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Die viktorianische Autodidaktenkultur

2.3 Leser im neunzehnten Jahrhundert

2.3.2 Die viktorianische Autodidaktenkultur

Das neunzehnte Jahrhundert ist von einer ausgeprägten Autodidaktenkultur gekennzeichnet. Der soziale Aufstieg und damit einhergehend die Verbesserung der Lebensumstände konnten im Aufschwung der industriellen Revolution durch harte Arbeit und Beharrlichkeit erreicht werden. Grundlage dieser sozia-len Verbesserung war der Glaube an das Individuum, das ohne staatliche Ein-mischung für den eigenen Erfolg verantwortlich war. Als Mittel dieses Aufstiegs galt insbesondere die Verbesserung der eigenen Bildung.188 Diese Anstrengun-gen wurden unter den Begriffen self-improvement oder self-culture zusammen-gefasst, die sowohl die Bildung im Sinne einer Wissenserweiterung meinte, aber auch moralische und gesellschaftliche Wertvorstellungen einschloss.189 Erfolgs-geschichten, die die Leistungen von Autodidakten hervorhoben und bekannt machten, waren ebenso Teil der Autodidaktenkultur. Hierzu zählen zum einen die Veröffentlichung Self-Help von Samuel Smiles, aber auch die zahlreichen Autobiographien von Autodidakten.

Smiles (1812–1904), Sohn eines schottischen Papiermachers, bekräftigte in seiner Autobiographie, dass das Wichtigste, das er von seinen Eltern bekom-men hatte, die Möglichkeit zur Bildung war.190 Er diente selbst als Vorbild für die Grundsätze, die er vertrat. Smiles arbeitete als Assistent für einen Arzt, ehe er seine eigene Praxis eröffnete. In seiner Freizeit nutzte er die lokale Bibliothek und veröffentlichte erste Beiträge zur Kindererziehung. 1838 gab Smiles seine Praxis auf, zog nach Leeds und wurde Herausgeber der Leeds Times, einer Wochen-zeitschrift, die die Chartistenbewegung unterstützte. Unter Smiles’ Herausgeber-schaft erschienen vermehrt Beiträge zum Thema self-improvement. Finanzielle Sicherheit erlangte er schließlich 1845 mit der Übernahme einer Position bei Leeds and Thirsk Railway, die ihm eine rege Autorentätigkeit ermöglichte. In den folgenden Jahren publizierte er unzählige Beiträge in Zeitschriften und Zeitun-gen. Darüber hinaus betätigte er sich als Sprecher vor Arbeiterorganisationen.191

188 Siehe Maurer, Kleine Geschichte Englands, 386, 400.

189 Siehe Anne B. Rodrick, Self-Help and Civic Culture: Citizenship in Victorian Birming-ham (Aldershot, 2004), 15–17.

190 Siehe Samuel Smiles, The Autobiography of Samuel Smiles, hg. v. Thomas Mackay (London, 1905), 14.

191 Siehe H. C. G. Matthew, „Smiles, Samuel (1812–1904)“, Oxford Dictionary of National Biography, Mai 2009 <http://dx.doi.org/10.1093/ref:odnb/36125>; Peter W. Sinnema,

„Introduction“ in Samuel Smiles, Self-Help with Illustrations of Character, Conduct, and Perseverance, hg. v. Peter W. Sinnema (1866; Oxford, 2002), vii–xxviii, xiii–xvi.

Smiles’ einflussreichste Publikation, Self-Help, basierte auf der Rede „The Education of the Working Classes“, die er im März 1845 auf Anfrage der Mutual Improve -ment Society Leeds hielt. Smiles erweiterte seine Rede und veröffentlichte sie 1859 auf eigene Kosten bei John Murray. In kürzester Zeit erlangte das Werk große Popularität; bis 1905 wurden mehr als 250 000 Exemplare verkauft.192

