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Das neunzehnte Jahrhundert wird als das Jahrhundert der Demokratisierung des Lesens und der Entstehung der modernen „mass reading public“ wahrge-nommen.1 Leserzahlen wurden in Millionen gemessen und das Lesen galt als respektable und produktive Freizeitaktivität, das aber auch die Grundlage für sozialen Aufstieg und die Voraussetzung für eine aktive Partizipation an der Ent-wicklung der Gesellschaft darstellte.

Diese Zeit zeichnete sich durch steten Wandel und Forscherdrang in Indus-trie, Kultur, Politik und Wissenschaft aus und war zudem von permanenter Expansion des britischen Empires geprägt. Ausgehend von der industriellen Revolution, die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts begann, entwickelte sich die agrarisch geprägte Nation zu einer modernen Industriegesellschaft. Die Dampf-maschine beeinflusste, beschleunigte und vereinfachte die wirtschaftliche Pro-duktion, aber auch das Reisen und den Transport nachhaltig.2 London wuchs zur weltweit größten Metropole an: Die Einwohnerzahl verdreifachte sich von ungefähr zwei Millionen in den 1830er Jahren auf mehr als sechs Millionen im Jahr 1901.3 Die industrielle Produktion in Fabriken erforderte eine präzise und regulierte Arbeitsorganisation, die auch Kinder als billige Arbeitskräfte einsetzte.

Gesellschaftliche Positionen wurden in der Folge infrage gestellt und Refor-men im Wahlrecht sowie die Verbesserung der Arbeits- und Lebensumstände der neu entstandenen industriellen Arbeiterschicht gefordert. Die Verbindung

1 Siehe bspw. Altick, The English Common Reader, 1–8; Rose, The Intellectual Life of the British Working Classes, 12; Martyn Lyons, „New Readers in the Nineteenth Cen-tury: Women, Children, Workers“, A History of Reading in the West, hg. v. Guglielmo Cavallo und Roger Chartier (Cambridge, 2003), 313–344, 313–315.

2 Siehe Michael Maurer, Kleine Geschichte Englands (1997; Stuttgart, 2007), 366–372.

3 Siehe Stephen Greenblatt und M. H. Abrams, Hgg., „The Victorian Age, 1830–1901“

in The Norton Anthology of English Literature: Volume 2, 8. Aufl. (New York, 2006), 979–1001, 979. Die Bevölkerung Großbritanniens verdoppelte sich im gleichen Zeit-raum nicht ganz von 24 Millionen auf 41 Millionen, während sich die Bevölkerung Schottlands beinahe von 1,6 Millionen auf 4,5 Millionen Einwohner verdreifachte (siehe John Gardiner, The Victorians: An Age in Retrospect [London, 2002], 9; Michael Maurer, Kleine Geschichte Schottlands [Stuttgart, 2008], 213).

industrieller Arbeit mit einer politischen laissez-faire Einstellung führte nach dem Ende der Napoleonischen Kriege 1815, an denen Großbritannien in ver-schiedenen Machtbündnissen beteiligt war, zu sozialen Spannungen. Für indus-trielle Arbeiter und die wachsende Zahl Arbeitsloser bestand zwar nicht die Möglichkeit, sich an Wahlen direkt zu beteiligen oder sich in Gewerkschaften zu organisieren, doch forderten sie öffentlich Reformen.4

Der Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht hatte seinen Ursprung bereits im achtzehnten Jahrhundert. Trotz des Verlusts der amerikanischen Kolonien nach der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten 1776 und dem folgenden Unabhängigkeitskrieg, der mit dem Frieden von Paris 1783 endete,5 konnte sich Großbritannien insbesondere nach 1815 für beinahe ein Jahrhundert als domi-nante See- und Weltmacht etablieren. Kaufleute profitierten von der Erweite-rung ihres Absatzmarktes auf die Kolonien und auch die heimische BevölkeErweite-rung gewöhnte sich an die Verfügbarkeit vormals exotischer Importgüter.6

