• Keine Ergebnisse gefunden

Makroebene: Analyse der Zahlenbefunde im Allgemeinen

3 „Ich bin des freien Waldes freies Kind“ 52 – Die Bayerwalddichterin Emerenz Meier (1874-1928)

5 Auswertung und Diskussion

5.3 Auffälligkeiten und Deutungsansätze

5.3.1 Makroebene: Analyse der Zahlenbefunde im Allgemeinen

Wie allein bei Betrachtung der summarischen Befundzahlen deutlich wird, geht die Anzahl der in den Erzähltexten aufscheinenden latenten Dialektismen nach Emerenz Meiers Emigration 1906 signifikant zurück. Dies für sich ließe jedoch noch keine verlässliche Aussage über ihr Verhältnis zum heimatlichen Dialekt zu, eine ganze Reihe weiterer Faktoren sind zu berücksichtigen, um letzten Endes ein aussagekräftiges Ergebnis zu liefern.

Nun konnte die Dokumentation der Mundartverwendung der Dichterin von Beginn der Ausführungen an nur bei Betrachtung latenter Dialekteinflüsse in den Erzähltexten geschehen. Dialoge, wörtliche Reden, gar Reflexionen von literarischen Figuren sind häufig im Dialekt verfasst. Doch schon hier ergibt sich ein gewaltiger Unterschied: War dies bei den im heimatlichen Bayern verfassten Texten678 annähernd so gut wie ausnahmslos der Fall, so nimmt dies nach 1906 deutlich ab. Auch die Anzahl mundartbedingter Einflüsse in den Gedichten geht zunehmend zurück. Darüber hinaus muss in die Überlegungen mit einbezogen werden, dass gerade im Bereich der Lexik bei

678 Die betrachtete Lyrik kann hierunter durchaus subsumiert werden, enthält sie doch ebenso – obgleich natürlich reine Mundarttexte oder größtenteils standardsprachliche vorliegen – erzählende Passagen wie wörtliche Reden bzw. Redeanteile eines eindeutig feststellbaren und nicht ausnahmslos erzählenden lyrischen Ich.

Emerenz Meier eine Tendenz zum Gebrauch standardsprachlichen Vokabulars statt mundartlicher Wörter und Wendungen feststellbar ist. Syntaktische und morphologische Auffälligkeiten bairischer Prägung in hochsprachlicher Umgebung nehmen zwar gleichfalls ab, jedoch nicht in gleichem Maß.679 Die Gründe für den Rückgang latenter Mundarteinflüsse erscheinen logisch. Der Einfluss der englischsprachigen Umgebung nicht nur im öffentlichen Umgang, auch im häuslichen Bereich,680 beeinflusst Emerenz Meiers Sprachwahrnehmung und -verwendung signifikant, wie auch schon die Anzahl der erscheinenden Amerikanismen beweist, und muss wohl als primärer Grund für die Veränderungen nicht nur in ihrer Literatursprache gesehen werden. Weniger Möglichkeiten, die Muttersprache Deutsch oder gar den Heimatdialekt zu sprechen, in Verbund mit einer durchweg englischsprachigen Umwelt führen beinahe schon zwangsläufig zu einer Verschiebung der eigenen Sprachtendenz in Richtung der Sprache der neuen Heimat. Die Tatsache der äußeren Entfernung von der Heimat mag das Eine gewesen sein, eine innere Entfernung, sie sei hier bewusst innere Emigration, genauer noch temporäre innere Emigration genannt,681 das Andere. Bis 1919 sind keine Briefe der Dichterin nach Waldkirchen oder gar auch in die weitere Waldheimat vorhanden, die äußere Abkehr wandelt sich also sehr bald nach 1906 – im Vorfeld der Auswanderung sicherlich bereits eher – auch in eine innere, eine sprachliche. Nicht nur, dass die Schauplätze der Erzählungen vom heimatlichen Wald in die USA wechseln, auch die Figuren, ihre Handlungen, ihre Sprache ändern sich. Aber – diese Einschränkung ist eine wichtige, für die Betrachtungen gar elementare – ist diese innere Emigration Emerenz Meiers nicht permanent. Ihre ausgewählten Briefe in die Heimat, der freiwillig wieder aufgenommene und allem Anschein nach einer Sehnsucht folgende Kontakt mit der Freundin und Mäzenatin Auguste Unertl beweisen es.682 Auf Jahre der bewussten inneren Abkehr von der Heimat – eben temporäre innere Emigration –, auf Ernüchterung und Enttäuschung über ein doch nicht so wie erhofft vorgefundenes Paradies jenseits des Atlantiks folgte eine erneute Annäherung an die ferne Waldheimat, die sich auch sprachlich auszuwirken scheint.683 Daher soll hierbei kontrastiv zur temporären inneren

679 Eine gesonderte Analyse und Interpretation der einzelnen Befundrubriken wird in einem nachfolgenden Kapitel der Arbeit noch erfolgen.

