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Lesesozialisation und literarische Sozialisation

1.6 Begriffliche Klärungen .1 Lesebiographie.1 Lesebiographie

1.6.2 Lesesozialisation und literarische Sozialisation

Als Sozialisation versteht man gemeinhin den Entwicklungs- und Erziehungs-prozess eines Menschen zur gesellschaftlichen Teilhabe. Dies ist eine Persön-lichkeitsentwicklung, die durch persönliche, familiäre und gesellschaftliche Faktoren beeinflusst und geleitet wird und die zum Ziel hat, das Individuum

75 Vgl. Kap. 3.1.2.2.

76 Vgl. Kap. 3.3.2.3.

77 Vgl. Kap. 3.2.2.2.

78 Vgl. Kap. 3.3.2.2, 3.3.2.4.

in die Gesellschaft zu integrieren und zur sozialen Teilhabe zu befähigen.79 Der Sozialisationsprozess findet nicht nur in Abhängigkeit, sondern auch gerade in der Auseinandersetzung „mit der gesellschaftlich vermittelten sozialen, kulturel-len und dinglich-materielkulturel-len Umwelt“ statt.80

Die Lesesozialisation ist schließlich der „Prozess der Aneignung der Kom-petenz zum Umgang mit Schriftlichkeit“, einerseits als „Erwerb der Fähigkeit zur Dekodierung schriftlicher Texte“, aber auch als „Erwerb von Kommunika-tionsinteressen und kulturellen Handlungen, die in einer literalen Kultur die Möglichkeiten der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in starkem Maße beeinflussen“.81 Bettina Hurrelmanns Definition der Lesesozialisation macht die Prozesshaftigkeit des Lesenlernens deutlich; die Lesesozialisation ist jedoch scharf von einer bewussten und didaktisch geprägten Leseerziehung abzugren-zen.82

Die frühe Lesesozialisation, die in der Familie stattfindet, lässt sich in drei Phasen unterteilen: In der ersten, der prä- und paraliterarischen Phase werden (Vor-)Kenntnisse von Literatur und der Umgang mit Sprache über sogenannte

„kompetente Andere“, in der Regel Familienmitglieder, durch gemeinsames Singen, Vorlesen, ‚Lesen‘ von Bilderbüchern und Erzählen von Geschichten mündlich vermittelt. Diese Phase umfasst das Geschichten erzählen ebenso wie Rollen- und Sprachspiele.83 Lesesituationen, Motive und Charaktere oder auch beteiligte Personen können jedoch in der Regel später nur vereinzelt, das heißt kontextlos, erinnert werden; das eigentliche Lesenlernen wird nicht erinnert.84

79 Siehe Matthias Grundmann, Sozialisation: Skizze einer allgemeinen Theorie (Konstanz, 2006), 9–41; Klaus Hurrelmann, „Sozialisation“, Lexikon Soziologie und Sozialtheorie, hg. v. Sina Farzin und Stefan Jordan (Stuttgart, 2008), 253–256.

80 Hurrelmann, Hammer und Nieß, Leseklima in der Familie, 71.

81 Bettina Hurrelmann, „Sozialisation: (individuelle) Entwicklung, Sozialisationstheo-rien, Enkulturation, Mediensozialisation, Lesesozialisation(-erziehung), literarische Sozialisation“, Lesesozialisation in der Mediengesellschaft: Zentrale Begriffsexplikationen, hg. v. Norbert Groeben (Köln, 1999), 105–115, 111–112.

82 Hurrelmann definiert Leseerziehung als „Handlung[], durch die Menschen versuchen, planmäßig auf die Handlungen, Kompetenzen und Einstellungen anderer Einfluss zu nehmen“ („Sozialisation“, 112).

83 Siehe Hurrelmann, Hammer und Nieß, Leseklima in der Familie, 140–141.

84 Siehe Schüler 2003:Lesen und Schreiben, hg. v. Achim Barsch, et al. (Seelze, 2003), darin Sabine Elias, „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: Lesesozialisation in der Familie“, 58–61, 60, und Susanne Becker, „Vom Vorlesen und Vorleben: Literarische Soziali-sation vor dem Schulbeginn“, 62–64, 62–63; vgl. Hurrelmann, Hammer und Nieß, Leseklima in der Familie, 7–8, 140–141; Eggert und Garbe, Literarische Sozialisation,

Die zweite Phase beginnt mit dem Eintritt in die Schriftlichkeit, an dessen Anfang der Erwerb einer grundlegenden Lesefertigkeit steht, die das reine Ent-ziffern von Buchstaben und Dekodieren von einzelnen Wörtern zum Ziel hat (Alphabetisierung). Diese Phase wird schließlich von der dritten Phase abgelöst, in der das Kind selbstständig lesen kann. In dieser Phase der Lesekompetenz werden Wörter und Sätze in einen Sinnzusammenhang gestellt. Der Leser muss grundlegende Informationen aus einem Text filtern können (Textverständnis).85 Dieses Phasenmodell ist mit Einschränkungen auf das neunzehnte Jahrhundert in Großbritannien übertragbar. Allerdings ist anzumerken, dass der Eintritt in die Schriftlichkeit hier ohne eine allgemeine Schulpflicht nicht an das moderne (deutsche) Schuleintrittsalter von sechs Jahren gebunden war.