Namensgebend für den größten Teil des Jahrhunderts, das unscharf als

„Viktorianische Ära“ bezeichnet wird und den Beginn der sozialen Reformen 1832 einschließt,7 ist Königin Viktoria, die ab 1837 regierte. Die Bezeichnung suggeriert eine Einheit, der beispielsweise George Landow und Vera Nünning die Wahrnehmung als „age of paradox“8 beziehungsweise „janus-gesichtige Epoche“9 entgegensetzen. Einerseits führten die umfangreichen Sozialrefor-men zu einer Verbesserung der Lebensumstände weiter Teile der Bevölkerung, andererseits wurde das Ideal der self-help propagiert, das staatliches Eingreifen zurückwies. Der technische Fortschritt führte nicht nur zu veränderten und ver-einfachten Arbeitsabläufen, sondern auch zu einem Ausbau des Schienennetzes

4 Siehe Stephen Greenblatt und M. H. Abrams, Hgg., „The Romantic Period, 1785–1830“

in The Norton Anthology of English Literature, 1–25, 2–6; Maurer, Kleine Geschichte Englands, 311–326, 336–339.

5 Siehe Jürgen Heideking, Geschichte der USA, 3., überarb. und erw. Aufl. (Tübingen, 2003), 37–56.

6 Siehe Greenblatt und Abrams, „The Romantic Period“, 4; Maurer, Kleine Geschichte Englands, 296–298, 303–306, 339; Ansgar Nünning, „Das Britische Empire in der vik-torianischen Literatur“, Kulturgeschichte der englischen Literatur: Von der Renaissance bis zur Gegenwart, hg. v. Vera Nünning (Tübingen, 2005), 196–206, 196.

7 Siehe Greenblatt und Abrams, „The Victorian Age“, 980–982.

8 George P.  Landow, „Victoria and Victorianism“, The Victorian Web, 2.  August 2009 <http://www.victorianweb.org/vn/victor4.html>.

9 Vera Nünning, „Das Neunzehnte Jahrhundert: Einführung“, Kulturgeschichte der engli-schen Literatur: Von der Renaissance bis zur Gegenwart, hg. v. Vera Nünning (Tübingen, 2005), 139–145, 141.

und damit verbundene bequemere und schnellere Transportwege. Die Nation erlebte einen nie vorher gekannten Wohlstand, der nicht zuletzt auf der opulen-ten Weltausstellung von 1851 gefeiert und zur Schau gestellt wurde, doch bedeu-tete die industrielle Revolution auch die Ausbeutung industrieller Arbeiter und unmenschliche Lebensumstände in überbevölkerten Stadtvierteln.

Die Gleichsetzung des neunzehnten Jahrhunderts mit Königin Viktoria ist nicht zuletzt mit der Dauer ihrer Regentschaft von beinahe 64 Jahren (1837–1901) begründet. Allein die Beständigkeit der Regentschaft prägte das Verständnis der Epoche und der Zeitgenossen. Viktorias Ernsthaftigkeit, ihr moralisches Verant-wortungsbewusstsein und ihr Anstand wurden als Tugenden wahrgenommen, mit denen das neunzehnte Jahrhundert und die victorians (wenn auch ungenau) beschrieben werden.10 Unterstützt und geleitet wird diese Wahrnehmung durch die Präsenz von schriftlichen und visuellen Zeugnissen der Königin, die dazu beitrugen, die Königsfamilie als Beispiel eines Mittelschichtsideals zu sehen, das sich durch Häuslichkeit, Stabilität und Sicherheit auszeichnete.11 Innenpolitisch wurde Viktoria so zum Sinnbild für Kontinuität in einem Jahrhundert, das von Veränderungen geprägt war. Die Präsenz der Königin prägt nicht nur den retro-spektiven Blick auf die Epoche, sondern begründete das Selbstverständnis der Zeitgenossen als „Victorians“.12

Um der Widersprüchlichkeit der Epoche in Ansätzen gerecht zu werden, bietet sich eine Aufteilung in drei Phasen an: die Zeit der Mühen (1830–48), eine Übergangsphase der Prosperität (1848–70) sowie das Ende viktorianischer Werte (1870–1901).13 Insbesondere in den Jahren zwischen 1830 und 1848 waren die negativen Auswirkungen der Industrialisierung zu spüren. Nach einer Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs folgten Jahre der Depression und Missernten, die in Arbeitslosigkeit, Armut und vereinzelten sozialen Unruhen mündeten. Die Lebensumstände der „time of troubles“ oder „hunger forties“14 waren insbeson-dere in den industriellen Zentren und Kohlebezirken desaströs und von Überbe-völkerung, unhygienischen Wohnsituationen und langen Arbeitszeiten geprägt.

