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Das Problem der zeitlichen Verortung der Texte

3 „Ich bin des freien Waldes freies Kind“ 52 – Die Bayerwalddichterin Emerenz Meier (1874-1928)

4 Sprachlich-dialektologische Analyse des Corpus

4.7 Geographische und sprachliche Emigration:

4.7.1 Das Problem der zeitlichen Verortung der Texte

Auch an dieser Stelle geht der eigentlichen Textanalyse eine Betrachtung der Titel der sechs kurzen Erzählungen Die Seele der Heimat, Mutterseelenallein, Ein Besuch, Bella, Die beiden Wohltäter und Ein Ferientag dreier Gassenbuben487 voran. Diese Prosatexte wurden im Zuge der Emerenz-Meier-Werksausgabe von Hans Göttler 1991 erstmals veröffentlicht. Sie sind in US-amerikanischen Schreibheften überliefert, weshalb davon ausgegangen werden muss, dass sie nach 1906, also nach der Emigration, entstanden sind.

Eine eindeutige, explizite Datierung ihrer Entstehung ist jedoch nicht möglich.488 Betrachtend die verarbeiteten Thematiken und die räumliche Situierung des jeweiligen Plots auf der einen und die archivalische Bestandsüberlieferung im Stadtarchiv Waldkirchen489 sowie die Anordnung in der Hans-Göttler-Ausgabe490 auf der anderen Seite kann darauf geschlossen werden, dass – auch im Vergleich mit der Lebenssituation der Autorin und angesichts der Tatsache, dass eine Vielzahl von Texten Emerenz Meiers autobiographische Bezüge aufweisen – Ein Besuch und Mutterseelenallein in den ersten Jahren nach der Auswanderung, also zwischen 1906 und 1910, entstanden sind, während Die beiden Wohltäter, Ein Ferientag zweier Gassenbuben gleichsam wie Bella um 1920 angesetzt werden können, auch betrachtend einen Brief Emerenz Meiers von 1923, in dem sie beklagt, dass ihr „[s]eit ich Amerika betreten, (…) mit Ausnahme der letzten paar Jahre nie Gelegenheit geworden, (…) [ihrem] Schreibdrang zu frönen“.491 Die Seele der Heimat könnte ebenso kurz nach der Emigration entstanden sein, in einer Phase radikaler

487 Im Folgenden abgekürzt mit „DS“ (Die Seele der Heimat; vgl. S. 372-375), „M“ (Mutterseelenallein; vgl.

S. 378f.), „EB“ (Ein Besuch; vgl. S. 380-382), „B“ (Bella; vgl. S. 383-389), „DW“ (Die beiden Wohltäter;

vgl. S. 376f.) und „EF“ (Ein Ferientag dreier Gassenbuben; vgl. S. 390-393).

488 Vgl. EM, hg. von Göttler, Bd. 2, S. 8; vgl. hierzu auch Praxl 2008, S. 96

489 Vgl. Praxl 2008, a.a.O., wonach sämtliche Erzählungen handschriftlich in Pappheften aus den USA überliefert sind und unter der Signatur Nachlaß Emerenz Meier Nr. 1-24 in der Staatlichen Bibliothek Passau lagern; Der Bua trägt dabei die Bestandverzeichnis-Nummer 3, Mutterseelenallein und Ein Besuch die Nummer 4 und Bella sowie Ein Ferientag zweier Gassenbuben die Nummer 7.

490 In der Anordnung Der Bua (S.366-371), Die Seele der Heimat (S. 372-375), Die beiden Wohltäter (S. 376-377), Mutterseelenallein (S. 378-379), Ein Besuch (S. 380-382), Bella (S. 383-389), Ein Ferientag zweier Gassenbuben (S. 390-393).

491 Brief an Hans Carossa vom 16.04.1923, in: EM, hg. von Hans Göttler, Bd. 2, S. 344

Ernüchterung und weiterer Desillusionierung u.a. über die weltpolitische Lage, welche die Dichterin auch – oder besser: gerade – aus den USA immer wieder scharf beobachtete, analysierte und kommentierte. 2012 gibt Göttler zu seiner Audio-CD „Mei Emerenz, my Emma!“ – Texte aus Baiern492 und Amerika, verfasst von Emerenz Meier (1874-1928) an, die ersten 18 der eingelesenen Texte, darunter auch Ein Besuch, seien sämtlich „in Baiern“493 [sic!] entstanden, und argumentiert für diese These in Bezug auf letztgenannten wie folgt:

