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Metaebene: Analyse der Zahlenbefunde im Einzelnen

3 „Ich bin des freien Waldes freies Kind“ 52 – Die Bayerwalddichterin Emerenz Meier (1874-1928)

5 Auswertung und Diskussion

5.3 Auffälligkeiten und Deutungsansätze

5.3.2 Metaebene: Analyse der Zahlenbefunde im Einzelnen

Die nun folgenden Analysen orientieren sich an den bekannten Kategorien im Bestreben, den durch die Auswanderung bedingten Wandel innerhalb von Emerenz Meiers Sprache erläutern zu können. Dabei wird nicht nur der konkrete Fall bearbeitet. Ungeachtet der Tatsache, dass biographische, intellektuelle und psychische Faktoren unterschiedlichster Art für jeden Fall zwangsläufig andere und anders prägende sein müssen, lassen sich doch im Zuge der

687 Vgl. Brief an Auguste Unertl vom 08.10.1927 (zitiert nach EM, hg. von Göttler, Bd. 2, hier S. 408)

688 Peinkofer, S. 18

detaillierten Analyse sicherlich Aussagen darüber treffen, in welchen Teilbereichen in welcher Intensität Sprachwandel im Allgemeinen manifestierbar zu werden scheint.

Bei Betrachtung der summarischen Befunde war zunächst ja festzuhalten, dass sich Dialekteinflüsse in erster Linie im Bereich der Lexik zeigen, gefolgt von Nomina propria und appellativa sowie morphologischen Besonderheiten. All diese nehmen, gemessen an der literarischen Textproduktion im Spätwerk Emerenz Meiers, signifikant ab, wenngleich die Einflüsse auf lexikalischer Ebene mit 16 Befunden noch am stärksten ausfallen. Dass dies natürlich mit der geographischen und somit auch inneren Entfernung von Heimat und heimatsprachlichem Hintergrund in Zusammenhang steht, ist allein für sich schon logisch.

Gesondert zu betrachten gilt es nunmehr den Bereich der analysierten Briefkorrespondenz, dessen Befundzahlen erstaunlicherweise einen Aufwärtstrend erkennen lassen. Als auffallend gering hingegen erweist sich die Zahl der Mundartanzeigen in lyrischen Texten, weshalb deren Interpretation eine eher untergeordnete Rolle spielen wird.

Versucht man anhand der Ergebnisse aus Tabelle 2 eine analytische Erklärung von Parallelen und auftretenden Veränderungen, ist auch hier natürlich ebenso die Lexik als zahlenmäßig stärkster Teilbereich der Dialektismen und regionalsprachlichen Auffälligkeiten festzuhalten;

eine weiter ins Detail gehende Betrachtung wird noch erfolgen. Erstaunlich ist zunächst aber die Abnahme der verwendeten dialektalen Nomina propria und appellativa – spielen diese noch in den in Bayern entstandenen literarischen Texten eine elementare Rolle, gehen deren Befunde in allen Erzählungen des Spätwerks sowie in den behandelten Gedichten auf Null zurück. Fast spiegelbildlich stehen hierzu die Briefe, welche im Bereich der Nomina propria sogar eine Steigerung der Befundzahlen von drei auf fünf aufweisen: Ein Beleg für die unterschiedliche Wahrnehmung von Literatur und privater Korrespondenz, gerade auf Seiten der Autorin, und den unterschiedlichen Hintergrund ihrer Abfassung.

Aber auch weitere Erkenntnisse lassen sich der Tabelle samt statistischer Auswertung entnehmen: Sind in allen untersuchten Bereichen in der vor 1906 entstandenen epischen Literatur die Befundzahlen annähernd gleich hoch, gehen diese für die erste Zeit nach der Emigration kontinuierlich zurück, steigen danach, um 1920, aber erneut an. Wenn sie auch nicht die gleiche Höhe wie vor 1906 erreichen und nicht die gesamte Bandbreite an Befundrubriken abdecken, ist trotzdem ein vermehrter mundartlicher und regionalsprachlicher Einfluss gerade im Bereich der Wortwahl zu erkennen. Dies lässt eine elementare Zusammenfassung zu bzw. stützt die Aussagen des vorherigen Teilkapitels: Parallel zur Wiederaufnahme des Briefkontakts in die Waldheimat ergibt sich auch Emerenz Meiers Wiederannäherung an ihre sprachlichen Wurzeln. Die behandelten Briefe, gerade nach der

doch jahrelangen Phase des Schweigens, belegen mit ihren Befundzahlen diesen Schluss überdies auf signifikante Weise. Erstaunlich ist dabei sogar, dass dialektnahe bzw. dialektale Phänomene noch leicht vermehrt auftreten. Der Grund hierfür, die Unmittelbarkeit der Briefproduktion, wurde bereits angesprochen. Mag sich dabei in Betrachtung der Zahlen für Meiers Lyrik ein konträres Bild ergeben, verwundert dies jedoch kaum. Wie die sprachliche Analyse der Gedichte im Hinblick auf Mundarteinflüsse deutlich gezeigt hat, sind diese ohnehin schon aufgrund ihrer poetisch-poetisierenden, bisweilen auch bewusst archaisierenden Sprache überhaupt um ein Vielfaches weniger hierfür anfällig.

