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Theoretische Überlegungen zur Autobiographie

2.3 Leser im neunzehnten Jahrhundert

2.4.2 Theoretische Überlegungen zur Autobiographie

Die (in erster Linie literaturwissenschaftliche) Forschung zur Autobiographie versucht zwar, ein möglichst breites Interessengebiet abzugrenzen und behan-delt die Autobiographie unter vielen verschiedenen Aspekten. Was jedoch auf-fällt ist, dass es sich bei dem Untersuchungsgegenstand beinahe ausnahmslos um die Lebensbeschreibungen literarischer Persönlichkeiten (Schriftsteller, Dichter, Dramatiker) handelt, deren Autobiographien nun ihrerseits in den Mittelpunkt literaturwissenschaftlichen Interesses treten und nach Konzepten und Schreib-strategien befragt werden. Charlotte Heinritz bemängelte 1990 zurecht, dass in

238 Siehe „memoir, n.“, Oxford English Dictionary; Misch, „Begriff und Ursprung der Autobiographie“, 39–40, 50.

239 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt (1975; Frankfurt am Main, 1994), 14.

240 Siehe Lejeune, Der autobiographische Pakt, 26–31; Martina Wagner-Egelhaaf, Auto-biographie, 2. Aufl. (Stuttgart, 2005), 69–70.

241 Siehe Lejeune, Der autobiographische Pakt, 30–33.

der literaturwissenschaftlichen Autobiographiediskussion lediglich traditionelle literaturwissenschaftliche Ansätze verfolgt werden, ohne sozialwissenschaft-liche Untersuchungen (life writing, die Autobiographie als personal document), Ansätze der Erziehungswissenschaften oder kultursoziologische und kulturwis-senschaftliche Überlegungen (die Autobiographie als Form der Selbstthema-tisierung) in die Forschung mit einzubeziehen, wo doch gerade diese Ansätze insbesondere auch das Gattungsverständnis bereichern und erweitern könn-ten.242 Ebenso ist die einseitige Beschränkung auf Autobiographien literarischer Persönlichkeiten zu bemängeln.

Lejeune wies 1975 darauf hin, dass sich die Autobiographie mittels verschiede-ner Ansätze erforschen und insbesondere mit historischen und psychologischen Ansätzen verknüpfen lässt. Doch viel wichtiger (und dies bildete schließlich die Grundlage für Lejeunes Studie) schien, dass sich die Autobiographie „zunächst als ein literarischer Text“ präsentiert.243 Für die Literaturwissenschaft steht der literari-sche autobiographiliterari-sche Text im Vordergrund – es werden Struktur, Rhetorik und die spezifische Medialität der Autobiographie ausgewertet.244 Als literarischer Text, oder auch als literarische Gattung, ist die Autobiographie bestimmten Konventio-nen unterworfen. Für diese Einordnung spricht, dass die retrospektive Erzählung des eigenen Lebens, aufgrund von Problemen der Erinnerbarkeit und auch der Selbstdarstellung, lückenhaft sein muss. Die Autobiographie erhält ihren Kunstcha-rakter durch das Füllen dieser Lücken.245

Paul de Man geht sogar soweit, der Autobiographie ihren Gattungsstatus gänzlich abzusprechen, da es sich bei ihr weniger um eine Textsorte handele als vielmehr um eine Lese- und Verstehensfigur, die in allen Texten auftreten

242 Siehe Charlotte Heinritz, Rez., „Die Autobiographie: Zu Form und Geschichte einer literaturwissenschaftlichen Gattung, hg. v. Günter Niggl (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989)“, BIOS, 2 (1990), 263–264.

243 Lejeune, „Vorwort“, Der Autobiographische Pakt, 7, Hervorhebung im Original.

244 Siehe Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 91. Zur Gattungsdiskussion siehe bspw. Paul de Man, „Autobiography as De-Facement“, Modern Language Notes, 94 (1979), 919–

930, 919; Avrom Fleishman, Figures of Autobiography: The Language of Self-Writing in Victorian and Modern England (Berkeley, 1983), 14–19; Lejeune, Der autobiographi-sche Pakt, 13, 7–10, 417–425; Michaela Holdenried, Autobiographie (Stuttgart, 2000), 19–33; Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 5–10, 52–53; Shumaker, English Autobiog-raphy, 1–3; Misch, „Begriff und Ursprung der Autobiographie“, 35–38.

