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Das autobiographische Quellenmaterial Pauls

3.2 Charles Kegan Paul (1828–1902) als Leser

3.2.1 Das autobiographische Quellenmaterial Pauls

Als am 17. April 1883 die Räumlichkeiten des Verlages Kegan Paul, Trench and Co. in Paternoster Square einem Brand zum Opfer fielen,1 wurden nicht nur die gesamten Lagerbestände vernichtet, sondern auch die persönlichen Aufzeich-nungen von C. Kegan Paul. Das Feuer breitete sich rasch über die angrenzen-den Gebäude aus und der Verlag stand bereits in Flammen, als die Feuerwehr eintraf.2 Neben unzähligen Manuskripten wurden auch wertvolle Entwürfe und zahlreiche Holzstöcke vernichtet. In den erhaltenen Publication Account Books des Verlagsarchivs finden sich wiederholt Hinweise auf den durch den Brand erlittenen Verlust: „Destroyed by Fire 124 [copies] – No Sales“. Darunter, doppelt

1 Die Gefahr von Feuer war im neunzehnten Jahrhundert allgegenwärtig. Das Publishers’

Circular berichtete regelmäßig über die durch Brände erlittenen Schäden und Verluste (16. Juni 1852, 210 [Clowes]; 15. November 1861, 527 [Longman]; 1. Juli 1865, 335 [Sotheby]; 1. Mai 1883, 372 [Paternoster Square]; 1. September 1884, 882 [Hodgon];

„Publishers of To-day, Messrs. Kegan Paul, Trench, Trübner & Co., Limited [Inter-view George Redway]“, 10. Oktober 1891, 424). Zwischen 1833 und 1848 wüteten 644 Brände in London, die 428 Häuser leicht und mehr als 200 stark beschädigten oder vollständig zerstörten (siehe Peter Cunningham, Hand-Book of London: Past and Present [London, 1850], xxxvi). Auch Joseph Dents Buchbinderei wurde 1887/8 durch ein Feuer vernichtet (vgl. Kap. 4.3.1).

2 Siehe „Literary Gossip [Fire at Messrs. Kegan Paul, Trench and Co.]“, The Athenæum, 21. April 1883, 506–507.

unterstrichen:  „Burnt out of Print“.3 Dieses Schicksal ereilten etwa Moltke’s Letters, der Roman Gentle and Simple von Pauls Ehefrau Agnes und auch die von Paul herausgegebenen Briefe Mary Wollstonecrafts.4 Zu den persönlichen Verlusten zählten Aufzeichnungen Agnes Pauls einer Reise nach Sizilien und ein Manuskript zu Dante, das Paul von dem befreundeten Archäologen und Kunst-historiker John Henry Middleton für eine mögliche Ausgabe der Göttlichen Komödie geliehen hatte.5 Der Schaden durch das Feuer hätte größer sein kön-nen: Einige Manuskripte befanden sich beim Drucker und konnten kurze Zeit später wie geplant veröffentlicht werden. Ebenso wurden die Kassenbücher des Verlages gerettet, die jedoch durch Löschwasserschäden und spätere schlechte Lagerung teils unlesbar wurden. Nach dem Brand bezogen die Partner vorüber-gehend Quartier in der White Hart Street und begannen mit dem Wiederaufbau des Verlages.

Das Verlagsarchiv ist in großen Teilen bis heute erhalten geblieben, es befin-det sich derzeit im University College London und ist Teil des Routledge Archivs.

1973 wurden die 81 Bände und 1200 losen Blätter von Brian Maidment auf 27 Mikrofilmrollen herausgegeben.6 Für die vorliegende Studie wurden insbeson-dere Aufzeichnungen einzelner Publikationen sowie Verträge mit Autoren ver-wendet. Autobiographische Aufzeichnungen oder Korrespondenzen sind im Verlagsarchiv nicht enthalten.

3.2.1.1 Memories (1899) und Confessio viatoris (1891)

Paul hatte in den vorangegangenen Jahren von Zeit zu Zeit Erinnerungen in der Hoffnung niedergeschrieben, seine fünf Kinder würden sich für die väterlichen Erinnerungen interessieren.7 Die eigentliche Motivation das eigene Leben nie-derzuschreiben, lag darin, eine Familienchronik zu erstellen und den eigenen

3 „Folkestone Ritual Case. Dr. Archibald John Stephens“ in „H. S. King (Kegan Paul) Publication Account Books, 1877–1883“ in The Archives of Kegan Paul, Trench, Trüb-ner, and Henry S. King, 1853–1912, hg. v. Brian Maidment, 81 Bde auf 27 Mikrofilm-rollen (Hertfordshire, 1973), II, 215, Rolle 5.

