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3 „Ich bin des freien Waldes freies Kind“ 52 – Die Bayerwalddichterin Emerenz Meier (1874-1928)

4 Sprachlich-dialektologische Analyse des Corpus

4.6 Lyrik in der Bleibrunner/Fuchs-Edition Aus dem Bayerischen Wald

4.6.2 Standardsprachliche Gedichte

4.6.2.1 Regionalismen und latente Dialekteinflüsse

Die zu behandelnden Gedichte, namentlich Mein Wald – mein Leben, Der Wasservogel, Der Säumer (entstanden um das Jahr 1920),470 Väterliche Ermahnung, Unverbesserlich, Zwischen Wachen und Schlafen, Spinnabend (erschienen 1898 in der Augsburger Abendzeitung),471 Widmung, Missgeschick und An Auguste Unertl472 (nach eigener Aussage Emerenz Meiers in einem Brief vom Juli 1922 entstanden in ihrer Frühzeit in den USA),473 sind zwischen acht und 40 Versen lang und durchgehend in Hochsprache verfasst. Einzelne Wörter, Wortteile oder morphologische Tendenzen regionalsprachlicher oder gar bairischer Natur lassen sich nur sehr vereinzelt feststellen, die im Folgenden nicht zitiert werdenden Gedichte Der Wasservogel, Der Säumer, Väterliche Ermahnung, Unverbesserlich, Widmung und An Auguste Unertl weisen nichts dergleichen auf. Ob Emerenz Meier gerade in ihrer schriftstellerischen Anfangszeit noch vorsichtig mit dem Dialekt als reiner Literatursprache umgegangen ist, ob sie sich des begrenzten Zugangs von Mundartlyrik für potenzielle Leser bewusst gewesen war, darüber kann nur spekuliert werden; fest steht bis dahin aber bereits ihre Mundartkompetenz und ihr bisweilen sogar selbstbewusster bis offensiver Umgang mit dem Dialekt. Im Bereich der Lyrik mag dieser Umgang ein anderer gewesen sein, an ihrer

470 Das potenzielle Entstehungsjahr ergibt sich daraus, dass Der Säumer in gedruckter Form aus dem „Neuen Passauer Literaturkalender“ um 1922 im Stadtarchiv Waldkirchen überliefert ist (vgl. hierzu Praxl 2008, S. 96).

471 Vgl. EM, hg. von Göttler, Bd. 2, S. 88, FN 1

472Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Bleibrunner/Fuchs-Augabe Aus dem Bayerischen Wald. Im Folgenden werden die Abkürzungen „MW“ (Mein Wald – mein Leben; vgl. S. 147), „DW“ (Der Wasservogel; vgl. S. 148),

„DS“ (Der Säumer; vgl. S. 149f.), „VE“ (Väterliche Ermahnung; vgl. S. 150), „U“ (Unverbesserlich; vgl. S.

151), „WS“ (Zwischen Wachen und Schlafen; vgl. S. 151), „S“ (Spinnabend; vgl. S. 153), „W“ (Widmung; vgl.

S. 153), „M“(Missgeschick; vgl. S. 156) und „AU“ (An Auguste Unertl; vgl. S. 157) verwendet. Wichtig

erscheint in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Titelgebung in der Bleibrunner/Fuchs-Ausgabe, die sich in Schreibung und Lautung nicht immer an derjenigen Emerenz Meiers orientiert. Zwar wurden im vorliegenden Fall diese aus Gründen der Editionstreue beibehalten, jedoch muss auf die Göttler-Werksausgabe, Band 2, verwiesen werden. Demnach lautete der Titel des bei Bleibrunner/Fuchs Widmung genannten Gedichts eigentlich An Th. (vgl. EM, hg. von Göttler, Bd. 2, S. 146), Mein Wald – mein Leben war laut einem bei Göttler

abgedruckten Autograph Emerenz Meiers mit „Mein Wald, mein Leben!“ überschrieben (vgl. a.a.O., S. 66f.;

wobei Göttler das Ausrufezeichen weglässt), zudem wird dort Missgeschick statt „Mißgeschick“ geschrieben (vgl. a.a.O., S. 127). Gerade letztere Schreibvariante kann auch der Tatsache geschuldet sein, dass bei

Bleibrunner/Fuchs die Gedichttitel durchgehend in Großbuchstaben und mit Kapitälchen gewählt wurden, was eine <ß>-Schreibung unmöglich macht.

