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Die vorliegende Studie gliedert sich in vier Abschnitte. Die Einführung „Buch und Lesen im neunzehnten Jahrhundert“ (Kapitel 2) präsentiert den historischen Kontext der Fallstudien. Sie beschreibt die gesellschaftlichen Veränderungen des neunzehnten Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Lesers und Verlegers in dieser Zeit, ebenso wie die technologischen Neuerungen, die den Buchmarkt veränderten. Hier wird auch den Besonderheiten des schottischen Buchmarktes Rechnung getragen. Des Weiteren wird die Hauptquelle der Stu-die, die Autobiographie, in ihrer Entwicklung, Problematik und Anwendung in der Arbeit diskutiert.

Der Hauptteil gliedert sich in zwei Auswertungskomplexe: In einem ersten Teil (Kapitel 3) werden die Verleger als Leser untersucht, um in einem zwei-ten Teil (Kapitel 4) den Blick auf die Leser als Verleger zu richzwei-ten. Als Schnitt-punkt wird der Beginn der beruflichen Entwicklung gewertet. Für Paul ergibt sich daher ein Exkurs über seine theologische Laufbahn und seine Lehrtätig-keit. Schwerpunkt des ersten Teiles ist die Rekonstruktion der Lesebiographie basierend auf in den Verlegerautobiographien beschriebenen Leseerfahrungen.

Diese Leseerfahrungen werden in den Quellen in unterschiedlicher Detailtiefe dargestellt und reichen von beiläufigen Erwähnungen von Autoren, Titeln oder Lesestoffen bis hin zu detaillierten Beschreibungen von Lesesituationen. Neben biographischen Hintergrundinformationen und einer historischen Kontextuali-sierung wird Fragen nach dem Lesenlernen, Lesealter, Lesestoffen, Lesemodi, Leseorten, Lesemotivation und -wirkung sowie dem allgemeinen Leseklima und der erweiterten literarischen Sozialisation nachgegangen. Die Fallstudien orien-tieren sich an den von Hurrelmann, Hammer und Nieß entwickelten und für diese Studie angepassten Kategorien Familie, Bildung und peers sowie einem Fra-genkatalog, der ein breites Spektrum an Informationen liefert.68 Auswertungs-komplexe sind die Familie, Bildung sowie die Einführung in die Welt des Lesens.

Die Rekonstruktion der familiären Vorbedingungen, unter anderem durch eine Ermittlung des biographischen Hintergrundes der Familien mit Aspekten der Familiengröße, des Bildungsstandes der Eltern sowie der beruflichen Tätigkeit zur Einordnung des Familienklimas, aber auch für eine Bewertung der Schicht-zugehörigkeit, bilden das Fundament der Analyse der Bedingungen der Leseso-zialisation. Darüber hinaus werden in Beschreibungen schulischer Erfahrungen und der Zugänglichkeit zu Bildung Unterschiede in der familiären und der

68 Siehe Hurrelmann, Hammer und Nieß, Leseklima in der Familie, 21–22.

schulisch-gesellschaftlichen Lesesozialisation offenbart. Die Schule stellt oftmals den ersten Kontakt zur literalen Außenwelt dar. Sie kann als Erweiterung und Ergänzung familiärer Lesesozialisation angesehen werden und weitergehende Lese- und auch Sprachkompetenzen vermitteln. Die Einführung in die Lesewelt wird von Autobiographen häufig als Wendepunkt oder als Meilenstein in der persönlichen Entwicklung beschrieben.69 Diese als Wendepunkte erlebten Lese-erlebnisse sowie der Zugang zu Büchern und ihre Beschaffung, aber auch her-vorgehobene Lektüreerlebnisse, soziale Lesesituationen mit beteiligten Personen und auch die weiterführende literarische Sozialisation70 geben die Struktur der Rekonstruktion der Lesebiographie der Leser vor.

Der zweite Auswertungskomplex widmet sich der Rekonstruktion des ver-legerischen Selbstbildes. Ausgangspunkt ist die Beendigung der schulischen Bildung und der Beginn der beruflichen Tätigkeit. Es ist festzuhalten, dass die Lesesozialisation keine abgeschlossene Phase in der Entwicklung eines Lesers darstellt, sondern sich lebenslang fortsetzt und lediglich anderen als den fami-liären und schulischen Einflussfaktoren unterliegt. Für die Frage nach der Rele-vanz der Lesesozialisation für die Verlagstätigkeit bedeutet dies, dass hier nun neben die privat fortgeführte Lesesozialisation eine berufliche Lesesozialisation tritt. Diese berufliche Lesesozialisation zeigt sich nicht nur in professionellen Leseanforderungen (Lesen von Autorenmanuskripten; Sondierung des Buch-marktes), sondern auch in der Interaktion mit Akteuren des Buchmarktes wie Autoren, Herausgebern, anderen Verlegern und auch Fachwissenschaftlern und Lesern. Es stellen sich hier Fragen nach der Verbindung von privatem mit beruf-lichem Lesen und damit eines eindeutigen Einflusses persönlicher Geschmacks-bildung auf die Entwicklung der Verlegerpersönlichkeit, nach der Trennbarkeit