4 Siehe „Publication Account Books, 1877–1883“, II, 212, 219, 228, 240, Rolle 5.

5 Siehe C. Kegan Paul, Memories (London, 1899), 357; vgl. Leslie Howsam, Kegan Paul, A Victorian Imprint: Publishers, Books and Cultural History (London, 1998), 115.

6 Siehe Special Collections, University College London Archives „Routledge“<http://

archives.ucl.ac.uk/>; Brian Maidment, „General Bibliographical Note“ in The Archives of Kegan Paul, Rolle 1; Gillian Furlong, The Archives of Routledge & Kegan Paul Ltd.

(1853–1973): Publishers. A Handlist, London, 1978.

7 Siehe Paul, Memories, 1.

Nachkommen im Alter nützlich zu sein, wenn sie selbst mit Abstand auf ihr Leben und das ihrer Vorfahren zurückblicken (wollen) würden. Doch zielte die Autobiographie Pauls auch darauf ab, die eigene Konversion vom anglika-nischen zum römisch-katholischen Glauben zu beschreiben. Durch das ver-nichtende Feuer scheint er sich bewusst geworden zu sein, dass das Leben und Aufzeichnungen über selbiges vergänglich waren, und er entschied sich für eine strukturierte Annäherung an die eigene Person, mit der Intention diese zu ver-öffentlichen. Es ist nicht unerheblich, dass diese Entscheidung auch von dem in Paul erwachten Leseinteresse an den Erinnerungen einiger Zeitgenossen begüns-tigt wurde: „[I] am inclined to think that the careful memories of the somewhat varied life I have lived may prove in the same manner entertaining to others“.8 Paul führt nicht weiter aus, welche Erzählungen genau ihn interessierten. Ledig-lich nebenbei werden die Lebensgeschichten von Jean-Jacques Rousseau, nicht einmal ein Zeitgenosse Pauls, Philip Henry Gosse, Vater von Pauls Freund und Reisebegleiter Edmund Gosse, die Autobiographie des guten Freundes Ernest Renan sowie die Memoiren Charles Kingsleys, Bruder von Pauls Kommilito-nen Henry Kingsley, genannt.9 Die veränderten Lebensumstände, aber auch die gewachsene Leseerfahrung bezüglich autobiographischen Materials haben sicherlich zu einem kritischeren und selbstreflektierteren, aber möglicherweise auch einem neutraleren autobiographischen Ergebnis geführt, als die ursprüng-lich begonnenen und vernichteten Aufzeichnungen für die Familie. In jedem Fall ist anzunehmen, dass die letztlich veröffentlichten Memories andere Lebens-erinnerungen mit einem klareren Entwurf des Selbstbildes geworden sind.

Es scheint überraschend, dass Pauls Intention, seine Autobiographie zu schreiben (und zu veröffentlichen), von einem reinen Familienbezug über die Erinnerungen von Zeitgenossen letztlich darauf hinauslief, dass Paul mit sei-nen Ausführungen den Leser unterhalten wollte. Doch lag der Schwerpunkt hier nicht nur auf dem Anspruch, die Erinnerungen mögen sich für andere als unterhaltsam herausstellen, sondern umfasste ebenfalls sorgfältige Erin-nerungen an ein abwechslungsreiches Leben. Paul wollte auch als Vorbild für den Leser dienen und folgte dem horazischen Motto „prodesse et delectare“.10

8 Paul, Memories, 1–2.

9 Siehe Paul, Memories, 2 (Rousseau); 24, 296–297, 308 (Gosse); 304 (Renan); 158 (Kingsley).

10 Vgl. hier die ebenfalls auf das horazische Motto verweisende Ankündigung im Publish-ers’ Circular: „[Benjamin Franklin’s Autobiography] is a handsome volume, and a sample of interesting biography, replete with utility and entertainment“ („Literary News [Benjamin Franklin’s Autobiography]“, 1. August 1849, 249, meine Hervorhebung).