Für Hartmut Eggert und Christine Garbe setzt die literarische Rezeptions-kompetenz sowohl Lesefertigkeit als auch LeseRezeptions-kompetenz und darüber hinaus ein erweitertes Leseinteresse voraus. Die literarische Rezeptionskompetenz schließt nicht nur das Sinnverstehen eines Textes ein, sondern ebenso inter-pretatorische Vorgänge sowie die Fähigkeit, das Gelesene in einen größeren (literarischen) Zusammenhang einzuordnen. Es lässt sich jedoch nicht nur eine literarische Rezeptionskompetenz erlernen, die sich an einer Literaturdefinition nach ästhetischen Aspekten orientiert, sondern auch eine allgemeine Rezep-tionskompetenz unter Anwendung eines weiten Literaturbegriffes, der ebenso nicht-fiktionale Texte einschließt. Weiter wird eine kompetente Auseinander-setzung des Gelesenen mit anderen Personen in der sogenannten Anschluss-kommunikation ermöglicht.86 Als Anschlusskommunikation werden alle auf dem Leseprozess, der sowohl individuell aber auch in Gruppen stattfinden sowie stilles aber auch lautes Lesen beinhalten kann, aufbauenden Kommunikations-prozesse mit anderen sowie die (individuelle) Weiterverarbeitung des Gelesenen angesehen.87

64; Gretchen R. Galbraith, Reading Lives: Reconstructing Childhood, Books, and Schools in Britain, 1870–1920 (New York, 1997), 25, 42–47.

85 Siehe Becker, „Vom Vorlesen und Vorleben“, 63; Eggert und Garbe, Literarische Sozia-lisation, 27–31, 45–51, 59–65.

86 Siehe Eggert und Garbe, Literarische Sozialisation, 8–17; Müller-Oberhäuser, „Lesende Mädchen und Frauen“, 349–350.

87 Siehe Cordula Artelt, et al., Förderung von Lesekompetenz: Expertise, hg. v. Bundes-ministerium für Bildung und Forschung (Berlin, 2007), 41; Mechthild Dehn, et al.,

„Lesesozialisation, Literaturunterricht und Leseförderung in der Schule“, Handbuch Lesen, hg. v. Bodo Franzmann, et al. (Baltmannsweiler, 2006), 568–637.

Die Lesesozialisation ist folglich als „Prozess der Enkulturation des Kindes“88 zu verstehen, der nicht nur historisch und kulturell variabel ist, sondern auch durch familiäre Voraussetzungen entscheidend geprägt wird. Ebenso verhält es sich mit dem Begriff der ‚literarischen Sozialisation,‘ der einerseits weiter, andererseits enger gefasst ist als der der ‚Lesesozialisation.‘ Hier geht es um den

„Erwerb der Kompetenz zur Rezeption und Verarbeitung von fiktionalen/ästhe-tischen Texten in unterschiedlichen Präsentationsformen“.89 Die „Grenzüber-schreitung zwischen den Medien“90 als Vermittlung erzählerischer Lesestoffe (Literatur) ist einerseits gattungsspezifisch eingeschränkt, da hier ausdrücklich auf literarästhetische Aspekte Bezug genommen wird. Andererseits wird hier die Sozialisation über das Buch als Vermittlungsform hinaus betrachtet und beinhaltet zusätzlich mündliche und visuelle Medien. Für das neunzehnte Jahr-hundert sind hier insbesondere ritualisierte Vorlesesituationen in der Familie, aber auch schauspielerische Darbietungen von Bedeutung.

Sowohl die Lesesozialisation als auch die literarische Sozialisation gehen über den Erwerb grundlegender Lesefertigkeiten und -kompetenzen, wie das Entzif-fern von Buchstaben und die Bedeutungszuschreibung, hinaus und beinhalten die aktive Teilhabe an der literalen Kultur. Die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich mit Lesestoffen auseinanderzusetzen, setzt den Umgang mit Merkmalen literarischer Texte wie etwa literarisches Verstehen, Fiktionsbewusstsein, indi-rektem Sprachgebrauch, Erzählperspektiven und Gattungskonventionen vor-aus.91 Doch ist die Lesesozialisation nicht auf literarische Texte beschränkt und der Leser lernt, ebenso mit Textmerkmalen anderer Gattungen umzugehen. Die Lesesozialisation ist in der Leserforschung von zentraler Bedeutung, da davon ausgegangen wird, dass die frühkindliche (Lese-)Sozialisation Auswirkungen auf das spätere Lese(er)leben hat.

