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Die vorliegende Studie knüpft an diese Forschungsstränge an und rekonstruiert die Lesebiographien britischer Verleger des neunzehnten Jahrhunderts anhand von Autobiographien, um die Auswirkungen der Lese- beziehungsweise Buch-sozialisation59 auf die Vermittlerrolle des Verlegers und seine Entwicklung als Verleger herauszuarbeiten. Nicht nur ist der Verleger durch die Buch- und Lese-kultur seiner Kindheit und Jugend geprägt, er wirkt auch durch sein verlegeri-sches Schaffen aktiv und bewusst auf diese Kultur ein. Entscheidend für diese Studie ist jedoch nicht nur die Lesesozialisation der Verleger, sondern auch ihr daraus entstehendes Selbstbild und Selbstverständnis als Verleger.

Die Struktur der vorliegenden Studie orientiert sich an den chronologisch aufgebauten Quellen und zeichnet die Entwicklungsschritte der Verleger nach.

Darüber hinaus ergibt sich aus der Fragestellung eine Zweiteilung der Studie.

In einem ersten Teil geht es um die Rekonstruktion der Lesebiographie bis zum Ende der schulischen Bildung; in einem zweiten Teil um die Herausarbeitung des Verlagsprofils unter Berücksichtigung der erfolgten Lesesozialisation.60

Die Auswahl der Verleger resultiert aus Vorüberlegungen, die die Quellen betreffen. Das autobiographische Quellenmaterial muss bestimmte Kriterien erfüllen, um für die Fragestellung von Nutzen sein zu können. In den Auto-biographien müssen Lesestellen dokumentiert sein, die eine gewisse Band-breite an Leseerfahrungen abdecken, von Auflistungen von Titeln und Autoren bis hin zu detaillierten Beschreibungen von Lesesituationen, die auch situative Beschreibungen und Bewertungen beinhalten, beteiligte Personen nennen und die Lesewirkung schildern. Ebenso müssen die Autobiographen ihren Bildungsweg beschreiben, um den Einfluss außerfamiliärer Instanzen auf die Lesesozialisation bewerten zu können.61 Ausgehend von der rekonstruierten Lesebiographie, Ergebnissen der Lesesozialisation und dem entwickelten und vermittelten Selbstbild, lassen sich Aussagen treffen, die für die weitere Ana-lyse der Verlegerpersönlichkeiten im zweiten Teil der Arbeit notwendig sind.

Hierzu müssen die Verleger in den Autobiographien ihre Einstellung zum Buch und zum Lesen vermitteln, aber auch ihre Berufseinstellung und ihr Selbstbild reflektiert darstellen. Diese inhaltlichen Auswahlkriterien werden ergänzt durch

59 Unter ‚Buchsozialisation‘ wird ein über das Lesen hinausgehender erlernbarer Umgang mit dem Buch verstanden, der sowohl die Materialität, die Funktionen, aber auch die Wertschätzung des Buches einschließt.

60 Vgl. Kap. 1.5.

61 Siehe Limmroth-Kranz, „Lesen im Lebenslauf“, 118–119.

die Zugänglichkeit von weiterem Material, insbesondere der Publikationen der Verlage. Von sekundärem Interesse für die Auswahl der Verleger ist das Vor-handensein eines Verlagsarchivs, da die Autobiographie als Leitquelle der Studie anzusehen ist. Dennoch war es möglich, für die Fallstudien der Chambers-Brü-der und C. Kegan Pauls von Chambers-Brü-der Zugänglichkeit Chambers-Brü-der Verlagsarchive zu profitieren und ergänzende Informationen zu erhalten.62 Eine detaillierte Besprechung der Fallstudien ist mit dem Quellenmaterial möglich und für die Fragestellung sinn-voll.

