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William und Robert Chambers als Leser

3.1 William (1800–1883) und Robert Chambers (1802–1872) als Leserals Leser

3.1.3 William und Robert Chambers als Leser

Im Rückblick resümiert Robert: „The themes first presented to the young mind certainly sink into it the deepest“331 und meinte damit nicht nur die Encyclopædia Britannica und seine Lektüre klassischer Autoren. Ebenso wie James Chambers waren auch William und Robert daran interessiert, zu verstehen, wie Dinge funktionierten. Während sich die eigenen Forschungen und Lernbemühungen des Vaters auf das Betrachten des Himmels und der Globen zu beschränken schienen, entwickelten William und Robert reges Interesse an chemischen, phy-sikalischen und elektrischen Experimenten.332 Doch waren es vor allem Bücher, die sie beeinflussten, wie Robert bekräftigt:

329 „Obituary [Robert Chambers]“, The Publishers’ Circular, 1. April 1871, 204. „[T] he one of literature“ ist die 1844 in zwei Bänden von Robert Chambers herausgegebene Cyclopædia of English Literature.

330 Siehe Fragment, 96, zitiert in Chambers, Memoir of Robert Chambers, 63; siehe auch Chambers, Story of a Long and Busy Life, 12. In seinem Tagebuch ist Robert in der zeitlichen Abfolge der Lektüre nicht eindeutig. Er berichtete, im Alter von neun Jahren sei ihm das Buch in die Hände gefallen und er habe es in den nächsten drei Jahren gelesen. Hinweise auf die Lektüre (Artikel zu „Aerostation“ und „Astronomy“) decken sich mit denen im Fragment (Diary, 9).

331 Fragment, 96, zitiert in Chambers, Memoir of Robert Chambers, 63.

332 Siehe Chambers, Memoir of Robert Chambers, 105–109; Diary, 19–20; Fragment, 20.

My earliest aspirations were towards literature. Books, not playthings, filled my hands in childhood. At twelve, I was deep not only in poetry and fiction, but in histories and encyclopædias. By day and night I read, and duties required by parents were grudged if they separated me from study.333

Robert war ein gieriger Vielleser, der Büchern und Lesen Vorrang vor sozialen Kontakten zu Gleichaltrigen, familiären Pflichten und angemessenen Ruhezei-ten gab. Elterliche Restriktionen dieser ‚Lesewut‘ wurden weder von William noch von Robert beschrieben, im Gegenteil scheinen sie diese als Mittel gese-hen zu haben, ihren Sohn auf eine Universitätslaufbahn vorzubereiten. Dennoch erwarteten sie von ihm die Erfüllung familiärer Pflichten, zu denen möglicher-weise die Beaufsichtigung des Geschäfts der Mutter in Musselburgh gehörte.334

Robert verehrte auch die Autoren der Jugend als Teil der persönlichen Lebens- und Lesegeschichte. Für ihn waren dies insbesondere Henry Fielding, Laurence Sterne und Tobias Smollett: „[They] first gave me views of social life beyond my natal village sphere, and who, by their powers of entertainment, lent such a charm to years during which material enjoyments were few“.335 Diese Bewunde-rung bewog Robert, gegen Ende seines Lebens eine Biographie als literarisches Monument für Smollett zu schreiben: „[T] o make an effort to set his life in a more respectful light before the world than it had previously enjoyed“.336

Doch es sind nicht nur die Lesestoffe und ihre Urheber, denen Robert sich zu Dank verpflichtet fühlte, sondern auch die beiden Personen, die wohl im Besonderen für seinen intellektuellen Reifeprozess verantwortlich waren. Einer-seits war dies James Sloan, der strenge Lehrer des Gymnasiums, von dem Robert Latein lernte und über den er möglicherweise Zugang zu einer breiteren Lese-welt erhielt. Andererseits war dies Alexander Elder, der für die Versorgung mit Literatur verantwortlich war und die Encyclopædia Britannica nach Peebles holte, die nicht nur den Wissensdurst Roberts stillte, sondern auch seinen Drang nach immer mehr Wissen nährte.337