„Vermutlich ist dieser Text in der Münchner Zeit der Dichterin entstanden, die Erwähnung der Trambahn deutet darauf hin. Die Ich-Figur ist

autobiographisch zu sehen: sie ist – wie Emerenz Meier auch – einsam und allein in der Stadt, in einem düsteren Zimmer in einem Rückgebäude, in dem es eiskalt ist. Höhepunkt ist die bittere, verbal geführte Auseinander- setzung mit der dämonischen Personifikation des Hungers. Eine trostlose, aber kämpferische Prosa, mit einem präzisen Blick auf die geknechtete Menschheit, deren weiteres Schicksal letztlich offen gelassen wird.“494

Dies mag zweifellos möglich erscheinen, als gesichert können Abfassungszeit und -ort jedoch keinesfalls gelten. Betrachtet man die Aussagen Göttlers als Herausgeber der Emerenz-Meier-Werksausgabe von 1991 und parallel dazu die von Paul Praxl 2008 herausgebrachte Schrift des Stadtarchivs Waldkirchen, in der erneut – wie schon bei Göttler – darauf hingewiesen wird, dass der handschriftliche Text von Ein Besuch ausschließlich in einem amerikanischen Pappheft überliefert ist,495 muss Göttlers Sicherheit der Abfassung dieser Erzählung in Bayern zumindest angezweifelt werden;

allein das Argument der Trambahn kann nicht genügen. Freilich, der Brief Meiers an Hans Carossa von 1903, vermutlich im Spätherbst dieses Jahres entstanden,496 gibt mehrere Hinweise darauf, dass in der Zeit in München, da sie in einem Rückgebäude in der Rumfordstraße 37 wohnte, Literarisches entstanden ist.497 Ebenso spricht Emerenz Meier in diesem Schreiben und jenem vom 22.07.1904, ebenfalls an Carossa gerichtet, von ihrer

492 Sic! (Anm. d. Verf.)

493 Göttler 2012 (Booklet zur Audio-CD „Mei Emerenz, my Emma!“ – Texte aus Baiern und Amerika, verfasst von Emerenz Meier (1874-1928))

494 A.a.O.

495 Vgl. Praxl 2008, S. 98; auch: EM, hg. von Göttler Bd. 1, S. 9

496 Auf die Unmöglichkeit der genauen Datierung in Ermangelung einer Angabe eines Datums wurde bereits hingewiesen. Für den Spätherbst des Jahres 1903 sprechen die im Folgenden zitierten Verweise der Autorin im Brief (EM, hg. von Göttler, Bd. 2, S. 221) auf die Publikation der Erzählung Der Bua („Die 30 M[ark] haben nicht lange gereicht, auch nicht die 40 von den N[euesten] N[achrichten] für den ‚Buam’ (…)“) und ihre fluchtmäßige Abreise aus Passau in die Landeshauptstadt („Was hast Du Dir gedacht, als Du vernahmst, daß ich Knall u[nd] Fall (…) von Passau abgeschoben bin?“).

497 Vgl. Brief an Hans Carossa vom Spätherbst 1903; in: EM, hg. von Göttler, Bd. 2, S. 221

bisweilen angespannten finanziellen Lage – „Aber ich krieg immer wieder was für meine Schreibereien, u[nd] damit ich nicht noch einmal 3 Tag nacheinander fasten muß, wie erst kürzl[ich] (…)“498 – und der ihr verhassten Landeshauptstadt – „Die Mauern u[nd] die Dächer, die sich überall vor mir türmen, sind mir Tod und Grab“499 –, was der Thematik in Ein Besuch nahekommt. Jedoch muss gleich an dieser Stelle eingewandt werden, dass sie im selben Brief auch davon spricht, nun „(…) nur froh [zu sein], daß ich jetzt in einer stillen Klause sitze u. Gelegenheit habe, mich innerlich zu pflegen“500 und „(…) auch ohne Freunde u[nd] Gönner nicht [zu] verhungern (…)“.501 Dies allein kann der Annahme Göttlers durchaus widersprechen, sie zumindest aber relativieren. Es kommt hinzu, dass der Herausgeber der Gesammelten Werke selbst davon spricht, dass „zum Teil (…) diese Texte502 [u.a. Die Seele der Heimat, Die beiden Wohltäter, Mutterseelenallein, Ein Besuch, Bella, Ein Ferientag dreier Gassenbuben] in Amerika entstanden bzw. in den USA noch einmal in amerikanische Schreibhefte niedergeschrieben wurden, ohne daß dabei eine genauere Datierung möglich wäre“,503 und ebenso feststellt, dass sich Emerenz Meier damit „(…) immer mehr von ihren frühen Veröffentlichungen als Heimatdichterin distanzierte und andere Formen und Inhalte des Schreibens versuchte“.504 Die Zäsur, die er damit anspricht, deutet zweifellos auch auf eine thematische Veränderung ihrer literarischen Produktion nach der Auswanderung im Jahr 1906 hin. Dies allein würde Ein Besuch eindeutig und unmissverständlich in den USA entstanden sein lassen.