10 Siehe Gillian Gill, We Two: Victoria and Albert. Rulers, Partners, Rivals (New York, 2010), 11–14, 177, 190.

11 Siehe H. C. G. Matthew und K. D. Reynolds, „Victoria (1819–1901)“, Oxford Dictio-nary of National Biography, Mai 2012 <http://dx.doi.org/10.1093/ref:odnb/36652>; Ira Bruce Nadel, „Portraits of the Queen“, Victorian Poetry, 25.3–4 (1987), 169–191, 170.

12 Gardiner, The Victorians, 3–17, 141–160; siehe Michael Paterson, A Brief History of Life in Victorian Britain: A Social History of Queen Victoria’s Reign (London, 2008), 1–31.

13 Vgl. Greenblatt und Abrams, „The Victorian Age“, 982–989.

14 Greenblatt und Abrams, „The Victorian Age“, 983.

Sozialreformen sollten die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung verbessern. Wegweisend war die Great Reform Bill von 1832, die der wohlhaben-den industriellen Mittelschicht das Wahlrecht zusprach und eine Veränderung der Wahlkreise nach sich zog. Die Zahl der Wahlberechtigten wuchs um 60%

und stärkte das Unterhaus gegenüber dem Oberhaus.15 Die Fabrikgesetze von 1833 und 1847 sowie das Minengesetz von 1842 begrenzten die Arbeitszeiten aller Arbeiter. Sie schrieben regelmäßige Pausen vor und regulierten den Schul-besuch von Kindern unter 13 Jahren; ab 1842 war es Frauen sowie Kindern unter 10 Jahren schließlich untersagt, in Minen tätig zu werden.16

Trotz der Reformbemühungen waren Arbeiter, die der Mittelschicht durch ihre Arbeitskraft zu Wohlstand verhalfen, nicht am Wandel beteiligt. Um ihre Interessen zu vertreten, schlossen sich verschiedene Arbeitergruppen in der sogenannten Chartistenbewegung zusammen. Die Bezeichnung leiteten sie von der People’s Charter (1838) ab, in der sechs Ziele der Bewegung festgelegt wur-den: Wahlrecht für Männer ab 21 Jahren (1867 umgesetzt; 1884 auf Farmarbeiter ausgeweitet, 1919 und 1928 auch auf Frauen), geheime Wahlen (1872 umgesetzt), Aufhebung der Eigentumsqualifikation (1858 umgesetzt), Bezahlung von Parla-mentsabgeordneten (1911 umgesetzt), eine gerechte Wahlkreisaufteilung (1885 umgesetzt) sowie jährliche Parlamentssitzungen (nicht umgesetzt). Direkte Aus-wirkungen hatte die Chartistenbewegung nicht; keine der Forderungen konnte sofort umgesetzt werden und der Einfluss der Chartisten nahm mit dem Auf-kommen der Gewerkschaften Ende der 1840er Jahre ab.17

Die Getreidezölle von 1815 führten zu einer jahrelangen Debatte um die Abschaffung hoher Schutzzölle und Einfuhrverbote, die die einheimische Land-wirtschaft schützen sollten. In der Debatte standen sich erstmalig Landbesitzer und Industrielle gegenüber. Die einen forderten den Schutz ihrer Interessen durch den Erhalt hoher einheimischer Preise, die anderen forderten den freien Handel. Nachteilig wirkten sich diese Maßnahmen in Zeiten von Missernten