69 Vgl. Daniel Allingtons Diskussion des Wendepunktmotives in „On the Use of Anecdo-tal Evidence in Reception Study and the History of Reading“, Reading in History: New Methodologies from the Anglo-American Tradition, hg. v.  Bonnie Gunzenhauser (London, 2010), 11–28, 25–26. Das Wendepunktmotiv geht auf Augustinus zurück und dient der Hervorhebung besonderer Ereignisse in der retrospektiven Darstellung der eigenen Biographie. Fraglich ist, ob es sich um tatsächlich erlebte Einschnitte in das eigene Leben oder lediglich um ein sprachliches Motiv handelt, das der Struktu-rierung der Lebensgeschichte und der Hervorhebung bestimmter Ereignisse dient.

Die Verleger der Fallstudien nutzen das Wendepunktmotiv, um ihren Berufseintritt zu markieren (vgl. Michael Sheringham, „Conversion and Turning Points“, Encyclopedia of Life Writing: Autobiographical and Biographical Forms, hg. v. Margaretta Jolly, 2 Bde [London, 2001], I, 233–234; Kap. 3.1.2.1, 3.1.2.2, 3.2.1.1, 3.3.2.4).

70 Siehe Kap. 1.6.2.

verschiedener Funktionen des Lesens für die persönliche Unterhaltung, Infor-mation und Bildung sowie nach der Gestaltung des Verlagsprogrammes. In Abhängigkeit der Beschreibungen in den autobiographischen Quellen wird hier zwischen privater und beruflicher Lektüre unterschieden. Neben der Lesesozia-lisation ist auch die berufliche SoziaLesesozia-lisation für die Entwicklung der Verleger von Bedeutung.

Die gesamte berufliche Entwicklung der Verleger William und Robert Chambers sowie Joseph Dents wurde durch den Buchmarkt geprägt. Diese Buchmarktsozialisation wirkt sich nicht nur auf das individuelle Berufsver-ständnis aus, sondern auch auf die Wahrnehmung der Verleger von außen. Als Quereinsteiger muss C. Kegan Paul andere Legitimierungsstrategien, also Strate-gien, um seine Position zu rechtfertigen und seine Kompetenz zu unterstreichen, ergreifen, um sich auf dem Buchmarkt zu positionieren. Hierbei spielen auch die Autorentätigkeiten der Verleger eine Rolle.

Der produktivste Verleger-Autor ist Robert Chambers. Diese Autorentätig-keit ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass zahlreiche der Verlagspro-dukte Sammelbände mit Beiträgen verschiedenster Länge waren, die von den Chambers-Brüdern konzipiert wurden. Mit der Ausführung beauftragten sie größtenteils Autoren, waren an deren Produktion aber auch selbst als Autoren beteiligt. Joseph Dent wiederum, der Praktiker unter den Verlegern, haderte mit seiner Schreibkompetenz und trat nur vereinzelt als Autor in Erscheinung.

Demgegenüber steht C.  Kegan Paul, der nicht nur eine klare Vorstellung des Berufsautors entwickelte, sondern sich auch selbst als Autor darstellte und mit ausgewählten Schriften der Nachwelt in Erinnerung bleiben wollte.

Abschließend werden exemplarisch Publikationen der Verlage und ihre zeit-genössische Diskussion und Rezeption besprochen, die das Verlagsprofil und damit das Selbst- und Fremdbild der Verleger vermittelten. Neben Fragen nach der materiellen Gestaltung und der Publikationsintention wird hier Aspekten der Wirtschaftlichkeit aber auch der inhaltlichen Vermittlung nachgegangen.

Angeschlossen daran ergeben sich Fragen nach der Rezeption der Publikationen und ob sich die ursprüngliche Verlegerintention realisieren ließ. Für William und Robert Chambers sowie J. M. Dent ergibt sich zudem die Besonderheit, dass sie als Persönlichkeiten durch ihre Arbeit als Verleger und durch ihr soziales Engagement gesellschaftliche Anerkennung erfuhren. Für C. Kegan Paul konnte dies nicht nachgewiesen werden.

In der vorliegenden Arbeit wird dem Verleger folglich in doppeltem Sinn Bedeutung zugemessen. Einerseits wird er durch die Lesekultur der Zeit in seinem Leseverhalten und Leseverständnis geprägt, andererseits wirkt er durch seine Tätigkeit als Verleger auf die britische Lesekultur des neunzehnten

Jahrhunderts zurück.71 Die Verknüpfung eines lesebiographischen Ansatzes mit Aspekten einer allgemeinen Verlagsgeschichte erscheint hier besonders sinnvoll.

1.6 Begriffliche Klärungen