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1.6 Begriffliche Klärungen .1 Lesebiographie.1 Lesebiographie

1.6.4 Lesekultur und Buchkultur

Sowohl ‚Lesekultur‘ als auch die an das materielle Objekt gebundene ‚Buchkul-tur‘ sind komplexe Systeme, die durch vielfältige Prozesse geprägt und verändert werden.98 Das Verständnis von Kultur als komplexem Gefüge von gesellschaft-lich vermitteltem Wissen, moralischen Grundsätzen, Traditionen, aber auch Kunst- und Literaturverständnis sowie erlernten Fertigkeiten99 ist auch mit der Vermittlung und Aufnahme von Bildung verbunden. Das Lesen und der Umgang mit dem Buch werden als wichtig(st)e Kulturtechniken angesehen, die zur Teil-habe an einer bestimmten Kultur befähigen.100 Veränderungen und Stabilisie-rungsprozesse der Lesekultur sind stark von gesellschaftlichen Einflussfaktoren abhängig; als Teil der Gesellschaft ist die Lesekultur einerseits von gesellschaft-lichen Strukturen geprägt, andererseits wirkt sie auf diese Strukturen zurück.

Daraus resultiert, dass Lesekultur nicht als statisches System zu verstehen ist, sondern stetem Wandel unterliegt. Ebenso bedeutet dies, dass Lesekultur in ver-schiedenen sozialen Gruppen, die etwa nach Geschlecht, Schichtzugehörigkeit,

97 Vgl. Hurrelmann, Hammer und Nieß, Leseklima in der Familie, 299–318, 316–317.

98 Eggert und Garbe sprechen von Lesekultur als einem „historisch wandelbaren Phä-nomen“ (Literarische Sozialisation, 18, Hervorhebung im Original).

99 Siehe Peter M. Hejl, „Kultur,“ Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze-Personen-Grundbegriffe, hg. v. Ansgar Nünning, 5., akt. und erw. Aufl. (Stuttgart, 2013), 413–414, 414.

100 Siehe Limmroth-Kranz, „Lesen im Lebenslauf,“ 52–58; Eggert und Garbe, Literarische Sozialisation, 25.

Bildungsniveau, Alter und auch Herkunft unterteilt sind, innerhalb derselben Gesellschaft unterschiedlichen Prozessen und Wertzuschreibungen unterliegt.101

Nach Erich Schön wird Lesekultur innerhalb einer homogenen sozialen Gruppe Wertschätzung entgegengebracht und beinhaltet bereits eine normative Perspektive. Der Begriff der Lesekultur ist nicht zuletzt an eine Hierarchisierung von Lesestoffen und Gattungen gebunden, die zwischen Hoch- und Triviallite-ratur unterscheidet, aber auch zwischen LiteTriviallite-ratur und Sachbüchern. Das Lesen ist innerhalb einer gleichen Gruppe positiv konnotiert, aber nicht (unbedingt) um des Wissenserwerbs willen, sondern vielmehr, um „‚Welt- und Menschen-kenntnis‘ zu lernen und so ‚gebildet‘ zu werden.“102 Somit ist die Vermittlung von Lesekultur Teil des (Lese-)Sozialisationsprozesses und zielt nicht nur darauf ab, literarischen Geschmack zu entwickeln,103 sondern ebenfalls darauf, grund-legende Kompetenzen einer sozialen Praxis, dem Lesen, zu erweitern.104 Folg-lich geht es nicht nur um „die Art des Umgangs mit Geschriebenem, sondern auch [um] die gewählten Inhalte und die gesellschaftliche Akzeptanz.“ Darüber hinaus ist Lesekultur nicht nur als literarische Lesekultur zu verstehen; vielmehr drückt sie sich durch „förderliche Lesepraxen“ aus.105 Ebenso merkt Schön an, dass Lesekultur nicht als ein isoliertes Phänomen zu sehen ist, sondern vielmehr

101 Siehe Hejl, der zum heute gebräuchlichen Kulturbegriff festhält, dass dieser auf

„abgrenzbare soziale Gruppen bezogen [werden kann]“ („Kultur,“ 413). Diese Grup-pen, so Michael Giesecke, „bestimmen selbst, wer Mitglied dieser Kommunikations-gemeinschaft ist, was als Medium genutzt werden kann, was informativ ist, wann Kommunikation gelingt und wann nicht“ (Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft: Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie [Frankfurt am Main, 2002], 189).