680 Wenn auch dieser freilich um ein Vielfaches geringer ausgefallen sein mag.

681 Die Erweiterung des soeben konstruierten Terminus um das Attribut „temporär“ bzw. die Tatsache der Temporalität innerer Emigration wird sich im Zuge der folgenden Reflexionen als adäquat erweisen.

682 Im Brief an Auguste Unertl vom 15.03.1920 schreibt Emerenz Meier: „So heiß sehn ich mich oft nach meinem alten Oberndorf, ich träume noch immer beinahe jede Nacht davon“ (in: EM, hg. von Göttler, Bd. 2, hier S. 233)

683 Aufgrund bereits erwähnter Ermangelung von Briefen nach Bayern muss die auch sprachlich erkennbare (Wieder-)Hinwendung zur Heimat anhand literarischer Texte nachgewiesen werden. Dass eine innere

Emigration von ideeller innerer Remigration gesprochen werden; ideell deshalb, weil es nie zu einer realen Rückübersiedlung in den Bayerischen Wald kam und Remigration somit nur in Gedanken der Dichterin ablaufen konnte. Freilich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Intention beim Verfassen von Briefen eine andere ist als beim, wie Emerenz Meier es ausdrückt, „Schriftstellern“.684 Freilich muss ebenso davon ausgegangen werden, dass die in den USA entstandenen Erzählungen zwar an ein deutschsprachiges Publikum gerichtet sind, aber nicht explizit an ein solches ostoberdeutscher Herkunft. Nichtsdestotrotz – Fakt ist nach Analyse von Tabelle 1 alleine:

Auch mit wieder einsetzendem Briefkontakt mit Auguste Unertl in Waldkirchen scheinen latente Dialekteinflüsse in den Erzählungen wieder vermehrt aufzutreten. Der quantitative Unterschied – mehr Befunde in den Briefen als in den Erzählungen – erklärt sich aus bereits erörterten Gründen des unterschiedlichen Entstehungshintergrunds von Literatur und Briefen, zumal aus einer Übergangszeit zwischen temporärer innerer Emigration und ideeller Remigration – davon ausgehend, dass es sich nicht um punktuelle, sozusagen spontane Stimmungswandlungen handelt, sondern um prozesshafte innere Vorgänge – keine Briefe Emerenz Meiers überliefert sind; vermutlich wurden solche nie geschrieben.

Insgesamt also ist festzuhalten: Die im Titel vorliegender Arbeit gewissermaßen suggerierte Wandelbarkeit des Verhältnisses Emerenz Meiers zu ihrem Dialekt ist als solche zu sehen. Auf die enge Verwurzelung, Verquickung, ja gar Kongruenz von schriftstellerischem Schaffen und heimatsprachlicher Gebundenheit folgt spätestens mit der Emigration 1906 eine Phase bewusster innerer Abkehr, damit einhergehend der sprachlich-dialektalen Entfremdung von der Heimat. Diese jedoch wird 1919 mit zunehmendem Lebensalter – immerhin war die Dichterin damals bereits 45 Jahre alt – abgelöst von einer bis zu ihrem Tod 1928 dauernden Zeit der Sehnsucht nach der Heimat, der Wiederentdeckung auch der sprachlichen Wurzeln, der tiefen Zuneigung und Verbundenheit zur Heimat.

Wie aber ist nun dieses sich wandelnde, wandelbare Verhältnis charakterisiert? Welche Tendenzen, Parallelen und Differenzen lassen sich in der Sprach- und Dialektverwendung Emerenz Meiers im Einzelnen feststellen? Die folgenden Überlegungen sollen darüber Auskunft zu geben versuchen:

Vergleicht man in Tabelle 1 hinsichtlich latenter Dialekteinflüsse im Bereich der Wortwahl die hier behandelten frühen und späten Erzählungen Emerenz Meiers untereinander, so

Veränderung Emerenz Meiers stattgefunden hat, beweist – auch das wurde bereits erwähnt – allein die Wiederaufnahme des Briefkontakts mit Auguste Unertl in Waldkirchen.

