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Weitere soziale Funktionen von Erwerbsarbeit

Im Dokument Prekäre Arbeit, prekäre Liebe (Seite 123-126)

4.3 »Gute Arbeit« als Ausdruck des Selbst: Veronika Vetter

4.5 Weitere soziale Funktionen von Erwerbsarbeit

Bereits Marie Jahoda et al. (1975 [1933]) haben neben der Existenzsiche-rungsfunktion fünf weitere, »latente Funktionen« (Jahoda 1983) von Er-werbsarbeit34 herausgestellt: Zeitstruktur, soziale Kontakte, kollektive Ziele, Status und Identität, regelmäßige Beschäftigung (ebd.; Kapitel 2). Fallen die

34 Wir bezeichnen diese als soziale Funktionen, denn sie sind unseres Erachtens nicht la-tent (siehe Kapitel 2).

weiteren Funktionen durch Arbeitslosigkeit weg, so die Marienthalstudie, kann dies soziale Folgen nach sich ziehen (Jahoda et al. 1975 [1933]; siehe Kapitel 2).

Die sozialen Funktionen (und Folgen) sind auch bei prekär Beschäftigten bedeutsam. Einige davon, etwa Sinnstiftung und Identität, haben wir in Ka-pitel 4.1 breit ausgeführt. Soziale Kontakte fokussieren wir in Kapitel 7 und die Frage nach Anerkennung und Sinnstiftung als eminent wichtige le Funktionen von Arbeit durchzieht das gesamte Buch. Zwei weitere sozia-le Funktionen von Arbeit, die für die von uns Befragten bedeutsam waren, nennen wir nachfolgend. Dies erfolgt nur sehr knapp und quer über die Fäl-le, da die beiden Aspekte nicht im Kern der Fallstrukturen standen.

Soziale, kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe

Eine wichtige soziale Dimension von Erwerbsarbeit ist ihre über das Ein-kommen, aber auch jenseits des Einkommens vermittelte soziale, kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe (siehe Kapitel 2.1, Becker-Schmidt et al. 1984;

Jahoda et al. 1975 [1933]). Deutlich benannt wird diese Funktion oft von denjenigen, bei denen sie eingeschränkt ist, etwa von Theo Tettler, Ulrike Urban, Oliver Oswald, Rolf Radler und Caroline Christiansen. Ihnen man-gelt es vor allem an finanziellen Mitteln zur sozialen, kulturellen und gesell-schaftlichen Teilhabe. Aber auch Erwerbsarbeit selbst als wichtige Form ge-sellschaftlicher Teilhabe wird beispielsweise von Ulrike Urban und Oliver Oswald vermisst. Auch Caroline Christiansen fehlte ihr »Eigenleben« und damit vor allem ihr ehrenamtliches und nachbarschaftliches Engagement, als sie mit ihren Kindern zuhause war. Seit sie wieder erwerbstätig ist und das Einkommen der Familie sichert, kann sie sich wegen der fehlenden Zeit ebenfalls nicht ehrenamtlich engagieren. Für Rolf Radler ist es zwar sehr be-grüßenswert, dass er mangels Erwerbsarbeit »viel Freizeit« hat, aber dafür auch »natürlich kein Einkommen«. Er empfindet es als »schon ein bisschen blöd, nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, wie andere Leute das machen. Ne? Kulturelle Veranstaltungen besuchen oder so, das is also ahm ja fällt n bisschen knapp aus bei« ihm.

Strukturierung des Tages und sinnvolle Beschäftigung

Neben dem ökonomischen Aspekt, dem »Geldverdienen«, benennt Sabi-ne Schomann eiSabi-ne weitere, wenn auch nachgeordSabi-nete Funktion von Arbeit.

Nach den vielen Monaten ihrer letzten Arbeitslosigkeit habe sie sich »echt auch wieder ’ne Aufgabe gewünscht«, weil sie sich – anders als einige ihrer Bekannten – nicht selbst in ihrer »Freizeit sinnvoll beschäftigen« könne. Ein Job hingegen bringe sie dazu, »nicht den ganzen Tag zu Hause zu sitzen«.