102 Erich Schön, „‚Lesekultur‘: Einige historische Klärungen,“ Lesen im Medienzeit-alter: Biographische und historische Aspekte literarischer Sozialisation, hg. v. Cornelia Rosebrock (Weinheim, 1995), 137–164, 139.

103 Siehe Erich Schön, „Geschichte des Lesens,“ Handbuch Lesen, hg. v. Bodo Franzmann, et al. (Baltmannsweiler, 2006), 1–85, 45; Schön, „Lesekultur,“ 139; Roy Sommer, „Kul-turbegriff,“ Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze-Personen-Grund-begriffe, hg. v. Ansgar Nünning, 5., akt. und erw. Aufl. (Stuttgart, 2013), 417–418, 417.

104 Siehe Hartmut Hoffmann, „Lesekultur,“ Lexikon des gesamten Buchwesens, hg. v. Seve-rin Corsten, 2. Aufl. (Stuttgart, 1995), IV, 483–484; Schön, „Lesekultur,“ 139, 142–150.

105 Cordula Artelt, et  al., „Lesekompetenz:  Testkonzeption und Ergebnisse,“ PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, hg. v. Jürgen Baumert, et al. (Opladen, 2001), 69–137, 133; siehe Müller-Oberhäuser,

„Lesende Mädchen und Frauen,“ 350.

an andere Formen eines kulturellen Lebensstils anknüpft und sich, wie Bildung, auf alle Lebensbereiche auswirkt.106

Der Begriff der ‚Buchkultur‘ betont schließlich die kulturelle Bindung an das Buch als Wissensvermittler und Speichermedium,107 ebenso wie als „informa-tionsverarbeitendes System,“108 das neben interpretativen und kommunikativen Kompetenzen auch grundlegende gesellschaftliche Wertmaßstäbe vermittelt und die Herausbildung eines Lesegeschmacks zum Ziel hat. Eggert und Garbe betonen, dass die „wesentliche Sozialisationsleistung“ darin besteht, „eine habi-tuelle Bindung an das Buch zu erreichen.“109 Die Teilhabe an einer bestimm-ten Lesekultur ist folglich Distinktionsmerkmal einer bestimmbestimm-ten (kulturellen) Lebensweise und dient sowohl der Identifikation mit einer sozialen Gruppe als auch der Abgrenzung von anderen sozialen Gruppen.110

Buch- und Lesekultur sind keine statischen Konstrukte, sondern Produkte einer Gesellschaft, die verschiedenen Einflussfaktoren unterliegen. Zum einen sind dies gesellschaftliche Faktoren, die auf die Ausprägung einer nationalen Buch- und Lesekultur einwirken, wie etwa gesellschaftlich-institutionalisierte und familiäre Sozialisationsinstanzen, die einerseits stabilisierend wirken, ande-rerseits das Individuum in diese Kultur einbinden und zur Teilhabe anregen.

Technische Neuerungen, eine Erweiterung von Distributionsnetzwerken, aber auch Veränderungen im Bildungswesen und im Freizeitverhalten führen dazu, dass die Buch- und Lesekultur stets an veränderte Gegebenheiten angepasst werden muss. Seit dem neunzehnten Jahrhundert ist der Begriff der Lesekul-tur stark an ein bildungsbürgerliches Konzept von Bildung geknüpft, das dem Erwerb von (inkorporiertem) kulturellem Kapital entspricht sowie der Vermitt-lung von „kultureller Kompetenz,“ die sowohl Literaturgeschichte und Text-analyse umfasst, als auch das Verständnis für literarische Motive, Themen und Autoren.111 Für Großbritannien allgemein ist der aus dem deutschen Bürgertum 106 Siehe Schön, „Lesekultur,“ 160.

