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Leser und ihre Bildungsmöglichkeiten

2.3 Leser im neunzehnten Jahrhundert

2.3.1 Leser und ihre Bildungsmöglichkeiten

Die Entwicklung der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Lesestoffen war an steigende Leserzahlen geknüpft. Zur Einschätzung von Leserzahlen werden in der historischen Leserforschung Heiratsregister und Zensusunterlagen als sta-tistische Grundlage herangezogen. Es wird davon ausgegangen, dass Personen, die mit ihrem Namen unterzeichneten, lesefähig waren, da die Lesefähigkeit der Schreibfähigkeit vorausging.165 Der Begriff der ‚Lesefähigkeit,‘ englisch: literacy, bezeichnet nicht nur die Fähigkeit, Buchstaben aneinander zu reihen und zu lesen, sondern umfasst Kompetenzen des Lesens und des Schreibens gleicher-maßen.166

Die Zahl der Lesefähigen nahm insbesondere während der industriellen Revolution stetig zu. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Einerseits förderte die Verfügbarkeit von Lesestoffen Möglichkeiten, sich autodidaktisch weiterzubil-den, und den Wunsch nach ablenkender und unterhaltender Lektüre. Ande-rerseits machten die gesellschaftlichen Veränderungen eine Lesefähigkeit zur aktiven Teilhabe am öffentlichen Leben schlicht notwendig. Viele Tätigkeiten erforderten zumindest grundlegende Lese- und Schreibkenntnisse: Vorarbeiter-tätigkeiten in Fabriken, Arbeitsmöglichkeiten in der Industrie, im Handel, im Bankenwesen und im öffentlichen Dienst.167 Auch eine Elementarbildung von Fabrikarbeitern wurde teils befürwortet, da besser ausgebildete Arbeiter die Produktivität steigerten und sie in der Lage waren, die durch die Mechanisie-rung eingesetzte Technik sinnvoll und ökonomisch einzusetzen.168 Während die Bildung von Arbeitern letztlich darauf abzielte, die Produktion zu steigern und eine gewisse soziale Stabilität zu erhalten, bedeutete ein höherer Bildungsstand

a Reflection of Mid-Victorian Doctrine“, The Australian Library Journal, 44.1 (1995), 47–54, 50–52.

165 Zur Problematik der Unterschrift als Indikator für Lesefähigkeit siehe Patricia Crain,

„New Histories of Literacy“ in A Companion to the History of the Book, 467–479, 471–472; W. B. Stephens, „Literacy in England, Scotland, and Wales, 1500–1900“, History of Education Quarterly, 30.4 (1990), 545–571, 553–554; Howsam, „The History of the Book in Britain, 1801–1914“, 301.

166 Siehe „literacy, n.“, Oxford English Dictionary, Juni 2017 <http://www.oed.com/view/

Entry/109054>.

167 Siehe Michael Sanderson, „Literacy and Social Mobility in the Industrial Revolution in England“, Past and Present, 56 (1972), 75–104, 91–94, 97–98, 102; Thomas W. Laqueur,

„Literacy and Social Mobility in the Industrial Revolution in England“, Past and Pre-sent, 64 (1974), 96–107, 102–103.

168 Siehe Altick, The English Common Reader, 142–143.

ebenso die Möglichkeit zu sozialem Aufstieg. Veränderungen der beruflichen Perspektiven und eine Ausweitung von Bürotätigkeiten machten dies möglich.