245 Siehe Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 47. Vgl. Allington, der betont, dass ‚anekdoti-sche‘ Leseerfahrungen als „writings“ untersucht werden sollten und nicht als „records of reading“ („On the Use of Anecdotal Evidence“, 12).

kann.246 Auch Lejeune selbst bezeichnet die Autobiographie abschließend als

„eine Leseweise [und] eine Schreibweise, sie ist ein historisch schwankender Vertragseffekt“, die sich durch ihre vielfältige Ausgestaltung und Rezeptionsmög-lichkeiten beinahe jeglicher Kategorisierung entzieht. So plädiert er dafür, wenn die Autobiographie schon durch etwas definiert werden muss, was außerhalb des Texts liegt, „so nicht durch ein Davor, durch eine unüberprüfbare Ähnlichkeit, sondern ein Danach, durch die von ihr hervorgerufene Leseweise und die von ihr geweckte Glaubwürdigkeit“.247

Ein großes Problemfeld der Forschung ist die Fiktionalisierungstendenz der Autobiographie, die zwischen Konzepten von Realität und Fiktion schwankt, nicht immer eindeutige Wirklichkeitssignale sendet und sich literarischer Erzählverfahren bedient.248 Auch wenn die Autobiographie als ideale historische Quelle gelten könnte, da nirgendwo sonst „das gelebte Leben so unmittelbaren Niederschlag“ findet,249 so bleibt sie doch eine persönliche Quelle, die oft in ihrer Glaubwürdigkeit in Bezug auf die von Selbstdarstellung geleiteter Lebens-beschreibung und einer unkritischen Erinnerungshaltung geschwächt wird.

Nicht umsonst definiert Shumaker die Autobiographie als „professedly ‚truthful‘

record of an individual“.250 Es geht folglich nicht um die Darstellung der Wahr-heit, sondern um die Wahrhaftigkeit der Selbstbeschreibung.251

Die Autobiographie ist nicht nur im Hinblick auf den Konflikt zwischen lite-rarischem Gehalt und Authentizität eine schwierige Quelle. Wie bereits hin-reichend dargestellt, werden Autobiographien, Memoiren, jegliche Art von Lebensbeschreibung in der Regel aus der Retrospektive, mit großem Abstand zum Erlebten am Ende eines Lebens geschrieben. Zwischen dem Erleben und dem Aufschreiben liegt folglich nicht nur eine zeitliche Distanz, sondern auch eine emotionale, die die Erlebnisse der Vergangenheit vermeintlich neutraler

246 Siehe De Man, „Autobiography as De-Facement“, 920–922; vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 8–9, 82–83.

247 Lejeune, Der autobiographische Pakt, 50–51, Hervorhebung im Original. Nicht ganz zu Unrecht wirft De Man Lejeune vor, den Leser zu einer Richterinstanz zu machen, die über die Namensidentität und damit auch über die Wahrhaftigkeit der Autobio-graphie entscheiden soll (siehe „Autobiography as De-Facement“, 922–923).

248 Siehe Ansgar Nünning, „Fiktionalität, Faktizität, Metafiktion“ in Handbuch Biogra-phie: Methoden, Traditionen, Theorien, hg. v. Christian Klein (Stuttgart, 2009), 21–27.

249 Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 29.

250 Shumaker, English Autobiography, 106.

251 Siehe Bernhard Fetz, „Biographisches Erzählen zwischen Wahrheit und Lüge, Insze-nierung und Authentizität“ in Handbuch Biographie, 54–60.

beurteilen lässt. Die zeitliche Distanz dient zum einen der Selbstversicherung, etwas geleistet zu haben, zum anderen sind die Erinnerungen Zeugnis der eige-nen Erfolgsgeschichte, die den Nachkommen und einem breiteren Publikum präsentiert werden und denen so weiter Gültigkeit verschafft wird.

Aus dieser zeitlichen Distanz zwischen Schreiben und Erleben ergibt sich das Problem der Erinnerbarkeit.252 Martina Wagner-Egelhaaf zieht das Bild der

„Katze Erinnerung“ aus dem Roman Jahrestage von Uwe Johnson heran, um die Unberechenbarkeit der Erinnerung zu verdeutlichen: „Unabhängig, unbestech-lich, ungehorsam. Und doch ein wohltuender Geselle, wenn sie sich zeigt, selbst wenn sie sich unerreichbar hält“.253 Auch der Autor George Moore setzte sich mit den eigenen lückenhaften Erinnerungen in seiner Autobiographie auseinan-der: „One reads one’s past life like a book out of which some pages have been torn and many mutilated“.254 Doch ist dies nicht nur ein rein auf die Gedächtnisleis-tung des Autobiographen beschränktes Problem, sondern im Bereich der Kind-heitserinnerungen ein physiologisches und damit unbeeinflussbares Phänomen.