473 Vgl. EM, hg. von Göttler, Bd. 2, S. 155, FN 1

Dialektprägung und ihrem Bewusstsein von seiner Wirksamkeit besteht trotzdem kein Zweifel.

Eindeutig ein oberdeutscher Einfluss feststellen lässt sich im Vers Dann jagst durch deine Gurgel (VE, V. 7), in dem Gurgel anstatt des standardsprachlichen Kehle verwendet wird.474 Mehr noch auf die oberdeutsche Herkunft der Verfasserin weisen in den Gedichten Zwischen Wachen und Schlafen bzw. Spinnabend die Substantive Burschen (WS, V. 3) bzw. Bube (S, V. 3) hin; beides, Bursch(en) noch mehr, sind landschaftliche Verwendungen, die im süddeutschen Raum auftreten. Eine hyperkorrigierte Verbform liegt bei frägt (M, V. 8, 24) vor,475 3. Person Singular Indikativ Präsens Aktiv von fragen. Aufgrund des vermeintlichen Umlauts in der althochdeutschen Entsprechung (er) fragit konstruiert die Verfasserin hier zweimal eine im Standard ungrammatische Form.

4.6.2.2 Auffällige Poetizismen

Hingegen fällt bei Betrachtung der lyrischen Texte die Bandbreite der Befunde poetischer oder bzw. und teilweise auch archaischer Natur bei Weitem größer aus; das in der Kapitelüberschrift gewählte Attribut „auffällig“ soll dabei allerdings lediglich deutlich machen, dass als Poetizismus zu kategorisierende Sprachbefunde in Gedichten per se ja nichts Ungewöhnliches sind, weshalb im Folgenden eben besonders auffällige herausgegriffen werden.

Allen voran muss der sog. sächsische Genitiv angesprochen werden,476 die pränukleare Stellung des Genitivattributs. Dieses Phänomen erscheint in folgenden Versen: Belebt von düstrer Nebel Tanz (MW, V. 3), Des Waldes Rauschen fort und fort (DW, V. 1), Des Bauern Lob, des Bauern Preis (DW, V. 11), Der Mädchen Wohl, der Mädchen Spott (DW, V. 15), War aus der Lieder Reim (a.a.O., V. 26), Er sucht des Säumers arme Maid (DS, V. 27), Was suchest du des Säumers Lieb? (DS, V. 35), Von scheuer Schmuggler Lust und Leid (S, V. 7), Für der Sonne Glanz der Sterne Licht (W, V. 4), Ich bin des „armen Manns Frau“477 (W, V.

18). Mag dies aus dem Zustand heutiger Sprachwahrnehmung anachronistisch erscheinen, muss man doch festhalten, dass in allen Fällen der Sinn dieser Form des Genitivs aus Gründen der Poetisierung, der Schaffung eines getragenen, poetischen Sprachduktus ist. Ebenso fungiert auch die Nachstellung des unflektierten Possessivpronomens: Die Tannen sein in

474 Dem Bairischen ist das Lexem Kehle an sich unbekannt.

475 Die entsprechenden Verse lauten Dem frägt kein Teufel was nach (M, V. 8) und Kein Teufel frägt was danach (M, V. 24).

476 Vgl. Lühr, S. 89; Lühr verwendet für den 2. Fall konsequent die Variante Genetiv.

477 Anführungs- und Schlusszeichen finden sich so auch im Originaltext.

wirrem Graus (MW, V. 11).478 Zwar gleichermaßen um eine Nachstellung, in diesem Fall der Akkusativergänzung, handelt es sich bei Ich sah mit hellen Augen ihn (MW, V. 17), was jedoch der Schaffung eines Reims zur, gemäß dem vorherrschenden Kreuzreim, übernächsten Versendsilbe Sinn (MW, V. 19) dient, wenngleich dieser nur unrein entsteht. Ein reiner Reim hingegen liegt vor bei gebeut und bereut (U, V. 6, 8). Dass im Vers Zu tun, was ihr Wille gebeut (a.a.O.) das doch durchaus archaisch erscheinende Partizip II zu gebieten verwendet wird,479 ist eben mit reimtechnischen Erwägungen zu begründen.

