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3 „Ich bin des freien Waldes freies Kind“ 52 – Die Bayerwalddichterin Emerenz Meier (1874-1928)

6 Emerenz Meier – eine typische Schriftstellerin ihrer Region?

6.2 Autoren und Analysen

6.2.2 Wilhelm Diess

6.2.2.1 Kurzbiografie

Abb. 14: Wilhelm Diess (1884-1957)

Wilhelm Dieß, der für seinen Nachnamen seit den 20-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Schreibweise „Diess“ gebrauchte,774 stammt aus dem niederbayerischen Hügelland zwischen Passau und Bad Griesbach im Rottal. Im bis ins Zeitalter des Barock775 bedeutenden Marienwallfahrtsort Höhenstadt,776 der heute dem Markt Fürstenzell angehört, wird er in den frühen Morgenstunden des 25.06.1884 als Sohn des Volksschullehrers Johann Nepomuk Dieß und dessen Ehefrau Maria, geb. Hack, geboren777 und am selben Tag ebenda von Kooperator Stockinger getauft.778 Die ersten zehn Lebensjahre verbringt er dort bis zur Versetzung des Vaters nach Pocking, die 1894 erfolgt. Nach einem halben Jahr auf dem Gymnasium in Passau wechselt er in die niederbayerische Hauptstadt Landshut, wohin auch seine Mutter

774 Vgl. http://www.nordostkultur-muenchen.de; Aus diesem Grunde wird in der gesamten Arbeit auch die Schreibweise mit <ss> verwendet. Sollte die Variante „Dieß“ erscheinen, so nur in zitiertem oder urschriftlichem Kontext. Die den Betrachtungen zugrunde liegende Ausgabe seiner Stegreifgeschichten verwendet konsequent die Schreibweise mit <ß> (vgl. auch Literaturverzeichnis).

775 Die Bedeutung der Wallfahrt nach Höhenstadt ging zur Zeit des Aufblühens von Sammarei um 1630 stark zurück.

776 Erst seit 1921 führt Höhenstadt den Zusatz „Bad“.

777 Der Autor stützt sich bei der Wiedergabe der Biographie Wilhelm Diess‘ auf den Beitrag Wilhelm Dieß. Ein eigener Mensch (1884-1957) von Herbert Feldmann auf http://www.nordostkultur-muenchen.de, auf die Zusammenstellung auf den Seiten des Wilhelm-Diess-Gymnasiums Pocking (http://www.wdg.pocking.de) und auf den Klappentext zu seinem Buch Stegreifgeschichten.

778 Vgl. Archiv des Bistums Passau, Pfarrmatrikeln Höhenstadt Bd. 7, S. 148

1902 nach dem Tod des Vaters zieht. Nach dem Abitur beginnt Wilhelm Diess in München ein Studium der Rechte, das er 1908 mit dem Ersten Staatsexamen und schließlich ein Jahr später mit seiner Promotion zum Dr. jur. abschließt, und lebt seit dieser Zeit in relativ großer geographischer Entfernung zu seinem Heimatdialekt. Nichtsdestotrotz erscheint im Jahr der Promotion auch die erste literarische Veröffentlichung, Das Lied vom Plöckenstein. Text und Musik von Willi Dieß. Nach Absolvation des Referendariats und bestandenem Zweiten Staatsexamen 1911 zieht er die Arbeit in einer Anwaltskanzlei dem Staatsdienst vor, der ihm aufgrund seiner guten Noten offengestanden wäre.

1914, der Beginn des Ersten Weltkriegs, bedeutet auch für Wilhelm Diess einen biographischen Wendepunkt. Als Kriegsfreiwilligen zieht es ihn an die Front, er dient beim 16. Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment, ist dort zeitweise sogar Vorgesetzter eines Gefreiten namens Adolf Hitler;779 mehrfach verwundet und hoch ausgezeichnet kehrt Oberstleutnant Diess 1918 nach München zurück und heiratet noch im selben Jahr die aus Hamm in Westfalen stammende Elisabeth Gerson († 1960). Der Ehe werden drei Kinder entwachsen, die Töchter Liselotte-Maria und Ursula sowie der Sohn Johannes.