Weiteres Material, das sich für die Ausarbeitung der Studie als nützlich erwie-sen hat, sind einerseits das Publishers’ Circular, die Fachzeitschrift des britischen Verlagswesens, die ab 1837 publiziert wurde und systematisch ausgewertet wurde, und andererseits zahlreiche zeitgenössische Zeitungen und Zeitschrif-ten, die über die Datenbanken British Periodicals, Periodicals Archive Online und 19th Century British Newspapers abrufbar sind. Diese Materialien bieten eine sinnvolle Ergänzung zu den verwendeten Primärquellen und präsentieren eine zeitgenössische Sicht, die für eine Einschätzung der Reputation der Verleger und Verlage, aber auch der Rezeption der Verlagsprodukte notwendig ist. Hierbei spielen sowohl Rezensionen der Verlagsprodukte, als mehr oder weniger neut-rale Reaktionen, aber auch die Werbung der Verlage selbst, als Hinweis auf Pub-likationsintentionen und Zielgruppen, eine Rolle. Darüber hinaus lassen sich anhand dieser periodischen Quellen zeitgenössische Diskussionen nachvollzie-hen.Die Auswahl der vier Verleger deckt das neunzehnte und frühe zwanzigste Jahrhundert ab. Es werden Veränderungen auf dem Buchmarkt, hervorgerufen durch die Mechanisierung, aber auch Veränderungen des Urheberrechts berück-sichtigt. Dieser lange Untersuchungszeitraum ist nachteilig für eine repräsen-tative und vergleichende Studie, doch erweist er sich als vorteilhaft, wenn es darum geht, signifikante technologische und gesellschaftliche Veränderungen mit den Entwicklungen der Verleger der Einzelstudien und ihre Reaktionen auf die Veränderungen herauszuarbeiten. Das früheste Fallbeispiel der Studie sind die schottischen Brüder William und Robert Chambers. Mit dieser Fallstudie wird der wachsenden Bedeutung des schottischen Buchmarktes nach der Grund-satzentscheidung im Urheberrecht von 1774 Rechnung getragen.63 Die Brüder

62 Das Chambers Verlagsarchiv konnte während eines Forschungsaufenthaltes an der National Library of Scotland in Edinburgh eingesehen werden (Chambers Deposit 341). Das Verlagsarchiv von C. Kegan Paul and Co. ist als Mikrofilmreproduktion im Institut für Buchwissenschaft & Textforschung, Münster (MF E:2) vorhanden.

63 Vgl. Kap. 2.2.1.

repräsentieren das geschäftstüchtige schottische Verlagswesen des frühen neun-zehnten Jahrhunderts. Beide wurden um die Jahrhundertwende geboren und waren ab den 1820er Jahren bis in die 1870er beziehungsweise 1880er Jahre auf dem Buchmarkt tätig, zunächst als Buchhändler, später als Verleger und Auto-ren. Sie vermittelten schottische bürgerliche Werte und publizierten Zeitschrif-ten, Sammelwerke, Handbücher und Einzeltitel, die sich im Anspruch an das wachsende Lesepublikum der Arbeiterschicht wandten, überwiegend aber die aufstrebende Mittelschicht erreichten. Dennoch galten sie bereits zu Lebzeiten als „great pioneers of the cheap literature movement“64 und übernahmen mit zunehmendem Erfolg und dem daraus resultierenden Wohlstand gesellschaft-liche Verantwortung. Den regionalen Unterschieden zwischen England und Schottland wird in einem Unterkapitel Rechnung getragen.65 Dieses Unterka-pitel dient nicht der Abgrenzung der schottischen Verleger von den Beispielen der englischen Verleger C. Kegan Paul und J. M. Dent, sondern der Einordnung gesellschaftlicher und buchhistorischer Unterschiede zwischen England und Schottland, die sich aus der Vorzeitigkeit einiger Entwicklungen sowie unter-schiedlicher religiöser und bildungspolitischer Prägungen ergaben.