Darüber hinaus bedingte die politische und gesellschaftliche Partizipation die Notwendigkeit, sich über neueste Entwicklungen in der Tagespresse zu infor-mieren.169 Die wirtschaftliche und politische Entwicklung Großbritanniens wird nicht als Folge der zunehmend lesefähigen Bevölkerung angesehen, sondern als Grund für das stetige Wachstum des Lesepublikums.170

Zwischen 1754 und 1840 stieg der Anteil der lesefähigen Männer in England von 60% auf 67%, im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der weiblichen Lese-fähigen von 40% auf 50%. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren bereits 70% der Männer und 54% der Frauen lesefähig. Bis zur Jahrhundertwende konnten über 97% der Männer und über 96% der Frauen lesen.171 Statistiken für Schottland zeigen eine ähnliche Entwicklung, wenngleich hier bereits Mitte des neunzehnten Jahrhunderts 87% der Männer und Frauen lesefähig waren.172 Unterschiede in der Lesefähigkeit lassen sich jedoch nicht nur zwischen den Geschlechtern beobachten, sondern auch zwischen Angehörigen unterschied-licher sozialer und berufunterschied-licher Gruppen. Die größte Anzahl der Lesefähigen ist in der Gruppe des Adels, der Landeigentümer sowie der akademischen Berufe (Mediziner, Juristen, aber auch Lehrer) zu finden. Diese Gruppe ist gefolgt von Grundbesitzern, Kaufleuten und Ladenbesitzern, aber auch vereinzelten Fach-arbeitern. Am wenigsten lesefähig waren Bauern, Arbeiter, Fabrikangestellte und Minenarbeiter.173 Der so häufig strapazierte Begriff des ‚common readers,‘

der im neunzehnten Jahrhundert seine ersten Leseerfahrungen machte, bezeich-nete insbesondere die zweite Gruppe, die der oberen Arbeiterschicht und der Mittelschicht zugezählt werden konnte und zunehmend über finanzielle Mittel und Freizeit verfügte.174

169 Siehe Lyons, „New Readers“, 334–342.

170 Siehe Stephens, „Literacy in England, Scotland, and Wales“, 545–571, 555–556, 559;

R. S. Schofield, „Dimensions of Illiteracy, 1750–1850“, Explorations in Economic His-tory, 10.4 (1973), 437–454; Altick, The English Common Reader, 171–172; Maurer, Kleine Geschichte Englands, 402.

171 Siehe Stephens, „Literacy in England, Scotland, and Wales“, 555; Altick, The English Common Reader, 171.

172 Siehe Stephens, „Literacy in England, Scotland, and Wales“, 556; Houston, Scottish Literacy and the Scottish Identity, 2–3.

173 Siehe Stephens, „Literacy in England, Scotland, and Wales“, 559.

174 Siehe Altick, The Englisch Common Reader, 6–7.

Elementarbildung und eine grundlegende Lesefähigkeit wurden in verschie-denen Schulen vermittelt. Dies umfasste das Erlernen der „three r’s“ (reading, writing, arithmetic) und wurde in der Regel durch Lesen, Abschreiben und stete Wiederholung vermittelt. Die Bibel war bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhun-derts häufig der einzige Lesestoff in der Schule. Grundlagenkenntnisse wurden jedoch auch weiterhin mit den sogenannten horn-books vermittelt, auf denen eine Seite mit dem Alphabet, Silben und dem Vaterunser zum Auswendigler-nen befestigt war. Schulen der Zeit waren beispielsweise die kirchlichen Sun-day schools, die zur Vermittlung von Lese- und Schreibkompetenz, aber auch des christlichen Glaubens beitrugen. Der Erfolg dieser Schulen ist nicht so sehr darin zu sehen, dass plötzlich Schüler, die diese Schulen besuchten, lesen und schreiben konnten, sondern dass ein Bewusstsein für die Notwendigkeit entstand, diese Fähigkeiten zu erwerben.175 Frauen, die über keine formale Qualifikation verfügten, erteilten hier in der Regel den Unterricht. Ebenso weit-verbreitet waren die sogenannten dame schools, die häufig von Frauen einer Gemeinde geführt wurden und den Kindern der Nachbarschaft das Lesen und Schreiben beibringen sollten. Doch auch diese Frauen waren für ihre Aufgabe in der Regel nicht qualifiziert und der Besuch dieser Schulen bedeutete oft ledig-lich, dass Kinder, die noch nicht zum Lebensunterhalt der Familie beitrugen, beaufsichtigt waren.176