Die Art der Überlieferung aber, und dies wiegt weit mehr, spricht eine viel deutlichere Sprache, ebenso dass die in Rede stehende Erzählung vor 1906 in Bayern nicht publiziert wurde. Des Weiteren sollte beachtet werden, dass die behandelte Thematik nach Bayern gleicherweise wie in die USA verortbar ist. Betrachtend die starke autobiographischen Gebundenheit der epischen Texte Emerenz Meiers – auch darauf wurde oben bereits hingewiesen –, könnte Ein Besuch sogar noch genauer lokalisiert werden, nämlich in die frühe Emigrationszeit; Die Seele der Heimat aufgrund der durchaus recht pessimistischen Zukunftsprognosen, die die Hauptprotagonistin dem Bayerischen Wald stellt, überdies ebenso. Die Art und Weise der Verlorenheit des Ich-Erzählers weist sehr stark auf die Erfahrung von Verlorenheit in einer als fremd, als gewissermaßen feindlich, in erster Linie

498 Brief an Hans Carossa vom Spätherbst 1903; in: EM, hg. von Göttler, Bd. 2, S. 221

499 Brief an Hans Carossa vom 22.07.1904; in: EM, hg. von Göttler, Bd. 2, S. 227

500 Brief an Hans Carossa vom Spätherbst 1903; in: EM, hg. von Göttler, Bd. 2, S. 221

501 A.a.O.

502 Die Seele der Heimat, Die beiden Wohltäter, Mutterseelenallein, Ein Besuch sind noch dazu im gleichen Schreibheft, überschrieben mit „Endeavor Composition“, überliefert (vgl. EM, hg. von Göttler Bd. 1, S. 14).

503 EM, hg. von Göttler 1991, Bd. 1, S. 9

504 A.a.O.; dort weist Göttler zudem darauf hin, dass „[d]iese Gruppe von Texten (…) aber auch die Tatsache [belegt], daß Emerenz Meier in ihrer amerikanischen Zeit immer wieder literarisch tätig wurde (…)“.

aber zunächst als kalt und unbekannt empfundenen Welt und Umgebung hin, gepaart mit der Konversation mit dem personifizierten Hunger. Dieser repräsentiert natürlich sowohl den Mangel an Nahrung als auch metaphorisch ebenso den an menschlicher Zuwendung, an Herzenswärme und liebender Geborgenheit. Parallelen mit der finanziell prekären Lage Emerenz Meiers und ihrer Familie in der Zeit vor und – noch mehr! – nach der Auswanderung fallen an diesem Punkt zweifellos sehr stark auf, noch dazu die auch in der Erzählung verarbeitete Erfahrung von Alleinsein und Ungewissheit, wie sie in der neuen Heimat jenseits des Atlantischen Ozeans sicher aufgetreten ist und die Anlass genug zur literarischen Verarbeitung dieser Erfahrung gab. Zudem spricht der an sich doch sehr überzeugende Aspekt der Überlieferung eindeutig dafür, ihre Abfassungszeit in die Jahre um 1908, also kurz nach dem Verlassen Bayerns, anzusetzen. Gleichwohl: Einige thematische Hinweise mögen freilich den Eindruck erwecken, der Text könne in München verfasst worden sein, Aussagen Emerenz Meiers im umfassend hierfür zitierten Brief an Hans Carossa ebenso, allein ausreichend erscheinen thematische Erwägungen nicht, dazu erscheint auch die Art der Überlieferung zu deutlich. Letztendliche Klärung kann es für diesen Fall nicht geben, jedoch spricht etwas mehr dafür, davon auszugehen, dass Ein Besuch bereits in den USA niedergeschrieben worden ist, weshalb diese Erzählung zum Spätwerk gezählt und unter dieser Rubrik analysiert wird.