Die zweite Fallstudie behandelt den englischen Verleger C. Kegan Paul. Paul hatte bereits eine berufliche Identität als anglikanischer Geistlicher und Lehrer entwickelt, bevor er im Alter von 49 Jahren in das Verlagsgeschäft eintrat und 1877 den Verlag von Henry S. King übernahm, für den er zuvor als Lektor tätig war. 1888 wurde der partnerschaftlich geführte Verlag Pauls in eine Aktienge-sellschaft umgewandelt. 1895 schließlich zog sich Paul nach einem Unfall voll-ständig aus dem Verlagsgeschäft zurück. Diese Fallstudie bildet einen Gegenpol zu den ‚Buchmenschen,‘ die auf dem Buchmarkt ausgebildet wurden. Dennoch entwickelte Paul ein klares Verständnis für den Buchmarkt und die Ästhetik von Büchern. Er verlegte sowohl literarische und theologische Klassiker und Lehrbü-cher, als auch aktuelle Titel von (literarischen) Autoren wie Alfred Lord Tenny-son, Thomas Hardy, Robert Louis Stevenson und George Meredith. Zahlreiche Ausgaben des Verlages erschienen in hochwertiger Ausstattung und limitierter Stückzahl, die auf ein exklusives (Sammler-)Publikum schließen lassen. Paul ist der einzige der untersuchten Verleger, der Literatur zeitgenössischer Autoren

64 James Grant, Cassell’s Old and New Edinburgh: Its History, its People, and its Places, Bd 1 (London, [1881]), 224; siehe auch den Nachdruck von Auszügen der Memoir of Robert Chambers in Manchester Examiner and Times, 23. und 28. Februar 1872, der den Pioniergedanken weiterführte: „[William and Robert Chambers] were the pioneers and the conquerors of the movement“ (3–4, meine Hervorhebung).

65 Siehe Kap. 2.2.3.

publizierte und so eine Betrachtung der Autor-Verlegerbeziehung möglich macht. Hier wird die Mahnung Gastells deutlich, dass die Verlagsgeschichts-schreibung häufig von der Quellenlage abhängig ist.66

Die Fallstudie zu J. M. Dent bildet das abschließende Beispiel und zeigt die Auswirkungen auf den Buchmarkt des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Durch seine handwerkliche Ausbildung als Buchbinder war Dent an der materiellen Gestaltung von Büchern interessiert und etablierte verschiedene Reihen mit einem wiedererkennbaren Stil des Verlages. Er nutzte die Möglichkeiten der Technisierung, um schnell kostengünstige aber dennoch ansprechende Bücher zu publizieren, die in der Regel nicht mehr urheberrechtlich geschützt waren.

Darüber hinaus verstand er es, ein Netzwerk aufzubauen, das ihm in der Ver-lagstätigkeit nützlich war. Er knüpfte private und berufliche Kontakte zu Wissen-schaftlern verschiedener Disziplinen und zog sie als Berater oder Herausgeber seiner Publikationen heran. Dieses Beziehungsgefüge verlieh Dents Publikatio-nen zusätzliche Autorität.

Als Quellen der Fallstudien dienen einerseits die autobiographischen Schrif-ten der Verleger, aber auch die Publikationen der Verlagshäuser als materielle Manifestationen des Verlagsprofils und des verlegerischen Selbstbildes. Eine Dis-kussion der relevanten Primärquellen sowie die Publikations- und Rezeptions-geschichte des autobiographischen Materials findet sich zu Beginn der jeweiligen Fallstudien.67 Ziel dieser Studie ist es nicht, die gesamte Verlagsproduktion der drei Verlage, W. and R. Chambers, C. Kegan Paul and Co. und J. M. Dent and Co., aufzuschlüsseln und zu bewerten. Vielmehr sollen bestimmte Verlagsprodukte hervorgehoben und besprochen werden, um die Ausrichtung der Verlage sowie die Herausbildung und Entwicklung distinkter Verlagsprofile nachzuvollziehen, aber auch um das verlegerische Selbst- und Fremdbild herauszuarbeiten. Es wird sich zeigen, dass insbesondere die auf dem Buchmarkt beruflich sozialisierten Verleger William und Robert Chambers sowie J. M. Dent durch ihre Persönlich-keit und ihre persönlichen Vorstellungen, auch resultierend aus ihrer schichtspe-zifischen Lesesozialisation, das Verlagsprogramm entscheidend prägten. Diese Prägung erfolgte sowohl in der inhaltlichen Ausrichtung des Programmes wie auch in der materiellen Gestaltung der Publikationen. In einem geringeren Maß lässt sich die Validität dieses Ansatzes auch an C. Kegan Paul belegen.

66 Siehe Gastell, „Verlagsgeschichtsschreibung ohne Verlagsarchiv“, 56.

67 Siehe Kap. 3.1.1, 3.2.1 und 3.3.1.