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Geschichte der Autobiographie

2.3 Leser im neunzehnten Jahrhundert

2.4.3 Geschichte der Autobiographie

Die Ursprünge der Form der Autobiographie gehen bis in die Antike zurück.270 Die berühmteste der antiken Autobiographien sind die Confessiones (um 400 n.  Chr.) von Augustinus (354–430), die mit der kontinuierlichen Darstellung eines Lebenszusammenhanges und der Reflexion auf das eigene Ich als gat-tungskonstituierend angesehen werden.271 Augustinus hielt den eigenen Weg zur Bekehrung und die folgende Entwicklung für die Nachwelt fest. Für lange Zeit waren die Confessiones Paradigma für die christliche Autobiographik, die den Lebensweg bis zur Bekehrung und religiösen Erkenntnis nachzeichnete.272

Die spirituellen Autobiographien des Mittelalters brachten die erste englische Autobiographie, die der Mystikerin Margery Kempe (ca. 1373–nach 1438), her-vor.273 Das Book of Margery Kempe entstand um 1430 und beschreibt Kempes

268 Köhler, „Zur Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses“, 66.

269 Siehe Köhler, „Zur Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses“, 83; zur Autobiographie als Rekonstruktion siehe Allington, „On the Use of Anecdotal Evi-dence“, 17–18.

270 Für eine Gesamtdarstellung siehe Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, 4 Bde, Leipzig, 1907–69; siehe auch Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 104–210; Holdenried, Autobiographie, 86–268. Zur Geschichte der Autobiographie in England siehe Shuma-ker, English Autobiography; A. O. J. Cockshut, The Art of Autobiography in 19th and 20th Century England, New Haven, 1984.

271 Siehe Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 112; Holdenried, Autobiographie, 89–93.

272 Siehe Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 113. Die Apologia pro vita sua (1864) des englischen Theologen John Henry Newman entstand in der antiken Tradition der Apologie (Heather Henderson, The Victorian Self: Autobiography and Biblical Narra-tive [Ithaca, 1989], 19–64; Jerry Harp, „Apologias“, Encyclopedia of Life Writing: Auto-biographical and Biographical Forms, hg. v. Margaretta Jolly, 2 Bde [London, 2001], I, 44–45). Vgl. Kap. 3.2.1.1.

273 Siehe Felicity Riddy, „Kempe, Margery (b. c.1373, d. in or after 1438)“, Oxford Dictio-nary of National Biography, Mai 2009 <http://dx.doi.org/10.1093/ref:odnb/15337>.

spirituelle Pilgerreise, die sie von England in das Heilige Land führte und sie von den ‚Sünden‘ der Vergangenheit reinigte.274 Darüber hinaus zeichnete sich die Autobiographik des Mittelalters durch eine eigentümliche Heterogenität aus.

Autobiographisches vermischte sich mit anderen Textformen und findet sich in hagiographischen Schriften ebenso wie in Chroniken. Ebenso finden sich in der mystischen Visionsliteratur autobiographische Impulse, die, wie Kempe, Gottes-erfahrungen und Bekehrungsmomente beschreiben.275

Die Renaissance bediente sich schließlich der antiken und mittelalterlichen Tradition, den Geschehnissen des eigenen Lebens, mit Gott und dem zu erwar-tenden jenseitigen Leben als Bezugspunkten, Rechnung zu tragen und ver-knüpfte sie mit einem neuen historisch-humanistischen Interesse: die eigenen Leistungen, das im Leben Erreichte und das eigene Dasein rückten in den Fokus der Betrachtung.276 Die vielleicht wichtigste der Autobiographien dieser Epoche ist die von Benvenuto Cellini (1500–1572), die er schlicht mit Vita (1558–1566) betitelte und in der er die künstlerische Selbsterschaffung des Autobiographen beispielhaft vor Augen führte.277 Cellini legte fest, welche Kriterien die Autobio-graphie seiner Meinung nach zu erfüllen habe:

ALL MEN of whatsoever quality they be, who have done anything of excellence, or which may properly resemble excellence, ought, if they are persons of truth and honesty, to describe their life with their own hand; but they ought not to attempt so fine an enter-prise till they have passed the age of forty.278

Eckpunkte der Kriterien der Autobiographie nach Cellini sind also, dass der Ver-fasser etwas zu sagen hat, sein Leben von Bedeutung war und sich von der Masse abhebt. Ebenso ist der Verfasser der Wahrheit verpflichtet und soll sich erst ab einem bestimmten Alter – nach Cellini ab 40 – in der Retrospektive mit seinem Leben befassen. Der Mensch und seine Taten stehen im Mittelpunkt. Ernsthafte

274 Siehe Ellen M. Ross, „Spiritual Experience and Women’s Autobiography: The Rheto-ric of Selfhood in ‚The Book of Margery Kempe,‘ “ Journal of the AmeRheto-rican Academy of Religion, 59.3 (1991), 527–546, 530–532; Cheryl Glenn, „Author, Audience, and Autobiography: Rhetorical Technique in the Book of Margery Kempe“, College English, 54.5 (1992), 540–553, 540–542, 552.

275 Siehe Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 118–132; Paul Lehmann, „Autobiographies of the Middle Ages“, Transactions of the Royal Historical Society, 5th ser., 3 (1953), 41–52, 42–47.

276 Siehe Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 137–139.

277 Siehe Holdenried, Autobiographie, 102–104.

278 Benvenuto Cellini, The Life of Benvenuto Cellini, übersetzt v. John Addington Symonds, 3. Aufl. (New York, 1942), 51.

Autobiographien der folgenden Jahrhunderte nehmen in der Regel im Rahmen eines Vorwortes oder einer Einführung nicht auf Cellini selbst aber auf dessen Vorgaben Bezug.279 Andere, wie etwa die Autoren Anthony Trollope und Samuel Smiles, invertieren die Notwendigkeit der Signifikanz des eigenen Lebens und wenden einen Bescheidenheitstopos an, mit dem sie sich als bedeutungslose Personen darstellen, die sich dennoch bemühen, eine wahre, wenngleich keine vollständige Geschichte des eigenen Lebens zu präsentieren.280

Wagner-Egelhaaf hält Girolamo Cardanos (1501–1576) De propria vita (1576) im Vergleich zu Cellini für die möglicherweise modernere Autobio-graphie, da sich Cardano nicht an der Chronologie der Ereignisse orientierte, sondern vielmehr der „Diversität der Welt“ thematisch Rechnung trug. Darüber hinaus überlegte er, „seinem Namen Ewigkeitswert zu verleihen“ und verdeut-lichte, dass „der Mensch Gestalter seines eigenen Lebens“ sei, nicht nur während das Leben gelebt wurde, sondern auch in der Verschriftlichung des Lebens und der Konstruktion eines bestimmten Selbstbildes.281

Eine persönlichere Form der Autobiographie entstand im Rahmen der Auf-klärung, die die Rolle des Individuums betonte und einem gefühlsbetonten Schreiben den Vorzug gab. Zusätzlich galt die Autobiographie als Mittel der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung, um sich von anderen zu unterschei-den. In Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Confessions (1770–1778) werden diese Kategorien besonders deutlich: Erlebnisse des Individuums werden nicht mehr als allgemein auf den Menschen übertragbar angesehen, vielmehr wird dem individuellen Charakter und der Einzigartigkeit des Einzelnen größere Bedeutung zugesprochen. Doch ging es nicht nur um die Selbstverherrlichung des eigenen (Er-)Lebens, sondern auch darum dieses (Er-)Leben selbstkritisch zu hinterfragen und die Wahrnehmung von außen mit der eigenen Innenwahr-nehmung zu konfrontieren. Für Rousseau wurde die Art und Weise, wie er seine Autobiographie verfasste, zum eigentlichen autobiographischen Akt und es wird deutlich, dass er für den Leser schrieb, der ihn richten durfte.282

Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Dichtung und Wahrheit (1811–

33) wurde schließlich zum Maßstab dieses neuen Konzeptes des Autobiogra-phischen: der Versuch einer ausgewogenen Lebensbilanz zwischen tatsächlich

279 Vgl. Kap. 3.1.1, 3.2.1, 3.3.1.

280 Siehe Anthony Trollope, An Autobiography (1883; London, 1999), 1–2; Smiles, The Autobiography of Samuel Smiles, 1–2.

281 Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 140–143.

282 Siehe Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 163–166. Vgl. Kap. 3.2.1.1.

Erreichtem und idealiter Erreichbaren, mit Blick auf die Möglichkeit sich in den Verlauf der Geschichte einzuordnen und explizit autobiographische Verfahrens-weisen, wie Rechtfertigung und Geschichtsbewusstsein, zu reflektieren. Darüber hinaus wird hier das Konzept von Bildung und Entwicklung eingeführt, das sich auch außerhalb des autobiographischen Schreibens im literarischen Diskurs der Zeit, nämlich im Bildungs- und Entwicklungsroman, wiederfindet.283

Mit der Entwicklung eines historischen Bewusstseins und einem immer stär-ker werdenden Individualitätsempfinden wurde auch das Beschreiben des Selbst im neunzehnten Jahrhundert immer wichtiger. Strukturell bewegte sich die Auto-biographie weg von einer kontinuierlichen Beschreibung des eigenen Lebens hin zu einem episodischen Erfassen besonderer Ereignisse und Momente, die im eigenen Leben eine besondere Spur hinterlassen hatten.284 Auch diente die Auto-biographie nicht mehr nur der (Selbst-)Bestätigung eigener Erfolge, vielmehr begann das Individuum, sich in der modernen Autobiographie mit dem Schei-tern der eigenen Identitätsbildung auseinanderzusetzen.285 Die Verbesserung der Bildung und die Verbreitung von günstigen Schriftstücken trugen schließlich nicht unerheblich dazu bei, dass Personen des öffentlichen Lebens ihr Leben niederschrieben. Nicht nur Politiker und Schriftsteller schrieben Autobiogra-phien,286 auch Personen, die mittelbarer im Licht der Öffentlichkeit standen, wie eben Verleger, aber auch zahlreiche Angehörige der Arbeiterschicht,287 fanden einen Markt für sich vor.

Das Konzept des Individuums ist eng mit der viktorianischen Gesellschaft und Kultur verwoben. Einerseits ging es darum, die Persönlichkeit des Einzel-nen anzuerkenEinzel-nen, andererseits den Nutzen des EinzelEinzel-nen für die Gesellschaft herauszustellen.288 Zu nennen sind die zunehmenden „business and mercan-tile autobiograph[ies]“,289 zum Beispiel die Autobiography of William Stout of 283 Siehe Purchase, Key Concepts in Victorian Literature, 169–171; Wagner-Egelhaaf,

Auto-biographie, 167–173.

284 Vgl. Allington, „On the Use of Anecdotal Evidence“, 26–27; Linda Peterson, Victorian Autobiography: The Tradition of Self-Interpretation (New Haven, 1986), 4.

285 Siehe Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 180, 187.

286 Vgl. Shumaker, English Autobiography, 26, 63–64.

287 Vgl. David Vincent, Bread, Knowledge and Freedom: A Study of Nineteenth-Century Working Class Autobiography, London, 1982; Burnett, Vincent und Mayall, Hgg., The Autobiography of the Working Class; Rose, The Intellectual Life of the British Working Classes; William Matthews, Hg., British Autobiographies: An Annotated Bibliography of British Autobiographies Published or Written before 1951, Hamden, 1968.