107 Siehe Eggert und Garbe, Literarische Sozialisation, 20.

108 Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur, 258.

109 Eggert und Garbe, Literarische Sozialisation, 20.

110 Siehe Eggert und Garbe, Literarische Sozialisation, 20; zum Habitus siehe Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Frankfurt am Main, 1978), 277–286, 405–442; Boike Rehbein und Gernot Saalmann, „Habitus (habitus)“ in Bourdieu-Handbuch: Leben-Wirken-Wirkung, hg. v. Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein (Stuttgart, 2009), 111–118.

111 Andreas Baer, et  al., „Politische Rahmenbedingungen der Lesekultur,“ Hand-buch Lesen, hg. v. Bodo Franzmann, et al. (Baltmannsweiler, 2006), 432–470, 434;

vgl. Schön, „Geschichte des Lesens,“ 44; Pierre Bourdieu, „Ökonomisches Kapital,

des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts stammende normative Kulturbegriff mit seinem Zusammenhang von Bildung und bürgerlichen Werten etwas abzu-schwächen, da hier die „historische und kulturelle Spezifität der [kollektiven]

Lebensweise“ im Mittelpunkt steht.112 Der holistische Kulturbegriff rückt weni-ger normative Beschreibungen von Kultur in den Vordergrund, als dass er kon-textualisiert und historisiert wird. Dies bedeutet, dass Kulturen als „spezifische Lebensweisen einzelner Kollektive in der Geschichte“ wahrgenommen werden, die sich als Kollektiv von Personen (Gemeinschaft), als geteilter Raum (geogra-phische Zuordnung) und als Kontinuität der Zeit (historische Traditionen) dar-stellen lassen.113

Nicht zuletzt sind es jedoch die Akteure auf dem Buchmarkt selbst, die die Buch- und Lesekultur entscheidend gestalten: Autoren durch ihre Texte, Ver-leger durch ihre komplexe Rolle als Kapitalgeber, Produzenten und Händler, Buchhändler, die Verlagsprodukte verbreiten und Leser als Rezipienten, die durch ihr Lese- und Kaufverhalten die Buch- und Lesekultur prägen.

Das folgende Kontextkapitel soll einen Überblick über die Bedingungen des britischen Buchmarktes des neunzehnten Jahrhunderts geben. Neben einer Ein-ordnung in einen gesellschaftlich-politischen Rahmen, wird besonderes Augen-merk auf drei zentrale Aspekte der Studie gelegt: Der Verleger wird ebenso in diesen Kontextrahmen eingeordnet wie der Leser. Hierbei spielen allgemeine Bedingungen wie technologische Veränderungen der Produktionsmöglichkei-ten und Gesetzgebungen ebenso eine Rolle wie BildungsmöglichkeiProduktionsmöglichkei-ten. Darüber hinaus wird hier der Nutzen der autobiographischen Quelle für die historische Leserforschung diskutiert.

kulturelles Kapital, soziales Kapital,“ Soziale Ungleichheiten, hg. v. Reinhard Kreckel (Göttingen, 1983), 183–198, 185–190.

112 Sommer, „Kulturbegriff,“ 417; vgl. Raymond Williams, Culture and Society, 1780–1950 (New York, 1960), xiv–xvii, 37–39, 125.

113 Siehe Andreas Reckwitz, „Kulturelle Differenzen aus praxeologischer Perspek-tive: Kulturelle Globalisierung jenseits von Modernisierungstheorie und Kultures-sentialismus,“ Kulturen vergleichen: Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, hg. v. Ilja Srubar, Joachim Renn und Ulrich Wenzel (Wiesbaden, 2005), 92–111, 95; Julia Sattler, Nationalkultur oder europäische Werte? Britische, deut-sche und französideut-sche Auswärtige Kulturpolitik zwideut-schen 1989 und 2003 (Wiesbaden, 2007), 11–13.

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