Noch 1918 eröffnet Wilhelm Diess in der Landeshauptstadt eine eigene Anwaltskanzlei. Trotz seines mit der Schriftstellerei doch kaum verwandten Brotberufs widmet er sich mit einiger Leidenschaftlichkeit dieser Muse und veröffentlicht erstmals 1936, mehr nolens denn volens, seine dann immer wieder neu aufgelegten Stegreifgeschichten.780 Zu deren Publikation war er von Freunden regelrecht gedrängt worden, da er die Geschichten vorerst nur erzählt und keine Drucklegung erwogen hatte. Die Verbundenheit mit seiner Heimat Niederbayern wird darin stets deutlich. Teils auf komischen, teils auf nachdenklichen Situationen beruhend, beinhalten sie stets die Darstellung von Personen und Begebenheiten, die sich tatsächlich so zugetragen haben sollen – eben im Niederbayern Wilhelm Diess’. Hierin liegt auch, so die einhellige Meinung von Zeitgenossen wie Literaturwissenschaftlern, seine größte Begabung – im spontanen Erzählen, im Sich-Treiben-Lassen in der Macht des erzählten Wortes.

Die Zeit des Dritten Reiches und Zweiten Weltkriegs verbringt Wilhelm Diess größtenteils in der bayerischen Landeshauptstadt, distanziert sich jedoch öffentlich vom NS-Staat, was auch seiner trotz ihrer römisch-katholischen Konfession als Halbjüdin geltenden Ehefrau geschuldet war, und weicht mit der Familie gegen Ende 1944 auf seinen bereits 1925 erworbenen Bauernhof bei Gmund am Tegernsee zurück. Schließlich wird er 1945 im Entnazifizierungsverfahren als „unbelastet“ eingestuft und schon bald, noch im Herbst

779 Vgl. Münchner Merkur vom 12/13.03.2011, zitiert nach http://www.theodor-frey.de

780 1936 unter dem Titel Stegreif-Geschichten beim Verlag Richard Pflaum in München erschienen.

desselben Jahres, ins Justizministerium des neu zu gründenden bayerischen Staates berufen;

später wird er als Ministerialrat ins Kultusministerium wechseln.

Wilhelm Diess’ literarische Schaffenskraft ist indes ungebrochen, aber auch darüber hinaus erstreckt sich sein Engagement auf weite Kreise. Seit 1950 ist er Honorarprofessor für Urheber- und Erfinderrecht an der Universität München und übernimmt den Vorsitz des Landesverbands für Heimatpflege, ein Thema, das für ihn Zeit seines Lebens von besonderer Wichtigkeit war. Als Mitglied der Bayerischen Akademie der schönen Künste, bis zu seiner Pensionierung 1952 Generaldirektor der Bayerischen Staatstheater und Vorsitzender des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege macht er sich große Verdienste um Kunst und Kultur.781 Aber in seiner Eigenschaft als Schriftsteller kann er gleichzeitig als Botschafter der niederbayerischen Heimat fungieren, weshalb ihm seine Heimatgemeinde Bad Höhenstadt am 09.101955 die Ehrenbürgerwürde verleiht.

Wilhelm Diess stirbt nach kurzer Krankheit wenige Jahre später, am 13.09.1957, in München im Alter von 73 Jahren. Sein Ehrengrab befindet sich auf dem alten Friedhof in Bogenhausen und seit 1983 erinnert eine Bronzebüste an der Bad Höhenstädter Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt, gestaltet von seiner Tochter Ursula Kemser-Diess, an den wohl berühmtesten Sohn des kleinen niederbayerischen Ortes. Eine große Ehre wurde ihm postum zuteil, als mit Beginn des Schuljahres 1986/87 das Gymnasium Pocking in Wilhelm-Diess-Gymnasium umbenannt wurde.