15 Siehe Greenblatt und Abrams, „The Victorian Age“, 982; Maurer, Kleine Geschichte Englands, 344–346.

16 Siehe Maurer, Kleine Geschichte Englands, 347–348; „A Bill to Regulate the Labour of Children and Young Persons in the Mills and Factories of the United Kingdom [1833]“,

„A Bill to Prohibit the Employment of Women and Girls in Mines and Collieries, to Regulate the Employment of Boys and Make Provisions for the Safety of Persons Working Therein [1842]“, „A Bill to Amend an Act of the Seventh Year of Her Present Majesty Relating to Labour in Factories [1850]“ alle in U.K. Parliamentary Papers

<https://parlipapers.proquest.com/>.

17 Siehe Maurer, Kleine Geschichte Englands, 362–364, 390–392.

aus, wie es 1816 der Fall war. 1846 gab der britische Premierminister Robert Peel schließlich die sukzessive Rücknahme der Corn Laws bekannt.18 Auch wenn sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen für weite Teile der Bevölkerung nicht signifikant veränderten, so sorgten die angestoßenen Reformen dennoch dafür, dass Großbritannien relativ unbeeinflusst von revolutionären Umbrüchen blieb, wie es sie in weiten Teilen Europas gab.19

Den Mühen folgte eine relativ stabile Zeit des Wohlstands und Fortschritts-glaubens, „the great Victorian boom“.20 Reformen beschränkten die wöchent-liche Arbeitszeit weiter und etablierten den Sonntag als freien Tag (Fabrikgesetz von 1850),21 die Zahl der Wahlberechtigten verdoppelte sich nach dem Second Reform Act von 1867 und stärkte so die politische Partizipation der Arbeiter-schicht.22 Der Freihandel florierte, ebenso wie die Produktion von Agrar- und Industriegütern. Gefeiert wurde diese Zeit der Prosperität mit der „Great Exhi-bition of the Industry of All Nations“ von 1851, die von Prinz Albert maßgeblich betreut wurde.23

Die Weltausstellung wurde von Königin Viktoria am 1.  Mai  1851 im Londoner Hyde Park eröffnet und gilt als Sinnbild der Triumphe viktorianischer Industrie und Technologie. Sie öffnete bis zum 11. Oktober 1851 ihre Tore und begrüßte über sechs Millionen Besucher, die über 100 000 Exponate von mehr als 15 000 Ausstellern aus aller Welt bestaunen konnten, darunter die Drucker-presse der London Illustrated News, die stündlich 5000 Zeitungsexemplare dru-cken konnte.24 Ein gestaffeltes Preissystem sowie eintrittsfreie Tage ermöglichten

18 Siehe Maurer, Kleine Geschichte Englands, 361–362.

19 Siehe etwa die französische Februarrevolution und die deutsche Märzrevolution des Jahres 1848 (Heiner Timmermann, „Europa und die Revolution“, 1848 – Revolution in Europa: Verlauf, politische Programme, Folgen und Wirkungen, hg. v. Heiner Timmer-mann [Berlin, 1999], 13–23, 15–21). Charles Dickens, Elizabeth Gaskell, Benjamin Disraeli und andere verarbeiteten diese Zeit in den sogenannten „Condition of England-Novels“. Disraelis Sybil: or, The Two Nations (1845) prägte das Bild der geteilten Nation und offenbarte die britische Doppelmoral, die die globale Wirtschaftsmacht feierte, während diese erst durch die Ausbeutung der Arbeiter möglich wurde (siehe Joseph W. Childers, „Industrial Culture and the Victorian Novel“, The Cambridge Companion to the Victorian Novel, hg. v. Deirdre David [Cambridge, 2001], 77–96, 81, 84–91).