Der normale Schulunterricht fand in day schools statt. In diesen Schulen wur-den bis zu 100 Schüler verschiewur-dener Altersstufen gemeinsam unterrichtet. Da es keine geregelte Lehrerausbildung gab, wurden diese Kinder häufig von Lehrern unterrichtet, die selbst nur grundlegende Bildungskenntnisse vorweisen konn-ten. Unterstützung erhielten sie von Schüler-Assistenten, die nach einer kurzen Einweisung den Unterricht im sogenannten „monitorial system“ übernahmen.177 Um die Mängel der Schulbildung, die durch das System hervorgerufen wurden, zu beseitigen, wurden unter dem Revised Code von 1862 Maßnahmen erlas-sen, die die Förderung öffentlicher Schulen von den Prüfungsergebnissen der Schüler abhängig machte. Gegner dieser Maßnahmen brachten vor, dass sich

175 Siehe Altick, The English Common Reader, 67–69; Anita McConnell, „Raikes, Robert (1736–1811)“, Oxford Dictionary of National Biography, 2004 <http://dx.doi.

org/10.1093/ref:odnb/23016>.

176 Siehe Altick, The English Common Reader, 147; J. H. Higginson, „Dame Schools“, British Journal of Educational Studies, 22.2 (1974), 166–181; D. P. Leinster-Mackay,

„Dame Schools: A Need for Review“, British Journal of Educational Studies, 24.1 (1976), 33–48.

177 Siehe Altick, The English Common Reader, 150–152.

schulische Ergebnisse nicht messen ließen und die Abhängigkeit von quanti-fizierbaren Ergebnissen dazu führen würde, dass die Schüler die besten Prü-fungsergebnisse erzielten, die ganze Textbücher auswendig konnten. Allerdings war dies ein ernsthafter Versuch, die Schulbildung qualitativ zu verbessern und einen kontinuierlichen Schulbesuch von Kindern zu gewährleisten.178

Erst 1870 nahm der Staat mit dem von William Forster initiierten Elemen-tary Education Act bewusst Einfluss auf die Entwicklung der Schullandschaft. Es wuchs das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer in Grundzügen gebildeten Bevölkerung, um die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit der Nation gewähr-leisten zu können, aber auch, um die unter dem Reform Act von 1867 mit dem Wahlrecht ausgestatteten Facharbeiter der Unterschicht zu politisch mündigen Bürgern zu erziehen. Es wurde aber auch befürchtet, dass Bildung den Arbei-tern die Augen für ihre Lebensumstände öffnete.179 Unter dem Gesetz wurde zunächst lediglich festgelegt, dass Schulen von lokalen Schulbehörden errich-tet werden sollten. Diese waren verpflicherrich-tet, eine Elementarbildung anzubieten sowie Kontrollen der Schulinspektoren zu ermöglichen. Jede Schule erhob ein Schulgeld, das bei Bedürftigkeit von der Schulbehörde übernommen werden konnte. Eine allgemeine Schulpflicht wurde erst mit dem Elementary Education Act von 1880 eingeführt; die Abschaffung der Schulgebühren wurde schließlich 1891 durchgesetzt.180 Richard Altick hält den Einfluss der Elementary Education Acts auf die Alphabetisierung der Bevölkerung insgesamt für gering. Er bekräf-tigt jedoch, dass unter dem Gesetz Schulen in Regionen errichtet wurden, in denen es sonst keine positive Entwicklung gegeben hätte und so die Wachstums-zahlen der Lesefähigen konstant geblieben wären. So profitierten insbesondere die Schichten und Regionen, die unter dem vorherigen System kaum erreicht wurden.181

178 Siehe A. J. Marcham, „Recent Interpretations of the Revised Code of Education, 1862“, History of Education, 8.2 (1979), 121–133, 127, 129; Altick, The English Common Reader, 156–158.