88 Becker, Elias und Hurrelmann, „Quellenrecherche und -interpretation“, 154; siehe Hurrelmann, „Sozialisation“, 109–111. Nach Hurrelmann ist Enkulturation als Teil des Sozialisationsprozesses zu verstehen und bezeichnet den Prozess des Hineinwachsens eines Individuums in die Kultur durch das nicht bewusste Verinnerlichen wichtiger Aspekte dieser Kultur (113).

89 Hurrelmann, „Sozialisation“, 113; siehe Eggert und Garbe, Literarische Sozialisation, 7–8.

90 Eggert und Garbe, Literarische Sozialisation, 1.

91 Siehe Eggert und Garbe, Literarische Sozialisation, 22–24; Dehn, et al., „Lesesozialisa-tion, Literaturunterricht und Leseförderung“, 568–569, 572–575.

1.6.3 Leseklima

Das familiäre Klima, also „die je spezifische Ausgestaltung der Interaktions- und Kommunikationsprozesse unter den Familienmitgliedern“,92 wirkt sich entschei-dend auf die Lesemotivation und Lesefreude der einzelnen Familienmitglieder aus. Das Leseklima ist nicht als isoliertes Phänomen innerhalb der Familie anzu-sehen, sondern in ihren Lebensalltag integriert.93 In ihrer Studie zum Leseklima in der Familie stellen Hurrelmann, Hammer und Nieß einen Zusammenhang zwischen Leseklima und Lesesozialisation her. Werden das Lesen und das Buch wie selbstverständlich in den Lebensalltag der Familie integriert, werden Kinder in ihrem Lesen gefördert und angeleitet, stehen ihnen verschiedene Lesestoffe zur Verfügung, finden sie angemessene Anregung und Kommunikation, so ist das allgemeine Leseklima als positiv und als der Lesesozialisation förderlich zu bewerten.94 Gerade das ‚Nebenher‘ sowie unbewusste und ungeplante Lernpro-zesse und die Orientierung an vertrauten Familienmitgliedern im Gegensatz zu institutionalisierten, didaktisch-geschulten Dritten, erzielen durch Vorbildfunk-tion und aktive Begleitung positive (Lese-)Effekte.95 Das Leseklima einer Familie zeichnet sich durch den Zugang zu Büchern und anderen Lesestoffen im Haus-halt, durch gemeinsam erlebte Lesesituationen, durch Leseempfehlungen und Anregungen, aber auch die Beobachtung von Lesevorbildern aus.96

Im Gegenzug behindert ein nicht-förderndes Leseklima innerhalb der Fami-lie die Entwicklung zum Leser. Dies kann bedeuten, dass Anregungen eher von außerhalb kommen, Lesestoffe eigenständig beschafft werden müssen, keine Anschlusskommunikation stattfindet und die Familie weder einen positiv- noch einen negativbesetzten Bezug zum Buch und zum Lesen hat. Es ist jedoch auch möglich, dass ein restriktives Leseklima in der Familie vorherrscht beziehungs-weise das familiäre Klima dem Lesen restriktiv gegenübersteht. Hier findet die

92 Hurrelmann, Hammer und Nieß, Leseklima in der Familie, 180.

93 Siehe Hurrelmann, Hammer und Nieß, Leseklima in der Familie, 46.

94 Siehe Hurrelmann, Hammer und Nieß, Leseklima in der Familie, 242–269, 268; vgl.

Bettina Hurrelmann, „Ein erweitertes Konzept von Lesekompetenz und Konsequen-zen für die Leseförderung“, Schieflagen im Bildungssystem: Die Benachteiligung der Migrantenkinder, hg. v. Georg Auernheimer, 5. Aufl. (Wiesbaden, 2013), 161–176, 163;

Becker, „Vom Vorlesen und Vorleben“, 64; Norbert Groeben, „(Lese-)Sozialisation als Ko-Konstruktion: Methodisch-methodologische Problem-(Lösungs-)Perspektiven“, Lesesozialisation in der Mediengesellschaft: Ein Forschungsüberblick, hg. v. Norbert Groeben und Bettina Hurrelmann (Weinheim, 2004), 145–168.

95 Siehe Elias, „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, 59.

96 Siehe Müller-Oberhäuser, „Lesende Mädchen und Frauen“, 350.

Lesesozialisation als Akt der Rebellion, im Verborgenen und gegen den Wider-stand der Familie statt. Hurrelmann, Hammer und Nieß haben festgestellt, dass Restriktionen die Entwicklung zum Leser hemmen und behindern, in der Regel aber die Leserwerdung nicht verhindern können.97 Für die vorliegende Studie ist zu betonen, dass es insbesondere durch die Autodidaktenkultur des neun-zehnten Jahrhunderts möglich war, ein negatives oder indifferentes Leseklima innerhalb der Familie auszugleichen. Es besserten sich nicht nur die Möglich-keiten der Lektürebeschaffung, auch zahlreiche Institutionen boten Autodidak-ten MöglichkeiAutodidak-ten zur Selbstbildung und zum Austausch, die ihnen im Zuge politischer und sozialer Reformen die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichten und konkret zu verbesserten Lebensumständen durch sozialen Aufstieg führten.