20 Maurer, Kleine Geschichte Englands, 374.

21 Siehe „A Bill to Amend an Act … Relating to Labour in Factories [1850]“, 2.

22 Siehe Maurer, Kleine Geschichte Englands, 390–391.

23 Siehe Gill, We Two, 244–245.

24 Siehe „Paper, Printing, and Bookbinding“ in Official Catalogue of the Great Exhibition of the Works of All Nations 1851 (London, 1851), 93–96, und in Official Descriptive

beinahe allen Bevölkerungsschichten den Besuch der Ausstellung; die Parkan-lage, die den Kristallpalast umgab, konnte kostenlos besucht werden.25 Die Welt-ausstellung machte einen überraschenden Gewinn von 186 000 Pfund, der mit unzähligen Exponaten für die Gründung der drei South Kensington Museen, dem Victoria and Albert Museum (eröffnet 1857), dem Science Museum (1857) und dem Natural History Museum (1881), verwendet wurde.26

Auch das stetig wachsende britische Empire mit seinem technischen Fort-schritt und ökonomischen Wohlstand führte zu einer globalen Expansion auf der Suche nach neuen Absatz- aber auch Rohstoffmärkten. Als wichtigste briti-sche Kolonie wurde Indien angesehen, das bis 1857 unter dem Einfluss der Bri-tish East India Company stand und mit deren Auflösung formal als Kronkolonie aufgenommen wurde. Ab 1876 führte Königin Viktoria den Titel Kaiserin von Indien. Darüber hinaus mischte sich ein soziales Verantwortungsbewusstsein in den Drang nach Expansion, das sich auf das Bewusstsein gründete, auserwählt zu sein, die Zivilisation weltweit zu verbreiten.27 Britische Errungenschaften, Technologie, Bildung und administrative Infrastruktur wurden im Empire ver-breitet und prägen noch heute das Bild ehemaliger Kolonien.

Weitere Veränderungen betrafen den christlichen Glauben. Die Church of England hatte sich bereits im achtzehnten Jahrhundert in drei Hauptstränge aufgespalten: Evangelical oder Low Church, Broad Church und High Church.

Die Low Church zeichnete sich durch eine protestantisch-calvinistische Glau-bensauffassung aus, deren Angehörige an die Bekehrung und einen christlich-moralischen Lebensstil glaubten. Die High Church war stark am Katholizismus orientiert. Sie drückte sich im Sakrament- und Liturgieverständnis und in einer

and Illustrated Catalogue of the Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations 1851, 3 Bde (London, 1851), II, 536–552.

25 Siehe Gill, We Two, 250–252; Liza Picard, „Victorians: The Great Exhibition“, The British Library, 14. Oktober 2009 <https://www.bl.uk/victorian-britain/articles/the-great-ex-hibition>; Picard, Victorian London: The Life of a City, 1840–1870 (London, 2006), 260–274; Greenblatt und Abrams, „The Victorian Age“, 985.

26 Siehe Gill, We Two, 252; Emily S. Rosenberg, „Transnationale Strömungen in einer Welt, die zusammenrückt“, Geschichte der Welt, 1870–1945: Weltmärkte und Weltkriege, hg. v. Akira Iriye und Jürgen Osterhammel (München, 2012), 816–998, 890–893.

27 Siehe Gardiner, The Victorians, 8; E. J. Hobsbawm, Industry and Empire: The Pelican Economic History of Britain. Volume 3: From 1750 to the Present Day (Harmondsworth, 1971), 48–49; Maurer, Kleine Geschichte Englands, 410–414; Andrew Porter, „Intro-duction: Britain and the Empire in the Nineteenth Century“, The Oxford History of the British Empire: Volume III, The Nineteenth Century, hg. v. Andrew Porter und Alaine Low (Oxford, 1999), 1–28.

Hervorhebung katholischen Traditionsbewusstseins, der Rituale sowie kirch-licher Autorität aus. Sie wurde auch als Anglo-Katholizismus bezeichnet und war Grundlage der Oxford-Bewegung der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, die ihren Höhepunkt in der Konversion zahlreicher ihrer Anhänger zum Katho-lizismus, unter anderem des späteren Kardinals John Henry Newman, hatte.