Der Unterhaltungswert von Autobiographien in Verbindung mit der Nützlich-keit der Aufzeichnungen wurde auch für die Autobiographien von William und Robert Chambers und Joseph Dent hervorgehoben.11

Die Verbindung von Nutzen und Unterhaltung wurde bereits im achtzehnten Jahrhundert als Funktion der Literatur angesehen. Während jedoch das horazi-sche Vorbild von Nutzen oder Unterhaltung sprach – „Aut prodesse uolunt aut delectare poetae“12 –, so wurde dies in Nutzen und Unterhaltung geändert, um

„die Mischung von Verstandes- und Moraldimension bei gleichzeitigem Praxis-bezug“ der Literatur hervorzuheben.13 Dieses didaktische Literaturverständnis hatte noch bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts Gültigkeit, als mit der Idee des l’art pour l’art ein strikter Fokus auf die ästhetische Qualität von Lite-ratur gelegt wurde.14 Auch die Biographik orientierte sich an diesen Vorgaben.

Neben den Zielen, Gott zu preisen, an die Toten zu erinnern und als Beispiel für die Lebenden zu dienen, hob Robert Willmott den Unterhaltungswert für den Leser hervor, durch den der Nutzen der Biographie attraktiver gestaltet wurde.15 Er hielt die Biographie für die ideale Form des Sittengemäldes, da sie auf einer emotionalen, persönlichen und wahrhaftigen Ebene Einblicke in den beschrie-benen Charakter aber auch dessen Lebensumfeld bot und kommentierte. Er schränkte jedoch ein, dass die Autobiographie, so fesselnd sie im Einzelfall auch sein möge, mit Vorsicht betrachtet werden müsse, da der Autobiograph zur Idea-lisierung seiner Person neige. Dennoch hielt Willmott auch die Autobiographie für unterhaltend, da sie, wie kaum ein anderes Genre, Raum für Kleinigkeiten und Klatsch biete.16 Doch sollte nicht vergessen werden, dass der Einzelne als Experte seiner Lebensgeschichte gilt und kein Biograph die Biographie eines anderen so wahrhaftig nachzeichnen kann.17 Unterhaltung durch das Lesen der

11 Vgl. Kap. 3.1.1.4, 3.3.1.3; auch Smiles, The Autobiography of Samuel Smiles, 2–3.

12 Horaz, Ars Poetica, 333.

13 Christoph Henke, „Common Sense und Englishness in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts“, Kulturgeschichte der englischen Literatur: Von der Renaissance bis zur Gegenwart, hg. v. Vera Nünning (Tübingen, 2005), 113–124, 119.

14 Siehe Nünning, „Das Neunzehnte Jahrhundert“, 144; Jens Zwernemann, „Das Bild des Menschen in modernistischer Literatur und Malerei“, Kulturgeschichte der englischen Literatur: Von der Renaissance bis zur Gegenwart, hg. v. Vera Nünning (Tübingen, 2005), 225–236, 226.

15 Siehe Robert Aris Willmott, Pleasures, Objects and Advantages of Literature: A Dis-course, 3. Aufl. (London, 1854), 231.

16 Siehe Willmott, Pleasures, Objects and Advantages of Literature, 231–238, 244–251.

17 Siehe bspw. Philip Gilbert Hamerton, An Autobiography, 1834–1858, and A Memoir by his Wife, 1858–1894 (Boston, 1896), 1.

Autobiographie bedeutete folglich die sinnvolle Beschäftigung mit einer ange-nehmen Lektüre, die den Geist anregte, nützlich war, aber nicht überforderte.18

Entsprechend bettet Paul kulturgeschichtlich relevante Aspekte des Lebens der viktorianischen Mittelschicht in die Beschreibung seines eigenen Lebens ein und bietet einen gesellschaftlichen Kontext. Darüber hinaus ist zu beachten, dass er von sorgfältig ausgewählten und beschriebenen Erinnerungen spricht, die seine Intention unterstützten und ein von ihm gewolltes Selbstbild trans-portierten. Paul begründete seine Auswahl der persönlichen Erinnerungen mit dem Beispielcharakter der Autobiographie. Er gibt an, nur das aus seinem abwechslungsreichen Leben zu erzählen, was er für die Nachwelt für sinnvoll erachtete. Weiter nimmt er indirekt Bezug auf Benvenuto Cellinis Ansprüche an einen Autobiographen und rechtfertigt sein eigenes Schreiben: „[N] o one has any business to write if he have not something definite to say, which is, or at least appears, worth saying“.19 Paul sah sich selbst als jemanden, der etwas zu sagen hatte. Er begründete dies nicht nur mit seiner Lebensgeschichte, sondern auch damit, dass ihm neben der notwendigen Inspiration auch eine gute Bildung zur Seite stand. Und nicht zuletzt hatte er als Autor auch zu schreiben gelernt.20

