissenschaftlichen Methodologie im einzel-nen" davon unberührt bleibt, geht es in der Wissenschaft "nicht nur um Erkenntnis, sondern stets auch um Macht und Machtausübung" (Herrmann 1989: 62/63; s.a. Fi-scher 1983: 29). Dies erfährt "jedermann und jede Frau spätestens dann, wenn sie in ihrem Fach gegen den Konsens herrschender Methoden und Meinungen verstos-sen: dann gibt es Druck, persönlichen, finanziellen und institutionellen, gibt es ab-gebrochene, geknickte oder zumindestens erschwerte Karrieren". D.h. in seinen Au-gen ist die Vorstellung einer 'objektiven Wissenschaft', losgelöst von der Kultur und

52 1997 veröffentlichten die beiden schwedischen Wissenschaftlerinnen Christine Wenners und Agnes Wold in der Zeitschrift nature (Bd, 387, Nr. 6631, S. 327ff) die Ergebnisse ihrer nach wis-senschaftlichen Kriterien (statistisch ermittelt) durchgeführten Studie zum Thema "peer review":

bei der "peer review" über die Aufnahme von Post-Docs in den medizinischen Forschungsrat des Landes wurden Frauen "durch die Bank schlechter bewertet als Männer mit gleicher

wis-senschaftlicher Produktivität ... Außerdem wurden Antragssteller, die berufliche Verbindungen zu den Gutachtern hatten, signifikant besser beurteilt" (DIE ZEIT, 22/1997: 31).

dem gesellschaftlichen Umfeld, zu der sie gehört, eine Illusion, wenn auch innerhalb der wissenschaftlichen Kultur bestimmte Anforderungen an ihre Arbeit und Vorge-hensweise bestehen.

In Bezug auf das Handbook-Projekt spielt dies eine Rolle, insofern eine neutrale, objektive Darstellung der einzelnen Sachverhalte gefordert wird. Die dabei durch das

"Werturteil" von Dr. Thomas vorgebene Auswahl an Themen und der

Darstel-lungsweisen trifft nicht auf Akzeptanz bei allen Autoren und Rezensenten, da sie als eine typische "WASP"53

Öffentlich gelten als Bewertungsmaßstäbe wissenschaftlicher Arbeit "Qualität und Quantität der Beiträge ... als einzig legitimer Bezugspunkt von Ungleichheit"

zwischen Wissenschaftlern (Liebau & Huber 1985: 326). Was Leistung und Qualität sind, "soll sich, nach dem innerhalb des Wissenschaftssystems herrschenden Selbstverständnis, im rationalen Diskurs der Forschergemeinschaft, also an inhaltli-chen Kriterien, entscheiden" (Liebau & Huber 1985: 326).

-Sichtweise gesehen wird.

Diese Kriterien liegen aber nicht "in der Sache selbst", sondern werden durch Menschen gesetzt, vornehmlich andere Wissenschaftler. Die Wissenschaftspraxis kennt ausgeprägte Hierarchien, die den Einfluß einer Person auf die Bestimmung dieser Kriterien bestimmt54

"Die 'Macht' liegt dort, wo der Reichtum sich konzentriert: vor allem also bei je-nen, die eine hohe formale Position mit einer hohen Stellung im wissenschaftli-chen Diskurs verbinden konnten" (Liebau & Huber 1985: 327).

. Neben (vorauszusetzender) Sachkompetenz braucht ei-ne Person zusätzlich Ressourcen aus dem ökonomischen und sozialen Bereich, um Anerkennung seiner Leistung und eine angesehene Stellung innerhalb (und außer-halb) der Wissenschaften zu erreichen:

Nur ausgewählte Personen kommen in solche Positionen, die

"die Erhaltung und Weiterentwicklung der Disziplin garantierenden Kriterien bei der Beurteilung wissenschaftlicher Leistung zur Geltung bringen"; dafür sorgen

"die mehrfach gestuften Selektions- und Zuordnungsprozesse, durch die wis-senschaftliche Karrieren strukturiert werden" (Liebau & Huber 1985: 327).