288 Siehe Purchase, Key Concepts in Victorian Literature, 81–85.

289 Shumaker, English Autobiography, 61.

Lancaster, Wholesale and Retail Grocer and Ironmonger (1743, gedruckt 1851), die Memoirs of the Forty-Five First Years of the Life of James Lackington, the Pre-sent Bookseller in Chiswell-Street, Moorfield’s, London (1791) und auch The Life of William Hutton, Stationer of Birmingham (1798, gedruckt 1841). Letzterer beschrieb sein Leben zwar als ein bedeutungsloses („a life of insignificance“), das dennoch das Interesse der Leser wecken könnte: „I have only the history of an individual, struggling, unsupported, up a mountain of difficulties“.290 Hutton trug dazu bei, das Bewusstsein zu stärken, dass die Gesellschaft nicht in Gänze aus Mitgliedern der wohlhabenden und einflussreichen Schichten bestand.291

Shumaker sieht eine Entwicklung vom Außergewöhnlichen hin zum Konven-tionellen in der englischen Autobiographik. Er legt dar, dass das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert als Blütezeit der Autobiographie zu sehen sind. Die Gründe dieser Schwemme autobiographischen Schreibens sind auch in den gesellschaftli-chen Veränderungen der Zeit, wie den Sozialreformen und damit einem Interesse für die Sozialschwachen, dem Anwachsen der lesefähigen Gesellschaft und damit einer Vielfalt an Leseinteressen, zu sehen. Darüber hinaus unterstützen ein auf Innerlichkeit gerichtetes Interesse der Psychologie, aber auch literarische Einflüsse, wie die Aktualität von Ich-Erzähler-Reisebeschreibungen und die Entwicklung des Romans, diese Entwicklung.292

Obwohl sich die Autobiographie durch alle Gesellschaftsschichten verfolgen lässt, so ist doch auffallend, dass Autobiographien von Frauen weitestgehend abwesend sind. Heather Henderson erläutert, dass die Abwesenheit der Frau in der Literatur allgemein und in der Autobiographik im Besonderen mit einem patriarchalen Konzept zusammenhängt, dass den Autor zum Vater eines Textes macht. Henderson kommt zu dem Schluss: „[I] f autobiography meant father-ing a self, women were inevitably excluded“.293 Auch Wagner-Egelhaaf sieht die Autobiographie an einem männlichen, weißen, westlichen Selbst orientiert und führt dies auf die von Augustinus, Rousseau und Goethe männlich domi-nierte Tradition der Autobiographik sowie die gleichzeitige Herausbildung von moderner Autobiographie und bürgerlichem (männlichen) Selbstbewusstsein

290 William Hutton, „Preface“, The Life of William Hutton, Stationer of Birmingham (London, 1841), v; siehe Shumaker, English Autobiography, 61–62, 26.

291 Vgl. Smiles, Self-Help, 3–5; Sinnema, „Introduction“, ix, xvii.

292 Siehe Shumaker, English Autobiography, 27–29.

293 Henderson, The Victorian Self, 14 und Anm.; siehe Sandra M. Gilbert und Susan Gubar, The Madwoman in the Attic: The Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination (New Haven, 1979), 3–4.

im achtzehnten Jahrhundert zurück.294 Auch die Trennung der Geschlechter-rollen in die private, weibliche Welt, die von moralischer Erziehung und natür-licher Emotionalität geprägt war und eine öffentliche, männliche Welt, die das Ideal der „muscular Christianity“ verkörperte,295 trug sicherlich zu einer Domi-nanz männlichen Schreibens bei. Beispiele von Autobiographien von Frauen des neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts relativieren diese Sichtweise nur bis zu einem gewissen Punkt. In der Regel rechtfertigen sich die Autobiographinnen über einen männlichen Befürworter und üben sich in Bescheidenheit, was das eigene Leben und das eigene Schreiben angeht.296 2.4.4 Autobiographische Paratexte