179 Siehe Greenblatt und Abrams, „The Victorian Age“, 988–989; Altick, The English Com-mon Reader, 171–172.

180 Siehe „A Bill to Provide for Public Elementary Education in England and Wales [Ele-mentary Education Act 1870]“, „A Bill Intituled an Act to Make further Provision as to Byelaws Respecting the Attendance of Children at School under the Elementary Education Acts [Elementary Education Act 1880]“ und „A Bill to Make Further Pro-vision for Assisting Education in Public Elementary Schools in England and Wales [Elementary Education Act 1891]“ alle in U.K. Parliamentary Papers <https://parli-papers.proquest.com>.

181 Siehe Altick, The English Common Reader, 171–172.

Gesellschaftlich prägend waren die in den public schools tradierten Elemente der Erziehung von gentlemen. An diesen Werten orientierten sich nun auch Unternehmer, kleine Gewerbetreibende und auch Teile der gelernten Arbeiter-schaft. Ziel war es, den sozialen Aufstieg zu gewährleisten und wertvolle Bezie-hungsgefüge zu etablieren. Zwei Aspekte sind hier hervorzuheben. Zum einen spielte die Vermittlung von Latein in public schools weiterhin eine große Rolle,182 während die Naturwissenschaften und auch der (englische) Literaturunterricht als weniger bedeutend angesehen wurden. Viele Autodidakten orientierten sich an diesem Bildungsideal und verwiesen auf ihre extensive Lektüre klassischer Autoren, teils im Original.183 Zum anderen entwickelte sich in den public schools eine regelrechte Sportkultur, die neben der körperlichen Ertüchtigung, die Ver-mittlung gesellschaftlich anerkannter Werte wie Durchsetzungsvermögen, Wett-kampfverhalten und Fairness zum Ziel hatte.184 Darüber hinaus wurde über die Sportkultur ein Männlichkeitsideal transportiert, das die physische Kraft betonte und das Konzept der muscular Christianity vermittelte, einer auf der Gewissheit körperlicher Überlegenheit basierenden Ansicht, die auch für das Verständ-nis des Empires von Bedeutung war.185 Thomas Hughes, von seinen eigenen Erlebnissen in Rugby School inspiriert, trug mit seinem Roman Tom Brown’s Schooldays (1857) dazu bei, dieses Ideal zu verbreiten.186 Schüler, die nicht am sportlichen Wettkampf oder körperlichen Auseinandersetzungen teilnahmen, waren gezwungen, sich andere Vergnügungen zu suchen. Dieses Männlichkeits-ideal beeinflusste nicht nur C. Kegan Paul, der der Mittelschicht angehörte und die public school Eton besuchte, sondern auch die Autodidakten William und Robert Chambers sowie Joseph Dent, die sich an diesem Ideal orientierten. Die Chambers-Brüder und Dent erkannten das virile Männlichkeitsbild durch ihre Verteidigungshaltung an, sich aufgrund körperlicher Defizite nicht an sportli-chen Aktivitäten beteiligen zu können.187

182 Siehe John Chandos, Boys Together:  English Public Schools, 1800–1864 (Oxford, 1985), 31–33.

183 Vgl. Kap. 3.1.2.3; Thomas Cooper, The Life of Thomas Cooper (London, 1872), 55–61.

184 Siehe Chandos, Boys Together, 22–29, 76–79, 147–152; Maurer, Kleine Geschichte Englands, 402–403; Altick, The English Common Reader, 179–183.

185 Siehe Nünning, „Das Britische Empire“, 200–205; Chandos, Boys Together, 138–140, 278–282; Jenny Holt, Public School Literature, Civic Education and the Politics of Male Adolescence (Aldershot, 2008), 37–38, 73–74.

186 Siehe Chandos, Boys Together, 45; Holt, Public School Literature, 58–82.

187 Vgl. Kap. 3.1.2.3, 3.3.2.2.