Hier findet sich ein Unterschied zu zahlreichen anderen Autobiographen, die sich durch das Leben kämpfen mussten und für sich in Anspruch nahmen, dass jedes Leben es wert sei, um darüber zu berichten.21 Die Chambers-Brü-der hielten ihren Lebenslauf ebenso für nachahmenswert und wollten mit ihrer Lebensgeschichte Inspiration und Hilfestellung geben. Joseph Dent sah in seinen Memoirs die Möglichkeit, seinen Wegbegleitern, Unterstützern und auch seinen Lehrern für ihre Begleitung zu danken. Ebenso hielt er jedes Leben für interes-sant und erzählenswert.22 Die Unterschiede im Anspruch an die Autobiographie

18 Vgl. „entertainment, n.“, Oxford English Dictionary, Juni 2017 <http://www.oed.com/

view/Entry/62856>.

19 C. Kegan Paul, „The Production and Life of Books“ in Faith and Unfaith and Other Essays (London, 1891), 191–224, 191–192, 193. Paul hielt diesen Vortrag 1883 im (Royal) Albert Institute, Windsor und veröffentlichte ihn in Fortnightly Review, 33 (1883), 485–499, 485 und Anm. 1. Mit sechs weiteren Essays erschien er in leicht überarbeiteter und ergänzter Fassung in der Essaysammlung Faith and Unfaith. Zitate beziehen sich auf diese spätere, leicht erweiterte Ausgabe des Essays; Verweise auf die Veröffentlichung in der Fortnightly Review sind gesondert ausgewiesen. Vgl. Cellini, The Life of Benvenuto Cellini, 51; Kap. 2.4.3.

20 Vgl. Kap. 1.3, 4.2.5.1; Bhaskar, The Content Machine, 10–11.

21 Vgl. Kap. 2.4.3; Burnett, Vincent und Mayall, Hgg., The Autobiography of the Work-ing Class.

22 Vgl. Kap. 3.3.1.

waren sicherlich auch den sozialen Bedingungen der Autobiographen geschul-det. Während Paul in relativem Wohlstand aufwuchs, zur gebildeten Mittel-schicht gehörte und auch im späteren Leben keine signifikanten Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse erleben musste, waren die Chambers-Brüder und Dent diesen Schwierigkeiten ausgesetzt. Sie befanden sich mit ihren Auto-biographien folglich in einem Rechtfertigungsmodus, in dem sie sich dafür verteidigten, dass sie einerseits überhaupt eine Autobiographie schrieben und andererseits ihren schwierigen Lebenslauf offenlegten. Doch sind es gerade die-ses Offenlegen und der Anspruch, als Vorbild für andere zu gelten, die es auch aus eigenem Antrieb schaffen wollten, um so nicht nur finanzielle, sondern auch kulturelle Klassenschranken aufzubrechen, die den Beispielcharakter dieser Autobiographien unterstreichen.

Ein struktureller Unterschied der Autobiographie Pauls zu anderen Verleger-autobiographien ist die zeitliche Beschränkung sowie die inhaltliche Ausrich-tung. Paul nutzte die Struktur der Autobiographie für seine Erinnerungen, doch beschreibt er keine buchbezogenen Wendepunkte, sondern Veränderungen in seinem Leben als Christ. Die Autobiographie schließt mit der Entscheidung des ehemaligen anglikanischen Pfarrers Paul, zum katholischen Glauben zu konver-tieren. Das letzte Kapitel, „The End of Wandering“, endet mit den Worten: „One thing I know, that whereas I was blind, now I see“.23 Für den Konversionstopos der Erleuchtung nach langer Suche zitiert Paul die Heilung des Blinden aus dem Johannesevangelium (9:25) und zeigt sich, angesichts der schwierigen Wendun-gen seines Lebens und insbesondere eines Unfalls in den späteren Jahren, beru-higt im Schoß der katholischen Kirche aufgenommen.