In der Vergangenheit sprach man Kindern ein generelles Geschichtsbe-wusstsein und die Fähigkeit zu (auto)biographischem Erinnern ab. Studien der neueren Zeit, unter anderem aus der kognitiven Psychologie, haben die verschie-denen Entwicklungsstufen des kindlichen Gedächtnisses bis hin zur Entwick-lung seiner höchsten Form, dem sogenannten autobiographischen Gedächtnis, aufgezeigt. Lotte Köhler zeigt, dass eine Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses ohne die Entwicklung bestimmter anderer Gedächtnisleistungen nicht möglich ist. Zentral ist hier die Entwicklung eines kognitiven Selbstkon-zeptes. Erst im Alter von vier oder fünf Jahren nehmen sich Kinder als Indivi-duen wahr, die sich selbst beobachten und diese Selbstbeobachtung reflektieren und wiedergeben können. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich selbst in Ver-gangenheit, Gegenwart und Zukunft vorzustellen.255 Erwachsene können sich meistens bruchstückhaft an Ereignisse erinnern, die ungefähr ins dritte Lebens-jahr zurückreichen. Eine kontinuierliche Erinnerung eigener Erlebnisse ist in

252 Siehe Holdenried, Autobiographie, 57–61; Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 87–91.

253 Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 13; vgl. Uwe Johnson, Jahrestage: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, 2 Bde (Frankfurt am Main, 1993), II, 670.

254 George Moore, Hail and Farewell: Ave (New York, 1923), 226; siehe Shumaker, English Autobiography, 36–38.

255 Siehe Lotte Köhler, „Zur Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses“, Kinder-Kindheit-Lebensgeschichte: Ein Handbuch, hg. v. Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker (Seelze-Velber, 2001), 65–83, 81–82; vgl. Eggert und Garbe, Literarische Sozialisation, 64; Hurrelmann, Hammer und Nieß, Leseklima in der Familie, 7–8.

der Regel jedoch erst ab dem fünften bis zum siebten Lebensjahr möglich.256 Die sogenannte „infantile Amnesie“, also das Nicht-Erinnern persönlicher Erlebnisse vor dem dritten bis fünften Lebensjahr, hat anatomische und phy-siologische Gründe. Entgegen früherer Forschungsmeinungen, nach denen die infantile Amnesie als ein aktiver Verdrängungsvorgang verstanden wurde (Sig-mund Freud), argumentiert Köhler, dass es sich vielmehr um fehlende kognitive Fähigkeiten handelt. Die Gehirnreifung ist „erst im Alter von fünf bis sieben Jahren … so weit fortgeschritten, dass ein autobiographisches Gedächtnis mög-lich wird“.257

Nach Köhler enthält das autobiographische Gedächtnis „Erinnerungen, die in enger Beziehung zum Selbst stehen, … vergangene Ereignisse [die] als Teil der eigenen Vergangenheit erinner[t] [und] … als ‚selbst erlebt‘ repräsentier[t] [wer-den]“. Der Entwicklung gehen bestimmte kognitive Entwicklungen voraus, wie die Fähigkeit zu reflektieren, das Vorhandensein eines kognitiven Selbstkonzeptes und schließlich sprachlich-narrative Formen der Erinnerung. Köhler unterschei-det zwei unterschiedliche Gedächtnissysteme voneinander, zum einen das implizit/

prozedurale Gedächtnissystem, in dem Sinneswahrnehmungen, Bewegungs- und Verhaltensmuster abgespeichert werden, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind, aber das Verhalten und Stimmungen beeinflussen (Automatisierung von Ver-halten und Wahrnehmung); zum anderen das explizit/deklarative Gedächtnissys-tem, in dem Erinnerungen und Wissen abgespeichert und nach dem Spracherwerb mitgeteilt werden können. Das autobiographische Gedächtnis gehört also zu den bewusst wahrgenommenen Leistungen des explizit/deklarativen Gedächtnisses, welches schon im Alter von zwei bis drei Lebensmonaten nachweisbar ist, doch seine höchste Organisationsform erst im Alter von ca. fünf Lebensjahren erreicht – dem Alter, in dem kontinuierliche Erinnerungen einsetzen.258