Broad Church Anglikaner schließlich waren liberal in ihrer Glaubensauffas-sung und insistierten, dass die Bibel wie jedes andere Buch interpretiert werden musste.28 Eine weitere heterogene Gruppierung außerhalb der etablierten Kirche teilte Glaubensauffassungen mit der Low Church. Nonkonformisten, zu denen Methodisten, Quäker und andere gehörten, standen der Low Church nahe und machten 1851 etwa 50% der regelmäßigen Kirchgänger aus.29

Das religiöse Leben in Großbritannien wurde ebenso von philosophischen Bewegungen, wie etwa die der Utilitaristen, aber auch den Naturwissenschaf-ten beeinflusst. Während UtilitarisNaturwissenschaf-ten wie John Stuart Mill und Jeremy Bentham den religiösen Glauben an sich infrage stellten und festhielten, dass moralisch korrektes Verhalten dasjenige sei, das der Mehrheit Gutes täte, veränderten naturwissenschaftliche Entdeckungen den Umgang mit dem Glauben und der Heiligen Schrift. Die Bibel wurde als historisches Dokument unter editionsphi-lologischen Aspekten untersucht und die Schöpfungsgeschichte durch die Evo-lutionstheorie herausgefordert.30

Die letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts waren geprägt von einem Übergangsgeist in dem viktorianische Werte weniger sichtbar waren.

Die lange Regentschaft der Königin wurde mit ihren Thronjubiläen 1887 und 1897  ähnlich enthusiastisch gefeiert wie die Weltausstellung von 1851. Diese Feiern waren Ausdruck der imperialen Macht und industriellen Errungen-schaften der Nation.31 Für die, die es sich leisten konnten, gab es eine große 28 Siehe M. A. Crowther, „Church Problems and Church Parties“, Religion in Victorian Britain: Volume IV, Interpretations, hg. v. Gerald Parsons (Manchester, 1988), 4–27; The Oxford Dictionary of the Christian Church, hg. v. F. L. Cross, 3. überarb. Aufl., hg. v. E.

A. Livingstone (Oxford, 2005), 69–70 (Anglo-Catholicism), 771–772 (High Church-men), 1212–1213 (Oxford Movement), 1149–1150 (Newman, Ven. John Henry), 1005 (Low Churchmen), 243 (Broad Church); vgl. Kap. 4.2.1.

29 Siehe Richard J. Helmstadter, „The Nonconformist Conscience“, Religion in Victorian Britain: Volume IV, Interpretations, hg. v. Gerald Parsons (Manchester, 1988), 61–95, 61.

30 Siehe Frank M. Turner, „The Victorian Conflict between Science and Religion: A Professional Dimension“, Religion in Victorian Britain: Volume IV, Interpretations, hg.

v. Gerald Parsons (Manchester, 1988), 170–197; Asa Briggs, The Age of Improvement (London, 1959), 479–488.

31 Siehe Paterson, A Brief History of Life in Victorian Britain, 29.

Anzahl verschiedenster Freizeitaktivitäten und Vergnügungen. Gesellschaft-liche Zusammenkünfte, Wochenenden auf dem Land oder in Badeorten, aber auch Zuschauersport wurden immer populärer.32 Kontinuierlicher technologi-scher Wandel und wirtschaftlicher Wohlstand formten eine Konsumgesellschaft, die sich an einen besseren Lebensstandard gewöhnt hatte.33 Dieser Wohlstand wurde auch durch das Empire gestützt, doch dieses begann, sich aufzulösen.

Unter dem Eindruck von Aufständen, kriegerischen Auseinandersetzungen und Rebellionen, die mit dem indischen Aufstand von 1857 begannen und von der Jamaica Rebellion 1865, dem Massaker an General Gordon und seinen Truppen im Sudan 188534 und schließlich dem Burenkrieg der 1880er und 1890er Jahre gefolgt waren, begann das Empire, an Einfluss zu verlieren.35 Die innen- und außenpolitische Stabilität wurde weiter von der Irlandfrage und der home rule,36 aber auch dem Erstarken des Deutschen Reiches unter Reichskanzler Otto von Bismarck und der wirtschaftlichen Erholung der Vereinigten Staaten nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–65) beeinflusst.37