Die Rückbezogenheit und Erinnerungen Pauls sind aber nicht nur darin begründet, dass durch das Feuer in dem Verleger ein Sinn für Vergänglich-keit geweckt wurde oder er durch das Aufschreiben seinen Glaubensweg ord-nen wollte. Paul war auch durch seiord-nen schweren Unfall aus seinem bisherigen Leben gerissen worden. Am 11. Oktober 1895 berichtete das Northern Echo: „Mr Charles Kegan Paul, publisher, author, and ex-cleric, was knocked down by a cab, and sustained such injury as necessitated his removal to St. Thomas’s Hos-pital“.24 Dieser Unfall, der Paul an den Rollstuhl fesselte, beeinflusste ihn ent-scheidend. In der Folge war er invalide25 und musste seine Tätigkeit als Verleger aufgeben. Wilfried Meynell beschrieb Pauls letzte Jahre als „racked by illness and

23 Paul, Memories, 364–377, 377.

24 „General News [Accident Charles Kegan Paul]“, Northern Echo, 11. Oktober 1895, 3.

25 Siehe „Mr. Kegan Paul“, The Athenæum, 26. Juli 1902, 125.

tantalized by Death’s coqueteries“.26 Dies war ein Zustand, den Paul nur durch Disziplin und Askese ertragen konnte. Den Unfall und die tätigkeitslose Zeit danach nutzte er für das Verfassen seiner Erinnerungen.27

Der Unfall bietet einen Rahmen für die zeitliche Einordnung des Schreibens der Autobiographie. Auch Colin Franklin führt diesen zeitlichen Ablauf in sei-nem Vorwort zu eisei-nem Nachdruck der Memories aus dem Jahre 1971 an: „This book was written in the last years, after a carriage accident had forced [Paul] to retire from activity“.28 Diese zeitliche Einordnung wird durch Hinweise in der Autobiographie bestätigt: Paul erinnert sich an gemeinsame Vorleseabende mit der Mutter, die er an eine Beschreibung seiner Leseerfahrung als ca. 12-Jähriger anschließt. In der Retrospektive, „even after the lapse of fifty-five years“, versetzt er sich zurück zu einem dieser Abende und bietet einen Zeitrahmen für die Ent-stehung: um 1895 im Alter von 67 Jahren.29 Den letzten Teil der Erinnerungen diktierte Paul während der Dreyfus-Affäre.30 Alfred Dreyfus wurde im Dezem-ber 1894 wegen Landesverrates zu lebenslanger Haft verurteilt, die Affäre fand erst im Juli 1906 mit der Aufhebung und der vollständigen Rehabilitation Drey-fus’ ein Ende. Die Memories erschienen 1899, dem Jahr, in dem sich Paul end-gültig aus dem Verlagsgeschäft zurückzog31 und fungierten so auch als Abschluss und Übergabe der Verantwortung an die nächste Generation.

Der Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz durch den Unfall Pauls folgte der Verlust der körperlichen Leistungsfähigkeit. Dies war ein Wendepunkt im Leben, an dem es notwendig war, über die Vergangenheit zu reflektieren und zu überle-gen, was nach dem eigenen Ableben übrig bliebe. Neben dem Beispielcharakter der Autobiographie für ein erfolgreiches und nachahmenswertes Leben begibt sich Paul auf die Ebene eines apologetischen Bescheidenheitstopos:

These pages will not pretend to tell everything. The morbid self-analysis of Rousseau needs all, and more than all, his genius to make it tolerable, and if it be pleasant reading

26 [Wilfried Meynell], „Charles Kegan Paul by One Who Knew Him“, The Academy, 26. Juli 1902, 114–116, 115.

27 Siehe „Mr. Kegan Paul“, The Athenæum, 125.

28 Colin Franklin, „Foreword“ in Charles Kegan Paul, Memories (1899; London, 1971), vii–x, x.

29 Paul, Memories, 27.

30 Siehe Paul, Memories, 356.

31 Siehe Furlong, The Archives of Routledge & Kegan Paul Ltd., 7. Paul erhielt für seine Autobiographie einen Vorschuss von £15 und wurde mit 10% an den Erlösen des Ver-kaufes beteiligt (siehe „Memorandum of an Agreement [with Paul for Memories, 31 Aug 1899]“ in „Kegan Paul Contracts, N-Y“, The Archives of Kegan Paul, Rolle 22).

under any circumstances, it is unprofitable. I will try to write without undue self-blame or self-praise.32