Smiles’ Konzept war nicht neu und er betonte, dass sowohl sein Vortrag als auch die Veröffentlichung das Ergebnis seiner Lektüre, seiner Beobachtungen und seiner persönlichen Erfahrungen war.193 Er nutzte etwa George Stephensons Mantra „perseverance“,194 um die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens her-auszustellen, und auch George Lillie Craiks Pursuit of Knowledge under Difficul-ties (2 Bände, 1830–31) diente ihm als Vorbild. Darüber hinaus entlehnte er den Begriff „Self-Help“ von dem amerikanischen Philosophen und Transzenden-talisten Ralph Waldo Emerson. Emerson hatte im Januar 1841 eine Ansprache vor Lehrlingen in Boston gehalten, die anschließend publiziert wurde; Smiles rezensierte diese Publikation für die Leeds Times.195

Thomas Mackay, Herausgeber der Autobiographie von Smiles, fasste das auto-didaktische Prinzip der Self-Help als Philosophie zusammen, die herausstellte, dass auch in einfachen Verhältnissen und ohne finanzielles Auskommen gute Arbeit geleistet, Charakter und Unabhängigkeit entwickelt und Zufriedenheit erhalten werden konnten.196 Smiles selbst betonte in diesem Zusammenhang die von Craik und Stephenson hervorgehobene Beharrlichkeit:

192 Siehe Matthew, „Smiles, Samuel“; David McClay, „Samuel Smiles and Self-Help: A Nineteenth-Century Bestseller“, Journal of the Edinburgh Bibliographical Society, 3 (2008), 63–69.

193 Siehe Samuel Smiles, „Introduction to the First Edition“ in Smiles, Self-Help, 6–8, 8; Kenneth Fielden, „Samuel Smiles and Self-Help“, Victorian Studies, 12.2 (1968), 155–176, 158, 168. Zur Vermischung persönlicher Erfahrungen und Lektüre siehe die Plagiatsanschuldigungen Samuel Baileys in „Literary Adoption“, The Athenæum, 1.  Dezember  1860, 752; Samuel Smiles, „Our Weekly Gossip“, The Athenæum, 15. Dezember 1860, 832; „Literary Intelligence [Charge of Plagiarism against Samuel Smiles by Samuel Bailey]“, The Publishers’ Circular, 15. Dezember 1860, 730.

194 Smiles berichtete, Stephenson habe es sich angewöhnt, seinen Rat an junge Männer kurz zusammenzufassen: „‚Do as I have done – persevere‘ “ (Smiles, Self-Help, 96).

195 Siehe Sinnema, „Introduction“, xi; Ralph Waldo Emerson, Man the Reformer: A Lec-ture Read before the Mechanics’Apprentices’ Library Association at the Masonic Temple, Boston, 25th January, 1841 (Boston, 1841), 5.

196 Siehe Thomas Mackay, „Preface“ in Smiles, The Autobiography of Samuel Smiles, vii–

xiii, ix.

It seemed to me that the most important results in daily life are to be obtained, not through the exercise of extraordinary powers, such as genius and intellect, but through the energetic use of simple means and ordinary qualities, with which nearly all human individuals have been more or less endowed.197

Die unmittelbaren Lebensumstände, Schichtzugehörigkeit und der Bildungs-stand waren, nach Smiles, nicht ausschlaggebend für Erfolg. Als entscheidendere Faktoren sah er Ausdauer und Beharrlichkeit, aber auch Sparsamkeit, Pflicht-gefühl und ein stark verankertes Bildungsbewusstsein an. Darüber hinaus war für Smiles die Selbstverleugnung eine Charakterprüfung in Geduld und Dis-ziplin, die letztlich zum Triumph über sich selbst führte und das Bewusstsein für den Wert des eigenen erwirtschafteten und verdienten Lohnes schärfte.198 Es ist jedoch festzuhalten, dass für Smiles self-improvement nicht nur eine auto-didaktische Bildung meinte, die auf einer umfangreichen Lektüre und der Teil-nahme an Vorlesungen und Kursen basierte, sondern ein lebenslanges Lernen, das Erfahrungen und Einflüsse des täglichen Lebens berücksichtigte und einen lebenspraktischen Anspruch hatte.199 So werden in Self-Help beispielhaft die wechselhaften Karrieren unterschiedlicher Persönlichkeiten präsentiert.200