Wie sie selbst reflektiert, sei dies für ihre »psychische Genesung vielleicht wirklich gar nicht gut«. Der Job würde sie davon abhalten: »Jetzt geht das nicht, na ich muss arbeiten«, was sie positiv empfindet. Erwerbsarbeit, so eine Deutung, bringt auch Struktur in Sabine Scho manns Tag und gibt ihr eine »Aufgabe«, was Sabine Schomann begrüßt – auch wenn sie sich insge-samt als Kaffee-Ketten-Aushilfe nicht anerkannt fühlt.

Auch bei Anna Aulinger werden die Strukturierungs-Funktion und die Beschäftigung durch Arbeit deutlich: »Also so in Tag reinleben, also Urlaub zu haben ist schön, aber nur Urlaub zu haben glaub’ ich, wäre auch nicht mehr so schön«. Anton Alsdorf pflichtet ihr bei: Er wüsste – ähnlich wie Sa-bine Schomann – nicht, was er ohne Arbeit mit der vielen freien Zeit anfan-gen sollte, würde sich langweilen und gewinnt offenbar Struktur aus seiner als sinnvolle Beschäftigung empfundenen Erwerbsarbeit:

»Also ich brauch das morgens, ich mach ja sonst, wenn ich schon drei Wochen Ur-laub hab’ da werde ich schon kribbelig und denk, BAH, was soll ich den ganzen Tag machen? Weil mir das einfach zu langweilig wär’, jetzt den ganzen Tag irgendwo vor der Glotze zu sitzen.«

Ambivalent ist Theo Tettlers Deutung von Arbeit (siehe 4.4): In erster Linie ist sie für ihn negativ konnotiert, Heteronomie und ökonomischer Zwang pur und bringt keine Anerkennung,

»auf der anderen Seite hält sie einen äh wach und ah na. Wenn man nur auf’m nur auf Sofa rumhängt, dann sieht man auch nicht so toll aus.«

Bei Walter Wenke lässt sich eine Dreifachbewegung rekonstruieren: Ei-nerseits lehnt er Arbeit radikal ab, auf der anderen Seite vermittelt sie ihm Struktur und wird so zur »Hassliebe«: »Es ist natürlich auch eine Hassliebe, weil ich weiß, es es ist ein Rückgrat, weil diese Arbeit gibt mir eine gewis-se Struktur und ’ne gewisgewis-se Erdung.« Neben diegewis-ser Bivalenz (Fremdbestim-mung versus Struktur) ist schließlich drittens die schlichte Notwendigkeit zur Existenzsicherung grundlegend: »Ich brauch das Geld zum Existieren.«

Maria Melchior geht sogar davon aus, dass Menschen ohne Erwerbsar-beit verkümmern:

»Ich also ich denk das gibt den Menschen einfach so was, zu arbeiten. Ich denke Menschen degenerieren, wenn sie keine Arbeit haben. Selbst wenn sie nicht arbeiten WOLLEN, tät es ihnen gut, ein bisschen Arbeit zu machen. Das is MAßGEBEND.«

Daher ist Maria Melchior froh und dankbar, dass sie arbeiten kann, auch wenn sie geringfügig und weit unter ihrer Qualifikation beschäftigt ist und sie kaum Anerkennung in der Erwerbssphäre aktualisieren kann: Ihre Arbeit empfindet sie als so monoton, dass sie in ihrer Sicht auch von einem »gut dressierten Menschenaffen« erledigt werden könnte.

Zwischenfazit

Bis hierher haben wir verschiedene (tendenziell) positive Bedeutungen auf-gezeigt, die Erwerbsarbeit für die Befragten aufweisen kann und sind dabei auch auf Erfahrungen der Anerkennung, häufiger aber der Nichtanerken-nung, eingegangen. Die Bedeutungen umfassen Erwerbsarbeit als Kern der meritokratischen Idee (4.1), als Respektabilitätsausweis (4.2), als Sicherung der Existenz und von Unabhängigkeit (4.3) sowie als Selbstverwirklichung (4.4). Hinzu kommen weitere soziale Funktionen: gesellschaftliche Teilha-be und Struktur. Viele Befragte deuten ErwerbsarTeilha-beit grundsätzlich positiv.

Häufig aber stimmen diese Deutungen nicht mit den realen Erfahrungen überein, lassen sich nicht einlösen, nicht umsetzen. Dies und anderes mehr erfahren die prekär Beschäftigten oft als Nichtanerkennung.

4.6 Exkurs: Prekarisierungsprozesse in der Erwerbsarbeit und

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