Viele Autobiographen des neunzehnten Jahrhunderts setzen in dieser Alters-spanne mit der ersten Erinnerung ein259 und verorten hier insbesondere den Erwerb der Lese- und/oder Schreibfähigkeit. Isabella Fyvie Mayo schreibt:  „I

256 Siehe Köhler, „Zur Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses“, 65.

257 Köhler, „Zur Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses“, 79, 66.

258 Siehe Köhler, „Zur Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses“, 67–69, 69.

259 Zur ersten Erinnerung siehe Richard N. Coe, When the Grass Was Taller: Autobiogra-phy and the Experience of Childhood (New Haven, 1984), 96–102; Goldmann, „Topos und Erinnerung“, 666–667.

could read easily when I was four years old“.260 Helen Corke wurde ebenfalls mit vier Jahren ermutigt: „[T] o spell out words from a primer“.261 Ebenso werden aber auch Erinnerungsschwierigkeiten zugegeben. So hat Frances Horner nur ungenaue Erinnerungen („fleeting impressions“) an ihre Kindheitstage.262 Lady Frances Balfour erinnert sich nur unspezifisch: „I could also read, and did so very early“.263 Frances Burnett ist gar auf die Erinnerung anderer angewiesen: „I do not remember the process by which she learned to read or how long a time it took her … she heard that she was three years old. Possibly this was mentioned as notable in connection with the reading“.264

Auch Verleger bilden hier keine Ausnahme. William Tinsley bescheinigt sich selbst eine gute Erinnerung: „[F] or I remember many of the scenes and doings of my boyhood days“. Um gleich fortzufahren: „I seem to have a glimmering remembrance of being seated on a form in an old dame’s school when I was about four or five years old“.265 Joseph Dent wiederum hatte nur ungenaue Erin-nerungen an seine früheste Kindheit: „I have dim recollections of living [in the house in which I was born] and going to a dame’s school in the same street when I was three or four years old“.266 Überdies begleiten den Autobiographen Prob-leme der Erinnerbarkeit und der Erzählbarkeit während des gesamten Schreib-prozesses, so dass dieser im Fortschreiten der Autobiographie wiederholt Bezug darauf nimmt. Von den Verlegern dieser Studie ist es C. Kegan Paul, der häufiger auf seine Erinnerungslücken Bezug nimmt.267

Nach Köhler ist das Erinnern ein Prozess, der aus „der Enkodierung, der Speicherung und dem Abrufen von Botschaften, die das Gehirn erhält“ besteht und betont, dass das Gehirn hierbei nicht die Funktion eines Archivs über-nimmt, dem Erinnerungen unverändert entnommen werden können, sondern

260 Isabella Fyvie Mayo, Recollections of What I Saw, What I Lived Through, and What I Learned, During More Than Fifty Years of Social and Literary Experience (London, 1910), 12.

261 Helen Corke, In Our Infancy: An Autobiography. Part 1: 1882–1912 (Cambridge, 1975), 12.

262 Frances Horner, Time Remembered (London, 1933), 1.

263 Frances Balfour, Ne Oblivicaris: Dinna Forget, 2 Bde (London, 1930), I, 11.

264 Frances Hodgson Burnett, The One I Knew the Best of All (London, 1893), 20; Burnetts Autobiographie ist in einer Vermischung der Erzählperspektive, einem Wechsel zwischen erster und dritter Person, geschrieben.

265 William Tinsley, Random Recollections of an Old Publisher, 2 Bde (London, 1905), I, 6–7.

266 J. M. Dent, My Memoirs, 1849–1921 (London, 1921), 4.

267 Siehe C. Kegan Paul, Memories (London, 1899), 8–9, 11, 12, 17, 23.

dass „jedes Erinnern eine Neukonstruktion des Gehirns ist“.268 Der Zeitpunkt des Abrufens der Erinnerung, die persönliche Stimmungslage, aber auch seither gemachte Erfahrungen und Erlebnisse beeinflussen die Erinnerung entschei-dend. Dennoch ist es das autobiographische Gedächtnis, das die Selbst-Er-fahrung und damit das Autobiographie-Schreiben unter Berücksichtigung der Kindheit erst ermöglicht. In der Retrospektive wird der Vergangenheit Bedeu-tung beigemessen und es ist diese Vergangenheit, die hilft, die Gegenwart und den Weg dorthin zu erklären.269