Die Verleger der vorliegenden Studie nutzen paratextuelle Elemente  – Noti-zen, Vorworte, Widmungen und auch Porträts  –, um die autobiographische Darstellung einzuleiten und zu begründen.297 Nach Gérard Genette sind Para-texte Schwellen, die den Einstieg in den Text (oder die Ablehnung der Lektüre) ermöglichen und zumindest indirekt die Lektüre steuern. Genette definiert Paratexte als „Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird“.298 Zu unterscheiden sind paratextuelle Elemente, die den eigentlichen Paratext ausmachen, die unter-schiedliche Funktionen haben und den Haupttext auf unterunter-schiedliche Weise beeinflussen. Entscheidend hierbei sind die Position der Paratextelemente, ihre Darstellungsform (verbal oder nonverbal), die Kommunikationsinstanz (von wem, an wen) sowie die Funktion des Paratextes. Neben den sprachlichen Para-texten gibt es auch bildliche (Illustrationen), materielle (Typographie, Mate-rialität)299 und faktische Paratexte (Autor-Biographie, Publikationszeitpunkt, Rahmenbedingungen), die als Kontext auf die Lektüre wirken.

294 Siehe Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 97.

295 Siehe Gesa Stedmann, „Gefährliche Gefühle? Emotionen in der viktorianischen Litera-tur“, Kulturgeschichte der englischen Literatur: Von der Renaissance bis zur Gegenwart, hg. v. Vera Nünning (Tübingen, 2005), 170–181, 175–178; Maurer, Kleine Geschichte Englands, 403–404.

296 Siehe Holdenried, Autobiographie, 62–84, 191–205; Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 96–103.

297 Vgl. Gérard Genette, Paratexte: Das Buch zum Beiwerk des Buches (1989; Frankfurt am Main, 2001), 115–140, 157–227.

298 Genette, Paratexte, 10 und Anm. 3; vgl. Lejeune, Der autobiographische Pakt, 50.

299 Nach Genette umfasst der verlegerische Peritext das Format, Reihenzugehörigkeit, Umschlaggestaltung, Titelseitengestaltung, Layout und Auflagenhöhe (Paratexte, 22–40).

Einige dieser Paratexte kommen auch in der vorliegenden Studie zum Tragen.

Dies sind von den Autobiographen selbst (William Chambers, Joseph Dent) oder von Herausgebern (William Chambers für Robert Chambers, Colin Franklin für C. Kegan Paul, Hugh R. Dent für Joseph Dent) verfasste Vorworte, Widmungen und Zueignungen,300 aber insbesondere auch die Verwendung von Verlegerpor-träts. Vorworte, Widmungen und Zueignungen sind als Absichtserklärung der Autobiographen zu lesen, in der sie das Schreiben der Lebensgeschichte begrün-den sowie Anregungen und Einflüsse von Wegbegleitern kenntlich machen. In einigen Fällen wird diese Vorbemerkung von einem Herausgeber verfasst, der bereits auf die Persönlichkeit des Autobiographen, dessen Leben, Einzigartig-keit und Errungenschaften eingeht. Beide Formen ordnen die Autobiographie in das Leben des Autobiographen und in einen größeren gesellschaftlichen Zusam-menhang ein. Der Leser wird auf die Lektüre vorbereitet und erhält eine kon-krete Anweisung wie die Autobiographie gelesen werden soll. Es geht darum, den Nutzen für den Leser, aber auch die Besonderheit gerade dieser Autobio-graphie hervorzuheben. Mit dieser Steuerung wird konkret ein Leserbezug her-gestellt und der Autobiograph legt seine Schreibmotivation teils explizit offen.301 Interessant ist auch das Widmungsverhalten der Autobiographen. Nach Genette lassen sich zwei Arten der Widmung unterscheiden:  die Zueignung des Werkes und die Widmung eines Exemplars.302 Für die Verleger der Fall-studien ergibt sich ein sehr unterschiedliches Zueignungs- und Widmungsver-halten. William Chambers eignete sein Jubiläumsbändchen seinen langjährigen Bekannten zu, nutzte aber ebenso das Frontispiz, um seine Leser direkt anzu-sprechen. Joseph Dent eignete seine Erinnerungen den Arbeitern zu, die ihn umgeben hatten. Darüber hinaus nutzte er seine privat gedruckten Erinnerun-gen, um besonderen Freunden und Wegbegleitern ein Exemplar zu widmen.303 C. Kegan Paul stellte seinen Memories keine Zueignung vor, doch könnte die Begründung im ersten Kapitel, die Autobiographie ursprünglich als Familien-chronik für die eigenen Kinder angefangen zu haben, als implizite Zueignung aufgefasst werden.