Archaisch mutet zudem das Verb dünken an, so von Emerenz Meier im Vers Mein innerstes Wesen dünkt mich entkernt (M, V. 19) gebraucht. Im beginnenden 21. Jahrhundert – ähnlich deuchen – beinahe komplett außer Gebrauch geraten, beinhaltete es auch bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert einen etwas antiquierten Unterton, weshalb sein Erscheinen erneut als Poetizismus zu werten ist und unter Umständen gar auf die Tatsache zurückgeführt werden muss, dass Emerenz Meier schon während ihrer frühen Schulzeit unter Anderem Homers Werke las – es darf angenommen werden, in den klassischen Übersetzungen des 18.

Jahrhunderts, was zwangsläufig Auswirkungen auch auf ihr eigenes Dichten hatte.

Um Art und Anzahl der nachgewiesenen Poetizismen nicht zu strapazieren, sei am Ende der Überlegungen lediglich darauf hingewiesen, dass in den betrachteten Gedichten bisweilen auch die Ellipse des zweiten, finiten Prädikatsteils auftritt, zumal wenn es sich dabei um ein Auxiliarverb handelt. Dies erfolgte sowohl vor dem Hintergrund sprachlich-poetischer Ausgestaltung der lyrischen Texte als auch aus metrischen Gründen, auf die im Einzelnen aber nicht näher eingegangen werden soll. Als Beispiele sollen das bereits zitierte Zu tun, was ihr Wille gebeut (U, V. 6) und Die Stätten, wo ich gelitten / Und alles, was ich geliebt (AU, V.

3/4) genügen. Vor gleichem Hintergrund ist auch das unflektierte Adjektivattribut zu werten:

Es ist ein herrlich Angebind (DS, V. 16) und Verstohlen dies Klagegedicht (U, V. 16), was sowohl auf die metrische Umgebung als auch auf den allgemeinen Sprachduktus zurückgeführt werden kann.

478 Eine Verwendung des Infinitivs sein an Stelle der konjugierten Verbform sind ist auszuschließen, da dadurch die Tempusfolge vom Imperfekt zum Präsens inkorrekt und unlogisch würde.

479 Die konsequente Durchführung der frühneuhochdeutschen Diphthongierung auch in Flexionsformen der mittelhochdeutschen Ablautreihen, im vorliegenden Fall IIb, hat sich in der Entwicklungsgeschichte des Neuhochdeutschen nicht durchgesetzt, nur vereinzelt lassen sich, um beim Beispiel des Verbs bieten zu bleiben (vgl. Paul 2007, u.a. S. 269; ebenso hierzu: Hennig, S. XXIII und 147, Schmidt, S. 264, Weddige, S. 50 und 53f.). Belegstellen finden, so im Adventslied Macht weit die Pforten in der Welt (Text: Albert Knapp, 1798-1864; Melodie: Adolf Lohmann, 1907-1983): „Nacht zerstreut er / Leben, Fried‘ und Wonne beut er.“ (Gotteslob 1974, S. 908, Nr. 810, V. 10f.).

4.6.2.3 Die Rolle von Apokopen, Synkopen, Silbenausfällen und Erweiterungen

Das Phänomen der apokopierten Auslaute von Verb- und Substantivformen, mehr noch der synkopierten Wortformen, bedarf einer kurzen Analyse und, wo notwendig, Diskussion. Die in den Gedichten recht zahlreich auftretenden Apokopen mögen den Anschein erwecken, näher an der Umgangssprache sich zu bewegen, betrachtet man die einzelnen Textbefunde, fällt allerdings auf, dass sie alle metrische Ursachen haben. In jeweils jambische Verse, die ansonsten eine Senkung zu viel beinhalteten, passen sich die im Folgenden zitierten Wörter und Verbformen nathlos ein: Freud in Die Freud an ihm bleibt mir bestehn (MW, V. 7), mußt und könnt in Und lieben mußt ich ihn noch mehr / Ihn meiden könnt ich nimmer (MW, V.