Sein literarischer Wert, den sich Diess durch die erwähnten Stegreifgeschichten, als deren Schöpfer er zu einem Erzähler wider Willen avancierte,782 aber auch durch Madeleine Winklholzerin, Der kleine Stall und Tiberius scherzt erwarb, ist unbestritten. Der Jurist Max Friedlaender (1873-1956), der ihm nach dem Ersten Weltkrieg erstmals begegnete, bringt seine Erscheinung und literarisch-künstlerisches Potential schon in der Frühzeit seines Schaffens auf den Punkt bringt: „Wilhelm Diess, ein junger Anwalt aus Niederbayern, sehr massig mit einem seltsamen dicken, kaum behaarten Schädel, ein intelligenter und künstlerisch interessierter Kerl, glänzender Erzähler von drolligen Geschichten (…)“.783

6.2.2.2 Anmerkungen zur Auswahl der Texte

Da sie in Wilhelm Diess’ literarischem Schaffen eine zentrale Rolle gespielt haben, werden bei der Betrachtung seines Dialekts die bereits erwähnten Stegreifgeschichten im Mittelpunkt

781 Vgl. Göttler 2007, S. 129

782 Dies beweist allein die Tatsache, dass die mitstenographierten Stegreifgeschichten erst Jahre nach ihrem Entstehen bzw. ihrer Erzählung veröffentlicht wurden.

783 Friedlaender, S 79

stehen. Diese sind in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg „an Sommerabenden (…) in einem Freundeskreis auf der Bergwiese eines alten Bauernhauses erzählt worden“,784 wie ihr Urheber selbst angibt. Aus Wortprotokollen und Stenographien der Zuhörer entstand so eine umfassende Sammlung solcher, meist kürzerer Erzählungen. Wie es im Klappentext der Ausgabe von 1968 heißt, „charakterisiert (…) [Diess] in wenigen Strichen die Menschen seiner Heimat, läßt – ohne in Dialekt zu fallen – in der Bildhaftigkeit und Melodie seiner Sprache die bayerische Mundart durchklingen und würzt das Ganze mit durchtriebenem Humor“.785 Die Aussage, nicht in die Mundart zu verfallen, diese nur am Rande zu verwenden, mag auf den ersten Blick vielleicht überraschen. Im Folgenden wird zu zeigen sein, inwieweit dieser Behauptung Recht gegeben werden kann. Dafür wurden aus dem Band Das Zahnweh vier exemplarische Stegreifgeschichten ausgewählt, nämlich In der Wachau, Es brennt,786 Wie der Pfarrer von Höhenstadt seinen Tod ankündigte und Der Loipertshamer, Gott hab’ ihn selig.787

6.2.2.3 Beschreibung von Diess‘ Dialektverwendung an vier Beispielen aus Das Zahnweh Gemessen an der ursprünglich rein mündlichen Überlieferung der vorliegenden Geschichten, erweist sich bereits bei nur oberflächlicher Betrachtung das Erzähltempus als umgangssprachlich gefärbt. Hier soweit zu gehen und bereits von einem konkreten Hinweis auf die bairischsprachige Herkunft des Autors zu sprechen,788 wäre verfrüht. Festzuhalten ist zunächst das Perfekt als durchgehendes Erzähltempus, durchbrochen lediglich von sporadischen Wechseln ins szenische Präsens, was die genuine Mündlichkeit der Erzählungen bestärkt.

Tendenzen einer mehr mundartgeprägten ostoberdeutschen Standardsprache lassen sich im Bereich der Lexik konstatieren, wenn beispielsweise vom Gang (W, S. 11) im Sinne von

‚Hausflur’ die Rede ist. In gleicher Weise verhält es sich bei Verwendung des Substantivs Vakanz (B, S. 14) für ‚Ferien’, einem im bairischen Sprachraum zur Zeit der Entstehung der Stegreifgeschichten789 gängiger Begriff. Die an dieser Stelle bereits manifestierbare Tendenz zur Verwendung mundart- bzw. dem mündlichen, regional gefärbten Sprachgebrauch naher

784 Vorwort zu Das Zahnweh, S. 7

785 Klappentext zu Das Zahnweh, S. 1

786 Diese Erzählung verwendete auch Hans Göttler für seine Untersuchung von Wilhelm Diess’ Dialektgebrauch (vgl. Göttler 2007, S. 129).

787 Die im Folgenden verwendeten Abkürzungen für die Stegreifgeschichten, deren Angaben sich auf den Band Da Zahnweh beziehen, sind „W“ für In der Wachau (vgl. a.a.O., S. 9-13), „EB“ für Es brennt (vgl. a.a.O., S. 14-18), „PH“ für Wie der Pfarrer von Höhenstadt seinen Tod ankündigte (vgl. a.a.O., S. 19-21) sowie „DL“ für Der Loipertshamer, Gott hab‘ ihn selig (vgl. a.a.O., S. 55-59).