Inwieweit und in welchen Subkategorien sich nun aber im Einzelnen Dialektismen zeigen, soll anhand einer Auswertung der Tabellen 3 und 4 erfolgen. Zunächst ist natürlich die große mundartliche Durchsetzung von Emerenz Meiers Sprache im Bereich von Nomina propria und appellativa sowie allgemein der Lexik zu erkennen. Innerhalb Letztgenannter nehmen Substantive fast durchgehend – die Briefe der Zeit vor 1919 ausgenommen – den größten Raum ein, gefolgt von Verben und Verbalgruppen. All dies sind diejenigen Vokabeln und Lexeme, welche auf Dialektsprecher wie Emerenz Meier seit der Phase ihres Erlernens die größte Einprägsamkeit, Verankerung und Erinnerbarkeit bewirkt haben. Die Bezeichnung der Dinge mit Substantiven hat innerhalb dessen den größten Effekt, über Jahre, sogar Jahrzehnte hinweg und geographischen Veränderungen zum Trotz, wenn auch besagte Erinnerbarkeit abebbt, wie die Zahlen gleichsam belegen. Aber es scheint sich doch andererseits dieses Abebben aufhalten zu lassen und partiell auch revidierbar zu sein, was die Befunde der beiden in den USA entstandenen Prosatexte gleichermaßen wie der Briefe aus dem selbstgewählten Exil beweisen. Je größer die emotionale Teilnahme der Autorin am Geschriebenen, desto höher also auch die Frequenz regionaler Spracheinflüsse. Neben lexematischen Gesichtspunkten ist im morphologischen Bereich dabei in erster Linie die Flexion auffällig.

Ohnehin weniger von latenten Dialektismen geprägt, lassen sich gerade in den späten Briefen Emerenz Meiers flexionsbedingte Eigenheiten feststellen, wobei auch nicht wenige Befunde auf regionalsprachlichen Wortbildungsschemata beruhen. Es handelt sich also auch hierbei um fest in Denken und subjektiver Sprachproduktion verankerte Muster, die – wieder – zum Vorschein kommen, wenn auch nicht so zahlreich wie noch solche aus dem Bereich der Wortwahl. Immerhin aber verfügen diese trotzdem über eine nach Jahrzehnten noch vergleichsweise starke, zugleich unbewusste Präge- und Ausstrahlungskraft. Freilich, auch bestimmte Arten von Genusverwendung, diverse Adjektive oder Adverbien verfügen darüber, doch eben nicht in dieser herausstechenden Weise – die Befundzahlen sind hierfür eindeutig;

die dialektale Attribuierung einer Sache auf eine standardsprachliche umzustellen, erweist

sich für einen Dialektsprecher leichter, als den Ausdruck für sie selbst zu ersetzen. Ob damit immer noch das Gleiche ausgedrückt wird, sei bisweilen dahingestellt,689 Umschreibungen oder gar annähernd kongruente bzw. synonyme Ersatzbegriffe erscheinen für Emerenz Meier schwieriger zu finden möglich – gerade wo es sich um Termini technici handelt – als bei der ergänzenden Beschreibung einer abstrakten Sache.

Insoweit, um ein vorläufiges Fazit zu ziehen, sind es in erster Linie aber Substantive, welche bei Dialektsprechern wie der hier untersuchten Dichterin am prägendsten, am einprägsamsten und wohl am leichtesten erinnerbar sind und die somit den größten Teil von Mundarteinflüssen darstellen. Mit ihnen hängen logischerweise charakteristische Wortbildungsmuster zusammen, auf die dann mit einiger Regelmäßigkeit zurückgegriffen wird. Diese Entwicklung ist entsprechend vor zwei Hintergründen zu sehen: Erstens sind Briefe um ein Vielfaches persönlichere Produkte und ohne Anspruch an Literarizität entstanden, spiegeln also ein unmittelbareres Bild einer persönlichen Sprachverwendung und der subjektiven Sprachsituation eines Menschen wider. Zweitens ist allein schon an den reinen Zahlen erkennbar, dass Emerenz Meier allem Anschein nach eine hohe emotionale Verbundenheit, gemessen an ihrer geographischen Emigration fast schon ein gewisses Maß an Re-Identifikation mit dem heimatlichen Bereich zu Eigen war, als sie die briefliche Korrespondenz mit Auguste Unertl wieder aufnahm. In diesem Zusammenhang wird es zu einer Reaktivierung regionalsprachlich-mundartlichen Gedankenguts gekommen sein, welche in den Jahren zuvor weniger intensiv bis kaum gepflegt worden war. Gemäß ihrer eigenen Erinnerung und Prägung erscheinen nun dialektale Einflüsse in den Schreiben nach Waldkirchen, entsprechend zu den frühen, auch mit der höchsten Befundzahl im Bereich der Lexik. Allerdings übertreffen die Zahlen diejenige der Jahre vor 1919 deutlich,690 was wiederum ein Zeichen dafür ist, wie groß und stark die innere Wiederannäherung gewesen sein muss.