Paul lehnte Rousseaus Forderung nach einer schonungslosen Selbstbeobach-tung ab und weist darauf hin, dass seine Lebensbeschreibung eine sorgfältige Selektion darstellt. Er will nicht jedes Detail seiner Erfahrungen und Erlebnisse analysieren und versucht stattdessen, ein Gleichgewicht zwischen unterhalten-der und nutzbringenunterhalten-der Lektüre herzustellen, ohne in unangemessene Selbst-beschuldigungen oder Eigenlob zu verfallen.33 Paul äußert sich hier reflektiert über seine Rolle als Autobiograph. Er verwahrt sich davor, ungenau und damit unwahr zu berichten, oder sich selbst zu überhöhen. Er hoffte, das Gleichge-wicht zwischen literarischen Freiheiten (der Unterhaltung wegen) und autobio-graphischer Authentizität (des Beispielcharakters wegen) halten zu können. Paul war sich bewusst, dass es unmöglich ist, sich an alle Erlebnisse zu erinnern. Er gab zu, in einigen Fällen keine persönlichen Erinnerung zu haben („I have no personal recollections“) oder er verweist auf Erinnerungen aus zweiter Hand („my mother’s memory“), Erinnerungscluster („all my childish recollections are connected with [Writhlington]“) und Erinnerungsbruchstücke („I remember a snatch of a song“, „I do not remember any details“).34

Pauls Memories sind die Geschichte eines gescheiterten Klerikers, der auf der Suche nach dem richtigen Glauben war und seine Erinnerungen mit der Kon-version zum katholischen Glauben abschloss. Noch ehe er diese Erinnerungen begonnen hatte, verfasste er eine weitere autobiographische Schrift: Confessio viatoris, die Bekenntnisse eines Wanderers.35 Auf 66 Seiten fasst er seinen Glau-bensweg zusammen und versuchte, Gründe zu liefern, warum er zu zweifeln begann und es ihm nicht möglich erschien, in Diensten der Kirche zu stehen.

Ebenso versuchte er, Argumente zu finden, um den wiedererstarkten Glauben Ende der 1880er Jahre zu erklären, der schließlich zu seiner Konversion führte.

In weiten Teilen ist die Confessio viatoris mit den korrespondierenden Stellen in

32 Paul, Memories, 2; vgl. Kap. 2.4.3.

33 Auch die Versicherung, seinen Lesern Überdruss zu ersparen, gehört zu den Beschei-denheitsformeln von Autobiographen (vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 5. Aufl. [Bern, 1965], 95).

34 Paul, Memories, 8–9, 11, 12, 17, 23 und passim.

35 C. Kegan Paul, Confessio viatoris, London, 1891. Der Titel wurde in einer Auflage von 500 Exemplaren veröffentlicht und Paul mit Honorarzahlungen an dem Verkauf beteiligt (siehe „Memorandum of an Agreement [with Paul for Confessio viatoris, 30 Nov 1891]“ in „Kegan Paul Contracts, N-Y“, Rolle 22).

den Memories identisch. Doch bietet der kurze Bericht teilweise detailliertere Informationen, so dass diese Quelle unterstützend herangezogen werden kann.

3.2.1.2 Rezeption der Memories

Pauls Autobiographie wurde 1971 von Routledge and Kegan Paul mit dem Hin-weis auf den Unterhaltungswert und den Beispielcharakter der Erzählung erneut herausgegeben:

[Paul] was a publisher only at the end of an attractive intellectual life, and it would be hard to recall another book so filled with entertaining stories of country and parish life, school and nursery in the high Victorian years. It has the calm style of a civilized mind, and deserves its place among candidates of reissue.36

Der Unterhaltungswert bestand in erster Linie in den Darstellungen des Lebens im Viktorianischen England. Doch das Interesse des Verlagshauses, Pauls Auto-biographie neu aufzulegen, ist unter anderem in der Geschichte des Hauses Routledge zu sehen. George Routledge (1812–1888) begann 1836 seine Selbst-ständigkeit als Buchhändler und gab bald günstige, aber nicht autorisierte Nachdrucke amerikanischer Titel in der Railway Library heraus. Der Verlag spe-zialisierte sich auf kommerzielle Romane, Reiseliteratur und Sachbücher. 1902 stand er kurz vor der Insolvenz, konnte jedoch gerettet werden und machte in den Folgejahren durch einige aufsehenerregende Fusionen Schlagzeilen, dar-unter 1912 die Übernahme des Verlages Kegan Paul, Trench, Trübner and Co.

Ltd.37 Mit der Publikation von Pauls Autobiographie griff der Verlag auf die

Ltd.37 Mit der Publikation von Pauls Autobiographie griff der Verlag auf die