Das letzte Viertel des neunzehnten Jahrhunderts war von wirtschaftlichem Abschwung geprägt. Das rapide Bevölkerungswachstum führte zu einem grö-ßeren Lebensmittelbedarf, der aus der vormaligen Exportnation für Agrargü-ter eine Importnation machte. Insbesondere den Vereinigten Staaten gelang es, durch die Verfügbarkeit großer Anbauflächen im mittleren Westen sowie durch den Einsatz von Maschinen große Überschüsse zu produzieren, die schnell und kostengünstig nach Europa exportiert werden konnten. Diese Form der Expan-sion war aufgrund der kleineren landwirtschaftlichen Einheiten und der Pacht-verhältnisse in Großbritannien nicht möglich.38

32 Siehe Paterson, A Brief History of Life in Victorian Britain, 246–277.

33 Siehe Greenblatt und Abrams, „The Victorian Age“, 988; Liza Picard, „The Built Envi-ronment“, The British Library, 14. Oktober 2009 <https://www.bl.uk/victorian-britain/

articles/the-built-environment>; Picard, Victorian London, 65, 171–172.

34 Zu General Gordon siehe Kap. 4.2.3.2.

35 Siehe Porter, „Introduction“, 10–15; Maurer, Kleine Geschichte Englands, 410–414, 419–421.

36 Siehe Michael Maurer, Kleine Geschichte Irlands (1988; Stuttgart, 2009), 246–287; Mau-rer, Kleine Geschichte Englands, 407–410, 426–429, 458.

37 Siehe Greenblatt und Abrams, „The Victorian Age“, 988; Tony Ballantyne und Antoi-nette Burton, „Imperien und Globalität“, Geschichte der Welt, 1870–1945: Weltmärkte und Weltkriege, hg. v. Akira Iriye und Jürgen Osterhammel (München, 2012), 288–432, 288–307, 395.

38 Siehe Maurer, Kleine Geschichte Englands, 393–394.

Im Industriesektor erfuhr Großbritannien ebenfalls ernsthafte Konkurrenz durch die Vereinigten Staaten und das Deutsche Reich, aber auch durch Bel-gien und Frankreich, deren Produktions- und Exportraten stärker wuchsen. Die Gründe hierfür waren vielfältig. Die Industrialisierung ging zwar von Großbri-tannien aus, doch holten andere Staaten diesen Vorsprung auf, unterstützten neue Industrien und förderten die Entwicklung neuerer Technologien. Während die jungen Industrienationen auf moderne Technologien zurückgriffen, nutzte Großbritannien teils veraltete Maschinen, die in ihrer Produktivität zurück-standen.39 Großbritannien verlor zunehmend an Einfluss und die britische Vor-machtstellung wurde bis zum Ersten Weltkrieg von den Vereinigten Staaten abgelöst.40

Die soziale und politische Entwicklung und insbesondere die technologischen Veränderungen der Industrialisierung wirkten sich auch auf den britischen Buchmarkt aus. Bevölkerungswachstum und gesellschaftliche Veränderungen förderten und forderten die Ausbildung der Buchkultur des neunzehnten Jahr-hunderts. Der Zugang zu Büchern und zum Lesen sowie die Fähigkeit, lesen zu können, stellten die Grundlage gesellschaftlicher Partizipation dar. Durch das Lesen war es möglich, sich über aktuelle politische, religiöse und kulturelle Debatten zu informieren. In ihrer Übersicht zur Geschichte des Buchmarktes

Die soziale und politische Entwicklung und insbesondere die technologischen Veränderungen der Industrialisierung wirkten sich auch auf den britischen Buchmarkt aus. Bevölkerungswachstum und gesellschaftliche Veränderungen förderten und forderten die Ausbildung der Buchkultur des neunzehnten Jahr-hunderts. Der Zugang zu Büchern und zum Lesen sowie die Fähigkeit, lesen zu können, stellten die Grundlage gesellschaftlicher Partizipation dar. Durch das Lesen war es möglich, sich über aktuelle politische, religiöse und kulturelle Debatten zu informieren. In ihrer Übersicht zur Geschichte des Buchmarktes