53 "White-Anglo-Saxon-Protestant"

54 s. dazu Paul Parin (1985: 146-150) über ein Beispiel in der Medizin:

In den frühen vierziger Jahren unseres Jahrhunderts gelang es dem Ordinarius für Innere Medizin an der Universität in Zürich, Professor Löffler, nachzuweisen, "daß die Hepathitis catarrhalis (die bekannte gemeine Gelbsucht, die bis dahin ein idiopathisches Leiden, d.h. eine Krankheit, die aus sich heraus entsteht, deren Ursache man also nicht kennt) durch übertragbare Viren hervor-gerufen wird, daß es sich um eine ansteckende Krankheit handelt". Dies war aber bereits seit Mitte des 19.Jahrhunderts bekannt; allerdings wurde das epidemische Auftreten "in der Abteilung [eines Spitals] eines damals sehr berühmten Professors in Paris" entdeckt, der sich zutiefst belei-digt fühlte durch die Behauptung, "daß in seinem musterhaften Spital 'Miasmen', denen man da-mals die Schuld für ansteckende Krankheiten zuschrieb, vorkommen sollte. Er schrieb sogleich eine wissenschaftliche Abhandlung, in der messerscharf nachgewiesen war, daß dem keines-wegs so sein könne." Die Abhandlung wurde veröffentlicht, durch andere Arbeiten bestätigt und bald war die Entdeckung, daß Gelbsucht ansteckend ist, vergessen.

Auch für Trice (1993: 131/132) ist der lange Aufstieg des akademischen Nach-wuchses bis zur Akzeptanz als Hochschullehrer ein steiniger Pfad, da er auf seinem langen Weg eine Reihe von Torturen zu bewältigen habe, angefangen von Prüfun-gen während des Studiums und dessen Abschluß noch vor der Zulassung zur Pro-motion, Schreiben der Dissertation und, nach der ProPro-motion, einige Jahre For-schungs-, Veröffentlichungs- und Lehrerfahrung, bevor nach fünf oder sechs Jahren akademischer Karriere "the senior members of their academic department decide whether their teaching and research merits giving them tenure - the final ordeal in becoming incorporated into the occupation".

4.1.1.3. Akademische Freiheit und "Gelehrtenzank"

Eine Bewertung der wissenschaftlichen Leistung sollte nur durch andere Wis-senschaftler erfolgen:

"Weil über wissenschaftliche Leistung nicht außerwissenschaftlich entschieden werden kann, begründet der kulturell zentrierte, an Erkenntnis orientierte Lei-stungsbegriff auch die Forderung nach Autonomie der Forschung" (Liebau &

Huber 1985: 326).

Diese akademische Freiheit und Autonomie (in) der Forschung, unterstützt durch die Sicherheit des Arbeitsplatzes (zumindest für einige Positionen in öffentlich fi-nanzierten Institutionen), ist ein weiterer wichtiger Faktor der akademischen Arbeit.

Eine Bewertung der Leistung und z.T. die Verteilung von Forschungsmitteln (Heckscher 1994: 35/36) wird durch Kollegen vorgenommen, da Laien nicht in der Lage sind, den Stellenwert einer Arbeit zu beurteilen (Austin 1992: 1620).

Ob eine Arbeit als gut oder schlecht angesehen wird, erweist sich, idealerweise, in der Diskussion unter Angehörigen des Faches. Der wissenschaftliche Disput, der

"Gelehrtenzank", ist, z.B. in den Geisteswissenschaften, fast die einzige Möglichkeit, sich 'der Wahrheit' zu nähern und daher von grundlegender Bedeutung für den wis-senschaftlichen Fortschritt:

Geisteswissenschaftler sind "auf Streit, auf Gelehrtenzank hin angelegt. Das muß so sein. Ich habe ... Kollegen erlebt, die daran gestorben sind, weil sie sich mit anderen gestritten haben, ob frühneuhochdeutsche Endungen mit -nis oder -nisse in den Computer eingegeben werden" (Frühwald 1996).