788 In Anlehnung an Josef Martin Bauers These des Bairischen als einer Sprache ohne Imperfekt, die so fast haltbar ist, wenn man von der einzigen Ausnahme, nämlich war, absieht (vgl. Schmid 2012, S. 207).

789 Diese stellten die ersten Jahre nach 1918 dar (vgl. Diess, S. 7).

Lexeme wird bestätigt, wenn man ein weiteres Beispiel betrachtet. Das Adverb in Gebrannt hat der Stadel schon ganz fest (EB, S. 14) zeigt die im Vergleich zum Standard große Bandbreite an semantisch begründeten Verwendungsmöglichkeiten Bedeutung von fest im Bairischen zum Ausdruck der Intensität eines Sachverhalts; fest zur Illustration eines enormen Feuers würde der Standard nicht akzeptieren. Neben diesen Regionalismen erscheinen bei Wilhelm Diess aber auch reine Mundartausdrücke. Das erste erklärt der Verfasser selbst:

gefüllte Eierkörbe (mit richtigem Namen: Schwingen) (EB, S. 15). Umso erstaunlicher ist, dass zunächst ein Standardsynonym gebraucht wird, das dann parenthetisch um das eigentliche, das Dialektwort, ergänzt wird.790

Dialektale und dialektnahe Lexeme, zumeist Substantive und Verben, treten immer wieder in Erscheinung, so langen statt reichen (DL, S. 55: für ihn langt es schon) oder Holz als für Wald (DL, S. 59: wie er einmal im Holz gearbeitet hat). Die Einleitung des Temporalsatzes mit wie im letzten Beispiel kann zumindest als regionalsprachlich bezeichnet werden, verlangte doch der Standard an dieser Stelle die Subjunktion als.791 Zur Evokation der Geringfügigkeit wird im Dialekt genug gebraucht, wie der Textbeleg es war wenig genug (W, S. 12) illustriert. Der Satzbeginn Der Korneder, ein einschichtiges altes Mandl (EB, S. 17) beinhaltet gleich zwei dialektale Besonderheiten: Zunächst bedeutet das Adjektiv einschichtig

‚ledig‘, ‚nicht verheiratet‘ und steht per se nicht in wertendem Zusammenhang.792 Zudem weist sich die Diminutivform Mandl aufgrund des Sprosskonsonanten /d/ als ostoberdeutsch aus. Sicherlich, Sprosskonsonanz, gerade beim Aufeinandertreffen von Nasal und Liquid,793 ist ein Phänomen, das die Standardsprache ebenso kennt,794 jedoch nicht bei Diminutivbildungen, wie dies hier der Fall ist.795 Die Bildung des Diminutivs allein mittels {-l} ist darüber hinaus, um den Anmerkungen zur Morphologie hier vorzugreifen, charakteristisch oberdeutsch; dies zeigen auch Gatterl (PH, S. 21) bzw. Eisengatterl796 (a.a.O.). Über besagten Korneder wird zudem berichtet, er habe mitgehalten (PH, S. 18), als

790 Bei Emerenz Meier erscheint Schwinge im Kompositum Heuschwinge (Bua, S. 368) ohne in den Kontext integrierte Erläuterung oder gar Annotation.

791 Bei Max Peinkofer wurde darauf bereits hingewiesen.

792 Einen leicht pejorativer Unterton kann einschichtig durchaus haben, wenn der Sprecher damit eine Wertung ausdrücken möchte und dem so Attribuierten den Anschein des aus gewissen, nicht näher benannten, sehr wohl aber bekannten Gründen nicht Verheirateten geben möchte.

793 In einer der folgenden Fußnoten wird am Rande auch das Aufeinandertreffen von Vibrant und Liquid behandelt werden.

794 Man denke an Wortformen wie morgendlich, willentlich, wesentlich, wissentlich etc.

795 Dieses Phänomen des Sprosskonsonanten /d/ zeigt sich im Bairischen beispielsweise auch in den Verkleinerungsformen von Kannà, Henà, Dià, nämlich Kàndl, Hendl, Diàdl. Letztes Beispiel illustriert die nachgerade Ähnlichkeit von /d/ und /r/ in der Artikulation, da die Basis zu Diàdl ja ein als /à/ artikuliertes /r/

enthält, welches aber in der Diminutivform durchaus auch zu /r/ werden kann, so dass hier die Formen Diàdl und Diàrl gleichberechtigt nebeneinander stehen.