Insbesondere für die Arbeiterschicht, aber auch die untere Mittelschicht, entstanden in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zahlreiche Möglichkeiten, sich weiterzubilden, etwa in Mechanics’ Institutes oder Mutual Im -provement Societies. Mechanics’ Institutes entstanden bereits in den 1820er Jahren unter dem Einfluss der Mittelschicht und richteten sich an gut ausgebil-dete Facharbeiter der oberen Arbeiterschicht. Diese Institutionen boten ihren Mitgliedern gegen einen Mitgliedsbeitrag Vorträge und Kurse zu praktischen Themen. Erst in den 1830er Jahren wurden auch geisteswissenschaftliche The-men in das Curriculum aufgenomThe-men. Darüber hinaus wurde Mitgliedern der Zugang zu einer Bibliothek ermöglicht.201 Einflussreichster Befürworter der Ins-titution war Henry Lord Brougham, der 1826 ebenfalls die Gründung der Society for the Diffusion of Useful Knowledge zur Verbreitung nützlicher Lesematerialien antrieb.202 Als erstes Mechanics’ Institute gilt das 1823 von Lord Brougham und

197 Smiles, The Autobiography of Samuel Smiles, 222.

198 Siehe Smiles, Self-Help, 243.

199 Siehe Smiles, Self-Help, 21.

200 Siehe Smiles, Self-Help, 22, 95–96.

201 Siehe Charing, „Self-Help v State Intervention“, 49.

202 Siehe Michael Lobban, „Brougham, Henry Peter, first Baron Brougham and Vaux (1778–1868)“, Oxford Dictionary of National Biography, Januar 2008 <http://dx.doi.

org/10.1093/ref:odnb/3581>.

George Birkbeck gegründete London Mechanics’ Institute. Birkbeck, ein schot-tischer Arzt, hatte bereits zuvor in Glasgow, Birmingham, Liverpool, Hull und London regelmäßig Vorträge vor Arbeitern gehalten. Aus diesen Vorträgen erwuchs in Glasgow ein zeitlich früheres Mechanics’ Institute.203 Bis 1851 wurden schließlich landesweit über 700 dieser Institutionen mit mehr als 120 000 Mit-gliedern errichtet.204

Trotz dieses schnellen Erfolges und der hohen Mitgliederzahlen fanden sich Gegenstimmen. Mechanics’ Institutes dienten auch der sozialen Kontrolle und bald nach den ersten Gründungen wurden politische und religiöse Debatten unterbunden. Weitere Kritikpunkte waren die hohen Beitragsforderungen, Öffnungszeiten, die nicht mit dem Arbeitsalltag vereinbar waren, ungeeignete Unterrichtsformen sowie die Dominanz der Mittelschichtsmitglieder.205 Mutual Improvement Societies hingegen waren Organisationen, die von und durch die Partizipation ihrer Mitglieder, zumeist Angehörige der Arbeiter- und unteren Mittelschicht, lebten,206 geringe Beitragszahlungen forderten und äußerst flexi-bel gestaltet werden konnten. Christopher Radcliffe bringt den Unterschied prä-gnant auf den Punkt: „Unlike most mechanics’ institutes, mutual improvement societies were of the people not for the people“.207

Mutual Improvement Societies entwickelten sich häufig aus einer Abspaltung einzelner Mitglieder der Mechanics’ Institutes.208 Diese Gesellschaften waren eine 203 Siehe Matthew Lee, „Birkbeck, George (1776–1841)“, Oxford Dictionary of National

Biography, April 2016 <http://dx.doi.org/10.1093/ref:odnb/2454>.

204 Siehe Steven Shapin und Barry Barnes, „Science, Nature and Control: Interpreting Mechanics’ Institutes“, Social Studies of Science, 7.1 (1977), 31–74, 33, 48–59.

205 Siehe Christopher Radcliffe, „Mutual Improvement Societies and the Forging of Work -ing-Class Political Consciousness in Nineteenth-Century England“, International Journal of Lifelong Education, 16.2 (1997), 141–155, 141–143; Andrew Murphy, Shake-speare for the People: Working-Class Readers, 1800–1900 (Cambridge, 2008), 108–111.

206 Siehe Rose, The Intellectual Life of the British Working Classes, 58–91; J. F. C. Harrison, Learning and Living, 1790–1960: A Study in the History of the Adult Education Move-ment (1961; London, 2007), 49–54.