333 Chambers, „General Preface [Select Writings]“, iii.

334 Siehe Diary, 18.

335 Fragment, 97, zitiert in Chambers, Memoir of Robert Chambers, 64.

336 Fragment, 96, zitiert in Chambers, Memoir of Robert Chambers, 64. Auffällig ist Roberts Motivation und Rechtfertigung, Smolletts Biographie zu schreiben, nämlich, dass versucht werden sollte, das Leben des Schriftstellers im richtigen Licht darzustel-len, das Image also positiv zu beeinflussen und Fehler vorangegangener Biographen zu verbessern. Auch William Chambers rechtfertigte sich in seinem Vorwort der Memoir, die Lebensgeschichte des Bruders korrekt nachzuzeichnen ([v] ; vgl. Kap. 2.4.4). Die letzte Publikation des bereits kranken Roberts, Life of Smollet, erschien 1868.

337 Siehe Fragment, 97; Chambers, Memoir of Robert Chambers, 64.

Auch William schreibt Roberts jugendlichen Leseerfahrungen, aber auch den noch folgenden Anfangsjahren in Edinburgh, eine große Bedeutung zu:

By these varied means [of acquainting himself with tales and stories] in his early youth, in the midst of difficulties, Robert laid the foundation of much that afterwards assumed shape in literature; although at the time he was only satisfying a natural craving for what was traditionally curious … The acquisition of knowledge was with him the highest of earthly enjoyments.338

William stellt jedoch nicht nur den unmittelbaren Nutzen der Lektüre als Wis-senserweiterung und Ablenkung von den familiären Umständen heraus, er betont auch das Fundament der späteren Karriere als Autor, das in diesen Jahren gelegt wurde.

Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder stellte sich William Chambers als pragmatischen Leser dar, dem nicht das Schöngeistige an der Lektüre gefiel, son-dern der Nutzen, den diese Lektüre bringen konnte. Ihm ging es nicht in erster Linie um Lesegenuss, um des Lesens Willen oder um die mögliche literarische Weiterverarbeitung der Lektüre. Vielmehr war es eine theoretische Annäherung an das Lesen, wie es etwa im Fall des Spracherwerbes deutlich wird und er im Selbststudium die französische Sprache und ihre Grammatik erlernte.

Trotz identischer Sozialisationsbedingungen sind William und Robert Chambers unterschiedlichen Lesertypen zuzuordnen. Der introvertierte, streb-same Robert fühlte sich durch seine Behinderung ausgeschlossen und machte sich diese Isolation zunutze: Er las zu seiner persönlichen Erbauung und Hori-zonterweiterung. William war extrovertiert und an handwerklichen und mecha-nischen Abläufen interessiert. Das isolierte, intensive Bücherstudium lag ihm nicht, dennoch war er ein begeisterter und interessierter Leser, der verstand, dass Bildung nicht nur in der Schule vermittelt wurde, sondern durch eigenen Antrieb vervollkommnet werden konnte und musste. Während bei dem jünge-ren Bruder das persönliche Lesevergnügen und die intellektuelle Leistung im Vordergrund standen, so wollte William Stoffe lesen, die ihm insbesondere eine praktische Aussicht auf das Leben boten. Dieser Pragmatismus ist auch daran zu sehen, dass es William auf verschiedenen Wegen gelang, Lesestoff für sich und die Familie zu beschaffen.

Das Leseklima in der Chambers-Familie war auf Bildung und Kultur aus-gerichtet. Für die Eltern James und Jean Chambers gehörte Bildung zu ihrem sozialen Status und ihrer Mittelschichtsidentität. Den Verlust der Zugehörigkeit zu dieser Schicht aufgrund ihres ökonomischen Wohlstandes versuchten sie, 338 Chambers, Memoir of Robert Chambers, 124.

durch den Erhalt und die Erweiterung ihres kulturellen Kapitals zu kompen-sieren. James Chambers fungierte als zu imitierendes Vorbild, das selbst las und bemüht war, Informationen und Wissen aus verschiedenen Quellen zu beziehen.

Darüber hinaus vermittelte er seinen Kindern ein von Wissbegierde und Neu-gier getriebenes Bild des Autodidakten. Jean Chambers trat als Leserin nicht in Erscheinung, dennoch war sie an der Lesesozialisation ihrer Kinder beteiligt.

Sie bereitete das positive und anerkennende Umfeld und regte ihre Söhne zu methodischem Lernen an.