13/14), Konnt in Konnt er mir nicht mehr geben (MW, V. 22), leis in Vielstimmig sang er, laut und leis (DW, V. 9), Lieb in Er sang von Lieb und Lust (DW, 14) und Was suchest du des Säumers Lieb? (DS, V. 35), Angebind in Es ist ein herrlich Angebind (DS, V. 16), Säumerknab in Du junger Säumerknab (DS, V. 18), hätt in Für was hätt ich gespart (VE, V.

10) sowie Stub in Die Stub ist warm, der Span loht auf (S, V. 1). In gleicher Weise metrisch begründet, allerdings aufgrund des jeweils trochäischen bzw. daktylischen Grundmusters, ergeben sich Apokopen in folgenden Versen: Ungeblendet kann dein Aug sich freuen (W, V.

5), Ich hab einen Mann und hab ein Kind / Und lieb dies, mein eigenes Blut (M, V. 1/2), Einst konnt ich dichten und erntet Lob (M, V. 9), Nun hab ich zu leben und dichten verlernt (M, V.

17), Und ich in der kühlen Erde ruh (M, V. 23), Dir weih ich die Fluren der Heimat (AU. V.

1) und Von mir zu jeglicher Stund (AU, V. 6). Im Prinzip liegen hier nun also keine Sonderfälle oder besonders auffallende Phänomene der Verkürzung vor. Das gleiche Erklärungsmuster muss auf so manche Synkopierung und den Ausfall einer Silbe wie auch auf Silbeneinfügung angewandt werden. Die Bandbreite an Befunden in einzelnen Versen erweist sich erneut als ziemlich groß: Belebt von düstrer Nebel Tanz (MW, V. 3), Die andern all zerstieben (MW, V. 8), Und drum: Mein Wald – mein Leben (MW, V. 24), Der ält’ste Greis den Schlaf vergaß (DW, V. 19), Er lenket heimatwärts (DS, V. 10), Ein seidnes Tüchlein birgt er dort (DS, V. 13), Doch unterm Wams dies seidne Tuch (DS, V. 23), Was suchest du des Säumers Lieb 480 (DS, V. 35), Das Blut auf seidnem Schnee! (DS, V. 38), Und suchest dir zum Weibe (VE, V. 3), Doch gestern, zu Tränen gerühret (U, V. 9), Erneut ich es nochmals bei Gott (U, V. 10), Durch Bitten und Drohen verführet (U, V. 11), Dran spinnen sich ein Feengewand / Die traumbefangnen Mädchen (S, V. 11/12) und Dir weih ich die Fluren der Heimat / Und die Blumen, die es drauf gibt (AU, V. 1/2).

480 Hier erscheint sogar in suchest die Erweiterung der Flexionsform um eine Schwa-Silbe, was ebenso der Aufrechterhaltung der regelmäßigen Alternanz von Hebungen und Senkungen geschuldet ist.

Anmerkungen zur Schreibweise Emerenz Meiers bedürfen aus diesem reichen Schatz an Befundstellen lediglich eine: Dass sich die Dichterin der Synkopierung von Wörtern bewusst war, beweist allein der Apostroph in Der ält’ste Greis (DW, V. 19). Eine einheitliche Kenntlichmachung von Synkopen auf diese Weise – was eine bei einer Großzahl von Autorinnen und Autoren des 19. Jahrhunderts gern realisierte Möglichkeit der Kenntlichmachung von elidierten Lauten oder Silben darstellt – erfolgt jedoch nur in diesem einen Fall. Es muss insgesamt hierzu festgehalten werden, dass der Gebrauch des Apostrophs als eine Art Hilfsmittel bei Emerenz Meier nur vergleichsweise selten erfolgt.

4.6.3 Kurze sprachliche Analyse „der“ Mundartballade schlechthin: Wödaschwüln