207 Radcliffe, „Mutual Improvement Societies“, 141, meine Hervorhebung; Shapin und Barnes, „Science, Nature and Control“, 34.

208 Siehe M. I. Watson, „Mutual Improvement Societies in Nineteenth‐Century Lanca-shire“, Journal of Educational Administration and History, 21.2 (1989), 8–17, 9. Das umgekehrte Phänomen war auch zu beobachten: Mechanics’ Institutes, die aus Mutual Improvement Societies hervorgingen und fortan unter dem Einfluss der Mittelschicht standen (Christopher J. Radcliffe, „Mutual Improvement Societies in the West Riding of Yorkshire, 1835‐1900“, Journal of Educational Administration and History, 18.2 [1986], 1–16, 1, 7).

Gelegenheit für die unteren Schichten, ihre Aussichten hinsichtlich Bildung, finanziellem Auskommen und politischer Partizipation zu verbessern.209 Im Gegensatz zu den Mechanics’ Institutes ging es jedoch nicht nur um die Ver-mittlung grundlegender Bildung und gesellschaftlicher Erziehung, sondern auch um die individuelle Verbesserung der eigenen Bildung sowie gemeinschaftliches Handeln und gemeinschaftlichen Nutzen. Darüber hinaus versuchten sie, ein breiteres Spektrum der Arbeiterschicht zu erreichen.210

Mutual Improvement Societies waren in der Regel lose organisierte Gruppie-rungen, die sich wöchentlich bei einem ihrer Mitglieder, in Gasthäusern oder in Gemeinderäumen trafen, wie etwa den Räumlichkeiten der methodistischen Kirche in Darlington, der Heimatstadt des Verlegers Joseph Dent.211 Grundle-gender Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen fand im Einzelunterricht mit einem Tutor, Diskussionen zu aktuellen Themen fanden in Gruppen statt.

Darüber hinaus wurden Vorträge von Fachleuten aber auch Lektüregruppen organisiert.212 Der Erfolg dieser Gruppierungen bestand darin, dass die Mit-glieder selbst bestimmten, welche Themen innerhalb der Sitzungen besprochen wurden. Es handelte sich folglich um autonome und flexible Gruppen, die in der Tat von ihren Mitgliedern und nicht für ihre Mitglieder gestaltet wurden. Neben dem gemeinschaftlichen Erleben und Erarbeiten von Literatur und Wissen stand das mit- und voneinander Lernen im Vordergrund. Mit zunehmender Alphabe-tisierung der Bevölkerung und einer Ausweitung des (staatlichen) Schulsystems verloren die Mutual Improvement Societies gegen Ende des neunzehnten Jahr-hunderts ihre Bedeutung. Darüber hinaus präsentierten zahlreiche Unterneh-mer ihren Angestellten ähnliche Angebote.213

Eine weitere Bildungsbewegung war die Londoner Toynbee Hall, die aus einem akademischen Hintergrund entstand und wie die Darlington Mutual

209 Siehe Harrison, Learning and Living, 1790–1960, 211.

210 Siehe Radcliffe, „Mutual Improvement Societies“, 145; Shapin und Barnes, „Science, Nature and Control“, 34; Radcliffe, „Mutual Improvement Societies in the West Riding of Yorkshire“, 2–5.

211 Vgl. Kap. 3.3.2.4. Mutual Improvement Societies, die einer religiösen Gruppierung zugeordnet waren, waren weit langlebiger als spontane Gründungen (siehe Radcliffe,

„Mutual Improvement Societies in the West Riding of Yorkshire“, 10).

212 Siehe Radcliffe, „Mutual Improvement Societies“, 147; Watson, „Mutual Improvement Societies in Nineteenth‐Century Lancashire“, 9–13.

213 Siehe Watson, „Mutual Improvement Societies in Nineteenth‐Century Lancashire“, 14–15; Radcliffe, „Mutual Improvement Societies in the West Riding of York-shire“, 1, 11.