Wenn sich nun also regionalsprachliche Einflüsse am häufigsten im lexikalischen Bereich zeigen, entsprechend als höchst wiedererinnerbar erweisen, entstünde logischermaßen die Frage nach der Art und Weise, wie und in welchem Bereich sich Amerikanismen bei Emerenz Meier manifestieren. Tabelle 6 gibt darüber entsprechend Auskunft. Und auch hier zeigt sich ein sehr ähnliches Bild wie bei den latenten Dialekteinflüssen: Die literarischen Texte weisen – insgesamt wie einzeln betrachtet – weniger Befunde auf als die analysierten Briefe. Und erneut ist es der Bereich der Lexik, der sich am weitaus stärksten ausnimmt, aufgeteilt nach den bekannten Subkategorien sind es ebenso wieder Substantive. Neu hinzu kommen

689 Feine Nuancierungen werden zweifellos nicht tangiert.

690 Vgl. allein schon bereits Tabelle 1

Grußformeln und Interjektionen. Der Erwerb einer neuen Sprache ohne institutionalisierte oder kodexbasierte Anleitung erfolgt also ähnlich derjenigen der Mundart als Kind. Zunächst sind es Substantive, die erlernt werden, in Verbindung mit alltäglichen Floskeln, Phrasen und Interjektionen, wobei gerade Letztere sich nicht – und dies ist in der Mundart ja ebenso der Fall – an grammatisch kodifizierten Regeln orientieren. Dass gerade sie in den Sprachgebrauch der Autorin eingehen und somit ihren Niederschlag in Literatur wie privater Korrespondenz finden, zeigte sich im Zuge der Auswertung. Die ebenfalls entstandenen Interferenzen verwundern daher nicht, wie sie ebenfalls bei ihrem Auftreten zwischen Mundart und Standard nicht verwunderten. Die jeweils am nächsten liegende Sprachebene – im Falle des Englischen muss man von Sprache im Allgemeinen sprechen – strahlt auf das zu Schreibende aus, beeinflusst es insoweit, als es vor dem geistigen Auge des Autors bzw. im vorliegenden Falle der Autorin von der einen Sprache (oder Sprachebene) in die andere transferiert werden muss.

Poetizismen und Archaismen sind vor allem im Frühwerk der Dichterin manifestierbar. Dies ist umso auffälliger, als sie gleichermaßen in der Lyrik wie in der epischen Literaturproduktion auftreten – Poetizismen im lyrischen Bereich logischerweise noch mehr.

Die Tatsache, dass ihre Zahl mit der Emigration Emerenz Meiers sehr signifikant zurückgeht, ist darauf zurückzuführen, dass mit dem Wechsel in eine fremdsprachige Umgebung und dem bald einsetzenden Erwerb englischer Lexeme und Formulierungen auch ein gewisser Verlust der schöpferisch-ästhetischen Kraft des Standarddeutschen für die Dichterin einhergeht. Dies bedeutet nicht etwa gar einen Verlust literarischen Anspruchs oder literarischen Werts. Durch äußere Einflüsse wie natürlich die Auswanderung erscheint eine zumindest temporär spürbare Abkehr vom Deutschen als poetisierende Literatursprache nach Art ihrer frühen Erzählungen und Gedichte bei Emerenz Meier erkennbar zu sein. Besonderen Wert legt der Autor der vorliegenden Arbeit aber, um dem folgenden Kapitel kurz vorzugreifen, auf die Feststellung, dass dies temporär der Fall ist; wenn auch Poetizismen und Archaismen zahlenmäßig zurückgehen – den Nullpunkt erreichen sie nie, in der Erzählung Bella gehen die Befundzahlen sogar wieder nach oben, was einen erneuten Hinweis auf die sich wieder wandelnde Beziehung Emerenz Meiers zum Deutschen im Allgemeinen darstellt.