Ein weiteres Mittel paratextueller Selbstdarstellung ist die Verwendung von Verlegerporträts. Sandra Oster legt dar, dass Verleger Porträts nutzten, um sich

300 Auf diese Aspekte wird im Rahmen der Diskussion der autobiographischen Quellen jeweils zu Beginn der Fallstudien Bezug genommen (siehe Kap. 3.1.1, 3.2.1 und 3.3.1).

301 Siehe Genette, Paratexte, 190–218.

302 Siehe Genette, Paratexte, 115–140.

303 Zu einigen dieser Widmungsexemplare siehe Kap. 3.3.1.1.

als selbstbewusste Unternehmer darzustellen, sich in die Tradition des Verlages einzuordnen (oder diese zu begründen) und im Rahmen etwa von Verlagsjubi-läen zum Firmengedächtnis beizutragen.304 Oster knüpft ihre Untersuchung an die Porträtkultur des neunzehnten Jahrhunderts305 und es lassen sich anhand ihrer Kategorien Anknüpfungspunkte zu der (Selbst-)Darstellung der Verleger der Fallstudien dieser Studie finden. Die Memoir of Robert Chambers etwa zeigt eine Titelvignette der Verlegerbrüder:  Zwei ovale Medaillons zeigen William (links) und Robert (rechts). Darunter finden sich ikonographische Kennzeichen des Buchmarktes, nach Oster sind diese als „tradierte Attribute von Buchhänd-lern und Druckern“306 zu verstehen: Bücher mit Schließen und Papierrollen, aber auch ein Tintenfass mit Schreibfeder unter dem Porträt Roberts. Das Porträt stellt die Brüder als distinguierte Gelehrte dar und betont die geistige Produk-tion Roberts. Williams Story of a Long and Busy Life ist ein Kupferstichporträt als Frontispiz beigefügt, das einen älteren William ohne Buchattribute zeigt und das neben dem Bildnis auch den Namenszug Williams präsentiert. Den Erinnerun-gen wird so Authentizität verliehen und William spricht mit der Unterschrift –

„Yours truly“ – seine Leser direkt an.307 In Pauls Memories fehlt ein Porträt des Verlegers. Erst die Neuauflage von 1971 zeigt auf dem vorderen und hinteren Schutzumschlag(!) ein pixeliges Profilporträt in einem floralen Rahmen. Joseph Dent schließlich fügte seinen privat gedruckten Memoirs ein Profilporträt bei: Eine photographische Reproduktion zeigt ihn in jüngeren Jahren im Anzug.

Eine Hand ist aufgestützt und suggeriert die Pose des Schöngeistes.308 Die von Dents Sohn Hugh herausgegebenen Auflagen zeigen als Frontispiz eine Kreide-zeichnung der Genremalerin und Zeichnerin des Verlages Dora Noyes.309 Diese Zeichnung erschien ursprünglich in The Bookmark und brachte dort Dent über die Bildunterschrift mit der Everyman’s Library in Verbindung; das Frontispiz erschien ohne Bildunterschrift. Dafür wurden dem Band zwei weitere Porträts

304 Siehe Sandra Oster, „Repräsentation und Erinnerung: Funktionen des Verlegerport-räts im Kaiserreich“, Archiv für Geschichte des Buchwesens, 68 (2013), 155–171, 160.