Improvement Society von Joseph Dent besucht wurde. Toynbee Hall ist das älteste Beispiel der sogenannten Settlement-Bewegung, einer sozialreformeri-schen Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts. Grundlage der Bewegung war ein sozialer Idealismus, der auf dem Verständnis fußte, dass eine Gesellschaft nur in gegenseitiger Wechselwirkung der Schichten funktionieren konnte. Die Settlement-Bewegung stellte sich bewusst gegen die von der Kirche unterstützte Missionsbewegung und verstand sich als soziales und nicht als bekehrendes Ins-trument. Der soziale Idealismus war insbesondere an den Universitäten Oxford und Cambridge verbreitet. Studierende sollten sich für längere Zeit in den Elendsvierteln der Arbeiter ansiedeln und vor Ort, durch das Miteinanderleben, nachbarschaftliche Hilfe leisten und Weiterbildungsmöglichkeiten anbieten.214

Der Namensgeber von Toynbee Hall, Arnold Toynbee (1852–1883),215 war nicht unmittelbar an der Gründung des Settlements beteiligt. Als Schüler des Moralphilosophen Thomas Hill Green wurde er in Oxford mit einem Bewusstsein für die Notwendigkeit einer umfangreichen Volksbildung, „a ‚ladder of learn -ing‘ for all citizens“, ausgestattet. Ebenso prägend war das Elternhaus. Toynbees Vater Joseph engagierte sich für eine Verbesserung der Lebensumstände von Arbeitern und für Bildungsmaßnahmen, die sich an Arbeiter richteten.216 1875 verbrachte Arnold zwei Wochen in der Pfarrei des Rev. Samuel Augustus Barnett in Whitechapel, London. Hier entdeckte er seine Begabung für öffentliche Reden und bekräftigte vor Arbeitern, dass die politische Partizipation der Arbeiter-schicht gefährlich sei, sofern sie nicht von einer umfassenden Volksbildung begleitet würde.217 Barnett war es schließlich, der 1884 Toynbee Hall mit dem Ziel gründete, den Bewohnern des East Ends Unterricht zu erteilen, Konzerte und gesellige Zusammenkünfte zu organisieren sowie Klubs und Vereine zu

214 Siehe Werner Picht, Toynbee Hall und die englische Settlement-Bewegung: Ein Beitrag zur Geschichte der sozialen Bewegung in England (Tübingen, 1913), 1–9; R. A. Evans,

„The University and the City: The Educational Work of Toynbee Hall, 1884–1914“, His-tory of Education, 11.2 (1982), 113–125, 113–116; J. A. R. Pimlott, Toynbee Hall: Fifty Years of Social Progress, 1884–1934 (London, 1935), 9–11.

215 Siehe Alon Kadish, „Toynbee, Arnold (1852–1883)“, Oxford Dictionary of National Biography, 2004 <http://dx.doi.org/10.1093/ref:odnb/27646>.

216 Siehe Andrew Vincent, „Green, Thomas Hill (1836–1882)“, Oxford Dictionary of National Biography, Januar 2012  <http://dx.doi.org/10.1093/ref:odnb/11404>, und Neil Weir, „Toynbee, Joseph (1815–1866)“, 2004 <http://dx.doi.org/10.1093/

ref:odnb/27647>.

217 Siehe Picht, Toynbee Hall, 16; Pimlott, Toynbee Hall, 14–20.

gründen,218 ihnen also Bildungsangebote, aber auch Möglichkeiten zur Erholung und zum Vergnügen anzubieten.219

Ein Großteil der Angebote der Toynbee Hall war auf die Volksbildung und Fortbildungskurse für Arbeiter ausgerichtet. Es wurden Abendkurse verschie-dener Fachgebiete angeboten. Neben Sprache, Literatur und Sittenlehre gab es weitere Kurse in Naturwissenschaften, Musik und Kunst sowie Handwerk. Das geisteswissenschaftliche Kursprogramm bot Unterricht in biblischer Geschichte, Moralphilosophie, Literatur, englischer Geschichte, Nationalökonomie, aber auch Fremdsprachen wie Deutsch, Französisch und Latein.220 Darüber hinaus durfte jeder Kursteilnehmer die Klubräume aufsuchen, um sich mit anderen Teilnehmern und den residents, den Mitgliedern, auszutauschen und Kontakte zu knüpfen. Ebenso stand allen Kursteilnehmern über 16 Jahren unentgeltlich eine über 7000 Titel umfassende, auf das Kursangebot ausgerichtete Bibliothek zur Verfügung.221

Es ist jedoch zu bedenken, dass der angebotene Unterricht mit einem hohen Zeitaufwand verbunden war, der nicht jedem Arbeiter zur Verfügung stand.