796 Hier träte, da die Diminutionsbasis Gatter bereits auf einen Vokal endet, nur in sehr bemühter, fast schon hyperkorrekter Ausspracheweise ein Sprosskonsonant auf.

sich die Feuerwehr nach missglückter Brandbekämpfung und damit einhergehender Beschädigung seines Anwesens durch immense Mengen Löschwassers sich beim ortsansässigen Wirt mit Speisen und Getränken entsprechend gestärkt habe. Das Verb kann zwei unterschiedliche Bedeutungen haben. Entweder bezeichnet es die Eigenschaft des in Rede stehenden, an der Bezahlung der Zecherei beteiligt gewesen zu sein, oder eben – wahrscheinlich aus Gründen der Frustration – an derselben aktiv mitgewirkt zu haben. Der Kontext lässt eine Interpretation mit leichter Tendenz zu erster Erklärung zu; in jedem Fall liegt mit mithalten ein zwar der Form nach standardsprachliches Verb vor, dessen Verwendung aber Partizipation bei einer Sache ausdrückt, welche nicht näher bezeichnet zu werden braucht, weshalb es zumindest als mundartnah eingestuft werden kann. Dem gegenüber rein mundartlich ist das Substantiv in der Textpassage seine Sache langsam herunterkommen lassen (DL, S. 55), wobei hier eine Genusangleichung an den Standard erfolgt, da Sache in der Bedeutung ‚Anwesen’, ‚Hausstand’ oder allgemein ‚Eigentum’797 im Bairischen Neutrum ist.

Als Austriazismus zu werten ist im Bereich der Lexik zu guter Letzt zunächst Heurige(r) (W, S. 9), was den jungen Wein des laufenden Jahres meint. Die Verwendung des Substantivs ist mit den Umständen der in der Erzählung geschilderten Konsumation dieses Weines durch den Erzähler in der niederösterreichischen Wachau. Ebenso stellt Marellen (W, S. 11) eine Obstbezeichnung, nämlich Aprikosen, dar, welche v.a. in Österreich gebräuchlich ist;798 Ammon zählt das Wort gar als „spezifische[n] Austriazismus“.799 Erstaunlich ist bei Diess lediglich die Schreibung mit <e> anstelle des zu erwartenden <i> entsprechend der Lautung /ɪ/, was allem Anschein nach die Anpassung an ein nicht ganz eindeutig artikuliertes /ɪ/

darstellt.800 Diese Vermutung festigt sich noch, wenn in die Überlegungen mit einbezieht, dass manche Wörterbücher beim Stichwort Marelle – sofern überhaupt dieses vorhanden ist – direkt auf den Eintrag Marille verweisen801 sowie auf dessen Regionalsprachlichkeit. Einzig Paul gibt diverse Varianten und Aberrationen an und verweist auf die landschaftliche Verbreitung: „österr[eichisch] schles[isch]802 ‚Aprikose‘, früher auch Morelle (nordd[eutsch]

797 Vgl. Zehetner 2005, S. 287, und Merkle, S. 104

798 Vgl. Ebner, S. 239

799 Ammon, S. 147

800 Weder Zehetner 2005 noch Grimm oder Ebner führen als mögliche Variante zu Marille etwa *Marelle auf.

801 So z.B. Duden, Universalwörterbuch (vgl. a.a.O., S. 988f.) oder Duden, großes Wörterbuch (vgl. a.a.O., Bd.

6, S. 2515); keine Erwähnung findet Marelle beispielsweise bei Mackensen oder – was in gewisser Weise erstaunt – bei Küpper.

802 Die Interpunktion des Wörterbucheintrags wurde beibehalten; der Hinweis auf das Vorkommen in schlesischer Regionalsprache bietet zugleich – das nur sehr am Rande angesprochen – eine interessante historische Parallele, wonach sich in der Sprache der Bewohner Schlesiens, das bis zum Siebenjährigen Krieg (1756-1763) österreichisch war, auch nach dem Übergang zu Preußen (von kleinen territorialen Ausnahmen, genannt „Österreichisch-Schlesien“, abgesehen) dieses Lexem erhalten hat.