684 Brief an Auguste Unertl vom 08.10.1927 (zitiert nach EM, hg. von Göttler, Bd. 2, hier S. 408)

lässt sich zuerst feststellen, dass die Verwendung mundartlicher Lexeme nur unwesentlich zurückgegangen ist. Das relativ häufige Auftreten dialektaler oder dialektnaher Wörter ist also als größte Gemeinsamkeit der frühen wie späten Prosatexte festzuhalten. Allein das lässt noch keine eindeutige Aussage zu. Wohl ist der Fall, dass der Gebrauch von volkstümlichen Eigennamen – in erster Linie in verkürzter Form – stark absinkt, ebenso das Vorkommen mundartlicher Flexions- und Wortbildungsmuster, jedoch haben diese Erkenntnisse ohne nähere Betrachtung sowohl der einzelnen Erzählungen als auch deren Situierung wenig Wert, so dass Tabelle 2 in die Überlegungen mit einbezogen werden muss.

Es lässt sich nämlich innerhalb beider Werkphasen jedes Mal ein Rückgang von Dialektismen manifestieren. Quantitativ charakterisieren die drei frühen Erzählungen in erster Linie lexematische Mundarteinflüsse, doch geht deren Anzahl entsprechend ihrer späteren Abfassungszeit zurück. Dies ist auch der Fall in den Bereichen von Syntax und Nomina propria, die Rubrik Morphologie stellt eine Ausnahme dar. Innerhalb der späteren Prosawerke fällt der eben zitierte Rückgang zahlenmäßig erheblich stärker aus und ist zeitlich zwischen den Erzählungen Der Bua und Mutterseelenallein erkennbar. Die folgenden Texte erreichen nicht annähernd die Zahl an Dialektismen wie der erste aus der Spätphase von Emerenz Meiers schriftstellerischem Schaffen. In den Bereichen Syntax und Nomina propria und appellativa sind sie sogar frei von Mundarteinflüssen, unter der Rubrik Morphologie fällt nur Bella auf, die Spalten der übrigen Erzählungen bleiben leer.

Bella weist im Vergleich zu Mutterseelenallein, Ein Besuch und Ein Ferientag dreier Gassenbuben mehr lexematische Mundartcharakteristika auf und als einzige auch vier morphologische Besonderheiten. Warum dies der Fall ist, obwohl die Handlung namentlich in Chicago spielt und überdies ebenso Amerikanismen nachweisbar sind, kann nicht mit letztendlicher Sicherheit gesagt werden, zumal sich auch kein etwaiger Hinweis auf eine plötzlich vertieftere Beschäftigung mit der bayerischen Heimat in Briefen der Autorin findet oder eventuelle Parallelen in ihrer Biographie.

Im Bereich des Satzbaus weisen die frühen Erzählungen relativ wenig mundartlich begründbare Besonderheiten auf, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass keine dialektalen Strukturen existieren, die in der Standardsprache ungrammatisch wären;

lediglich großregionale Feinheiten sind feststellbar. So verhält es sich auch mit den späten Prosatexten, deren syntaktische Struktur ohne jeden dialektalen Einfluss ist.

Bezüglich der Eigennamen lässt sich eine ähnliche Aussage treffen. Zwar werden im Juhschroa viele mundartliche Vornamenformen und Besonderheiten der bairischen

Nomenklatur verwendet, doch nimmt deren Häufigkeit bereits im Laufe der beiden folgenden Erzählungen fast um die Hälfte ab. Dieses Phänomen tritt in den in Amerika verfassten Texten nicht mehr auf, was auch mit der bereits beschriebenen Tatsache zusammenhängt, dass die Handlungen von Bella und Ein Ferientag dreier Gassenbuben mit eindeutig amerikanischen Figurenpersonal in Chicago spielen, wo zwar deutsche Vornamen existiert haben mögen und noch heute existieren, diese aber bestimmt keine bairischen Abkürzungen erfahren haben. In Mutterseelenallein werden gar keine Nomina propria verwendet.

Den aus vorangehendem Kapitel der Arbeit gewonnenen Erkenntnissen sei an dieser Stelle die Frage gegenübergestellt, ob sich Emerenz Meier während der Zeit nach ihrer Auswanderung wirklich bewusst und aus einem bewussten Entscheidungsprozess, welcher von äußeren Einflüssen natürlich geprägt ist, heraus vom Dialekt abgewandt hat, was die Zahlen der Befunde ja vermuten ließen. Bereits ihre ersten Prosastücke Der Juhschroa, Der Brechelbrei und Die Madlhüttler weisen auf die Bemühung der Autorin hin, möglichst standardnah zu schreiben, was jedoch an manchen Stellen, die eindeutig dialektal gefärbt sind, nicht ganz gelingt und Interferenzen und Hyperkorrekturen zur Folge hat.