Teilnehmer wurden nicht nur zur regelmäßigen Teilnahme ermutigt, sie waren auch angehalten, Essays zu schreiben und Prüfungen abzulegen.222 Daher sind die weniger zeitintensiven Veranstaltungen der Toynbee Hall für die breite Masse eher von Bedeutung. Es wurden regelmäßig Vorträge gehalten, die möglichst populär – mit Lichtbildern untermalt – gehalten waren, um ein breites Publikum anzusprechen.223 Eine Gemäldeausstellung mit Leihgaben von privaten Samm-lern und zeitgenössischen KünstSamm-lern, wie Edward Burne-Jones, Dante Gabriel Rossetti und John Everett Millais, resultierte schließlich in der Gründung der Whitechapel Art Gallery (1901).224 Weitere Aktivitäten umfassten ein reges Klub- und Sportleben, von Fußball über Boxen bis hin zu Billard, aber auch Konzerte

218 Siehe Picht, Toynbee Hall, 21–26.

219 Siehe Pimlott, Toynbee Hall, 39; Samuel Hales, „Toynbee Hall“, The Library, 1st ser., 5 (1893), 177–189, 179; Ivor Morrish, Education since 1800 (1970; London, 2007), 155.

220 Siehe Picht, Toynbee Hall, 33; Pimlott, Toynbee Hall, 48–49; Evans, „The University and the City“, 117.

221 Siehe Picht, Toynbee Hall, 38, 41; Evans, „The University and the City“, 117.

222 Siehe Evans, „The University and the City“, 117.

223 Siehe Picht, Toynbee Hall, 49.

224 Siehe Whitechapel Gallery <http://www.whitechapelgallery.org/about>. Die Ausstel-lung „Modern Pictures by Living Artists, Pre-Raphaelites and Older English Masters“

war vom 12. März bis zum 23. April 1901 zu sehen. Siehe Picht, Toynbee Hall, 51–53;

Pimlott, Toynbee Hall, 165–170.

sowie ein jährlich stattfindendes Musikfestival, währenddessen sich Chöre der unterschiedlichen Klubs, Vereine und Klassen in einem Gesangswettbewerb messen konnten.225

2.4 Autobiographien als Quellen der historischen Leserforschung

Für den Verlegerberuf gab und gibt es keine festgeschriebenen Ausbildungs-wege. Dennoch ist es notwendig, sich auf dem Buchmarkt zurechtzufinden und als Verleger anerkannt zu werden. Als Mindestvoraussetzung, die alle Verleger mitbringen sollten, betonte der Autor und Lektor Frank Swinnerton (1884–1982): „The trade itself calls for a minimum of literacy“.226 Hierbei stellte Swinnerton die Sozialisations- und Bildungsvoraussetzungen von Verlegern in einen Zusammenhang mit der späteren (erfolgreichen) Verlegertätigkeit und unterstrich die Notwendigkeit, als kompetenter Partner auf dem Buchmarkt wahrgenommen zu werden.

Verleger waren nicht nur in der Lage, ihre Lesekompetenzen in der Berufs-ausübung anzuwenden, sie waren auch in der Lage, kompetent über ihre Erfah-rungen zu berichten. Die Verlegerautobiographie stellt so eine sinnvolle Quelle dar, um den Fragen nach einem Zusammenhang zwischen Lesesozialisation und Verlegertätigkeit nachzugehen. Hier präsentiert sich eine systematische Darstel-lung des Lebens (und Lesens), die bereits in einen Sinnzusammenhang gebracht wurde, um die persönliche und berufliche Entwicklung zu rechtfertigen und so auch ein bestimmtes Selbstbild zu vermitteln.