Die Suche nach dem schwächsten Punkt einer wissenschaftlichen Arbeit sei al-lerdings ein typisch mitteleuropäisches Verhalten, konstatiert Galtung (1985) in der bereits erwähnten Abhandlung über unterschiedliche wissenschaftliche Kulturen:

während "teutonische" und "gallische" Wissenschaftler grundsätzlich nach einem solchen Schwachpunkt einer wissenschaftlichen Arbeit suchten, um darauf "herum-zuhacken" und damit die ganze Arbeit abzuwerten versuchten, sei das Verhalten amerikanischer Kollegen umgekehrt: es gehe vorrangig darum, das Positive einer Arbeit zu finden, das kleine "Goldkörnchen" im großen Haufen Sand, welches dann

solange poliert würde, bis es sich deutlich von allem anderen abheben würde.

Insgesamt seien sie also kollegialer, so Galtungs Eindruck. Dem widerspricht aller-dings Frost (1989) in der Abhandlung über seinen wissenschaftlichen Werdegang:

"In the conventional adversarial and hypercritical mode of critique, at the end of a debate the presenters spend most of their energy after the debate on recon-structing their damaged egos rather than on contemplating ways to improve their research ideas. The norms and training for a scholarly, academic career seem implicitly and explicitly to be guiding people toward individuality, competition, emotional detachment from the subject matter, and an approach to understan-ding that emphasizes criticism, external evaluation and validation, and the relent-less search for fatal flaws in the work they read and produce. Little encoura-gement is given for the kind of appreciative, collaborative enquiry I report in this article" (Frost 1989:417).

In der Frage der Freiheit der Forschung und ihrer Beurteilung grenzt Bourdieu Wissenschaftle/Intellektuelle scharf von Außenstehenden ab. Er sieht als Haupt-differenzierungskriterium zwischen Intellektuellen und anderen Berufen die Auto-nomie in der Arbeit; er oder sie muß einer "intellektuell autonomen, d.h. von religiö-sen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) an-gehören und deren besonderen Gesetze respektieren" (Bourdieu 1991: 42) und für diese Unabhängigkeit unablässig eintreten, z.B. "indem dafür gekämpft wird, den Kulturproduzenten55

Dieser autonome Arbeitsstil, möglichst rein der Forschung gewidmet, ist in der Regel nur an öffentlichen Forschungsstätten, z.B. der Universität, möglich. Außer-halb werden immer die Interessen des Arbeit- oder Geldgebers mit den eben ge-nannten Forderungen nach einer freien Wissenschaft in Konflikt treten:

die wissenschaftlichen und sozialen Bedingungen der Autono-mie (zunächst die von Publikation und Bewertung der Produkte der intellektuellen Tätigkeit) zu sichern" (Bourdieu 1991: 49). Wissenschaftler und Künstler dürften sich keinesfalls darauf einlassen, sich von anderen als ihresgleichen bewerten zu lassen, um nicht in einen Sog des "weltlichen" und damit des interessengebundenen

Arbeitens, und sei es nur der Anerkennung durch Journalisten und damit einem Wir-ken in der Öffentlichkeit, zu geraten. Er sieht Intellektuelle (auch in Form einer über ein Computernetzwerk verbundenen Gemeinschaft) nicht als Sachwalter von Parti-kularismen sondern als "Sachwalter des Universellen" (Husserl: "Funktionäre der Menschheit"), die "durch einen kollektiven Eid an ein Modell des universellen Intel-lektuellen gebunden [sind], das kollektive Verpflichtungen impliziert" (Bourdieu 1991:

64).

55 Wissenschaft insgesamt gehört zum kulturellen Kapital einer Gesellschaft; einzelne Disziplinen stehen in einem unterschiedlichen Verhältnis "zu den drei Sphären dieses Raumes, die den drei Reichtumsarten entsprechen: Kultur, Politik, Ökonomie - Geist, Macht, Geld" (Liebau & Huber 1985: 327).