Fest steht – das muss an dieser Stelle und zur Klärung der aufgeworfenen Frage nochmals wiederholt werden –, dass die späten Erzählungen weitaus weniger Mundarteinflüsse beinhalten als noch diejenigen der jungen Schriftstellerin, doch dürfen hierbei, wie erwähnt, deren Schauplätze nicht außer Acht gelassen werden. Hans Ulrich Schmid konstatiert bezüglich seiner Untersuchung von Lena Christ, Ludwig Thoma und Oskar Maria Graf, dass es sich bei Texten, die latent dialektal sind, meist um „Dorfgeschichten, Bauernromane und autobiographische Erzählungen (…) größtenteils in dörflicher Umgebung“685 handelt. Solange dies bei Erzählungen Emerenz Meiers der Fall ist, namentlich Der Juhschroa, Der Brechelbrei, Die Madlhüttler, Der Bua und Mutterseelenallein, lassen sich mit einer Ausnahme relativ zahlreiche Dialektismen feststellen, die Lokalkolorit entstehen lassen und Alltag und Brauchtum dem Leser unmittelbar nahe bringen sollen.686 Mutterseelenallein ist bereits in den USA verfasst worden und von den unmittelbar nachfolgend entstandenen Erzählungen am meisten von Bavarismen geprägt, ein Indiz dafür, dass sich die Autorin ihrer sprachlichen Wurzeln bewusst war und diese trotzdem zu verheimlichen suchte. Danach scheint tatsächlich eine Veränderung ihrer Einstellung eingetreten zu sein, wofür nicht nur die zahlenmäßige Auswertung als Beweis dient. Man kann also an der Schwelle zur und nach der

685 Schmid 1998, S. 119

686 Vgl. Zetzsche, S. 39

Auswanderung durchaus von einem bewussten Entscheidungsprozess des Sich-Abwendens vom Dialekt sprechen, wenn er auch reversibel war. In den letzten beiden Texten, in Bella geringfügig mehr als in Ein Ferientag dreier Gassenbuben (vgl. Tabelle 5), sind zudem Amerikanismen anzutreffen. Gemessen an dieser Tatsache von einer Akkulturation Emerenz Meiers zu sprechen, würde zu weit führen, trotzdem kann man erkennen, wie groß der Einfluss der die Autorin hauptsächlich umgebenden Sprache, des Englischen, war.

Zudem darf auch deren erzähltechnische Funktion nicht außer Acht gelassen werden, nämlich die Erzeugung von Authentizität.

Doch neben diesen lassen sich im Werk Emerenz Meiers immer wieder Indizien für den von Kindesbeinen an gesprochenen Dialekt finden. Auftretende Interferenzen zwischen Mundart und Hochsprache werden allerdings immer weniger (vgl. Tabelle 4), auch sind auffällige Lexeme, beispielsweise in ihrer letzten Erzählung, bisweilen erst auf den zweiten Blick mit dem Dialekt in Verbindung zu bringen. Die in allen Schaffensphasen der Autorin erscheinenden Archaismen und Poetizismen (vgl. Tabelle 3) rühren von ihrer Beschäftigung mit klassischer Literatur her und haben nicht die Absicht, eventuelle Mundartanzeigen zu verbergen. So sehr sie sich auch von ihren frühen Prosastücken distanzierte,687 eine komplette Abkehr von der Mundart trat nie ein, zu groß war wohl ihre

„zermarternde Sehnsucht nach der fernen Waldheimat“, wie es Max Peinkofer ausdrückt,688 zu groß die Verbundenheit mit den Orten ihrer ersten gut dreißig Lebensjahre, mit denen auch die Mundart zusammenhängt.

Letztlich bejahen lässt sich die eingangs gestellte Frage also nicht. Zweifelsfrei ist von einem gewandelten Verhältnis Emerenz Meiers zum Dialekt zu sprechen, das sich anscheinend relativ schnell vollzog und wofür es verschiedene Gründe gibt. Wie die Ausführungen gezeigt haben, ist diese Wandlung sicherlich ebensowenig ein punktuelles Ereignis innerhalb ihrer Biographie wie ein unumkehrbares, sondern eine von drei Lebens- und Schaffensphasen.