In seiner umfangreichen Studie The Intellectual Life of the British Working Classes (2001) betont Jonathan Rose die Nützlichkeit von Autobiographien zur Herausarbeitung persönlicher Leseerfahrungen. Dennoch mahnt er auch zur umsichtigen Nutzung dieser Egodokumente. Autobiographen selektieren, lassen aus, verkürzen und übertreiben, um ihre Lebensgeschichte systematisch darstel-len zu können. Darüber hinaus hebt allein der Umstand, dass eine Autobiogra-phie geschrieben wird, die Autobiographen von anderen Personen ab und lenkt den individuellen Blick auf den Leser und seine kulturelle ‚Nahrung‘ („cultural diet“), seine Reaktionen auf das eigene Lesen, seine Bildung und auch seine Auf-fassung gegenwärtiger Kunst und Kultur.227

225 Siehe Picht, Toynbee Hall, 71. Insgesamt gab es 36 dieser Klubs und Vereine, die ver-schiedenste Interessen bedienten (Evans, „The University and the City“, 120).

226 Frank Swinnerton, The Bookman’s London (London, 1951), 37.

227 Rose, The Intellectual Life of the British Working Classes, 1–3, 2.

Daniel Allington befasst sich mit der Nützlichkeit autobiographischen Schrei-bens für die historische Leserforschung und konstatiert, dass Autobiographien eher Quellen für eine Geschichte des Schreibens über Lesen, „the history of (writ-ing about) read(writ-ing“, sind, da sie nicht zw(writ-ingend Fakten präsentieren, sondern individuelle, bereits gedeutete Erfahrungen, die zudem für einen bestimmten Leserkreis verfasst wurden.228 Diese Erfahrungen sind bereits rekonstruierte Darstellungen, die von dem Autobiographen in einen gesellschaftlichen und kul-turellen Kontext eingebettet und mittels autobiographischer Konventionen prä-sentiert werden. Daher ist die Vermittlung des Selbstbildes ein zentraler Aspekt bei der Auswertung von Autobiographien.229

In ihrer Beschreibung der Reading Experience Database, die sich das Sam-meln ‚anekdotischer‘ Leseerfahrungen zum Ziel gesetzt hat, unterstreicht Katie Halsey den Nutzen dieses Materials und führt zugleich methodische Probleme und Fragen verschiedener autobiographischer Quellen an. Neben Autobiogra-phien widmet sie sich Tagebüchern, Briefwechseln, Randbemerkungen und Biographien. Diese Egodokumente können nicht gleichwertig ausgewertet wer-den und erfordern unterschiedliche Grade an Kontextualisierung. Während bei Autobiographien und Tagebüchern die Intention und Erinnerung des Schrei-bers im Vordergrund stehen, erfordern insbesondere Briefwechsel ein hohes Maß an Kontextwissen. Hierbei sind nicht nur Sender und Empfänger zu beach-ten, sondern auch ihre Beziehung zueinander sowie ein größerer gesellschaft-licher Rahmen. Doch auch die Auswertung von Biographien darf nicht ohne Berücksichtigung der Intention des Biographen und der zeitlichen Verortung der Biographie – zeitgenössisch, zu Lebzeiten, posthum, Anlass – stattfinden.230

In ihrer Beschreibung der Reading Experience Database, die sich das Sam-meln ‚anekdotischer‘ Leseerfahrungen zum Ziel gesetzt hat, unterstreicht Katie Halsey den Nutzen dieses Materials und führt zugleich methodische Probleme und Fragen verschiedener autobiographischer Quellen an. Neben Autobiogra-phien widmet sie sich Tagebüchern, Briefwechseln, Randbemerkungen und Biographien. Diese Egodokumente können nicht gleichwertig ausgewertet wer-den und erfordern unterschiedliche Grade an Kontextualisierung. Während bei Autobiographien und Tagebüchern die Intention und Erinnerung des Schrei-bers im Vordergrund stehen, erfordern insbesondere Briefwechsel ein hohes Maß an Kontextwissen. Hierbei sind nicht nur Sender und Empfänger zu beach-ten, sondern auch ihre Beziehung zueinander sowie ein größerer gesellschaft-licher Rahmen. Doch auch die Auswertung von Biographien darf nicht ohne Berücksichtigung der Intention des Biographen und der zeitlichen Verortung der Biographie – zeitgenössisch, zu Lebzeiten, posthum, Anlass – stattfinden.230