305 Siehe Oster, „Repräsentation und Erinnerung“, 158.

306 Oster, „Repräsentation und Erinnerung“, 158–159, 158.

307 Vgl. Oster, „Repräsentation und Erinnerung“, 166.

308 Vgl. Oster, „Repräsentation und Erinnerung“, 160.

309 Dora Noyes illustrierte einige der Ausgaben, die ihre Schwester Ella in Dents Medieval Towns Series veröffentlichte. Siehe Saints of Italy, London, 1901; The Story of Ferrara (1904); The Casentino and its Story (1905); The Story of Milan (1908).

Dents beigefügt, darunter eine Photographie von Frederick Hollyer, einem Pho-tographen und Kunstverleger.310

2.4.5 Besonderheiten der Verlegerautobiographien als Quellen der historischen Leserforschung

Verlegerautobiographien lassen sich am ehesten mit Autobiographien von lite-rarischen Persönlichkeiten vergleichen, nicht aufgrund ihrer Form oder ihrer Literarizität, sondern vielmehr, weil es sich in beiden Fällen um einen Perso-nenkreis handelt, der sich beruflich wie privat mit Literatur im weitesten Sinne auseinandersetzt und als wichtiger Akteur auf dem Buchmarkt tätig ist.311 Darü-ber hinaus ergibt sich aus diesem Umfeld ein interessantes Abhängigkeits- und Interaktionsverhältnis. Autoren sind von Verlegern abhängig, die ihnen helfen, ihre geistige Produktion der Öffentlichkeit vorzulegen. Doch auch Verleger sind von Autoren abhängig: ohne die geistige Produktion des Autors hat der Verleger nichts, was er der Öffentlichkeit vorzulegen hätte.312 In der Regel sind es Verleger, die sich als Mitglied eines Zirkels von Schriftstellern präsentieren und so von dem Prestige der Autoren profitieren.313 Der Austausch von symbolischem Kapi-tal bezieht sich nicht nur darauf, dass sich das Prestige des Autors auf den Ver-leger überträgt, vielmehr funktioniert dieser Austausch zunächst in die andere Richtung. Der Verleger nutzt die Produktion des Schriftstellers und treibt Han-del mit dieser Produktion. Er ist es aber auch, der das Produkt auf den ‚Markt der symbolischen Güter‘ trägt und seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit sicherstellt. Mit der Publikation teilt der Verleger sein akkumuliertes symboli-sches Kapital und erspart dem Autor damit nicht nur den Kontakt zum öko-nomischen System Buchmarkt, sondern unterstreicht auch einen bestimmten

310 Der Ausgabe der Memoirs, 1849–1921 der Bodleian Library, die für die vorliegende Studie genutzt wurde, ist dieses zweite Porträt Dents beigefügt (Bodleian Library, 2581 e.654 <http://dbooks.bodleian.ox.ac.uk/books/PDFs/502762187.pdf>). Siehe Dent, The Memoirs of J. M. Dent, 1849–1926 with Some Additions by Hugh R. Dent, hg. v. Hugh R. Dent (London, 1928), Frontispiz (Noyes), gegenüber 64 (Hollyer), gegenüber 113 (Evans); Dent, The House of Dent, 1888–1938: Being The Memoirs of J. M. Dent with Additional Chapters Covering the Last 16 Years by Hugh R. Dent, hg.

v. Hugh R. Dent (London, 1938), Frontispiz (Noyes), gegenüber 62 (Hollyer), gegen-über 115 (Evans).

311 Vgl. Bhaskar, The Content Machine, 10–11.

312 Vgl. Edward England, An Unfading Vision: The Adventure of Books (London, 1982), 75: „Authors are the life-blood of publishing“.

312 Vgl. Edward England, An Unfading Vision: The Adventure of Books (London, 1982), 75: „Authors are the life-blood of publishing“.