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Von den Pathologien selbst- und sozialdestruktiver Erwerbsarbeit

Im Dokument Prekäre Arbeit, prekäre Liebe (Seite 156-168)

4.3 »Gute Arbeit« als Ausdruck des Selbst: Veronika Vetter

4.8 Von den Pathologien selbst- und sozialdestruktiver Erwerbsarbeit

Wir kommen nun zu den zwei letzten, klar negativen Bedeutungen von Er-werbsarbeit, die zugleich auch Folgen von Erwerbsarbeit sein können: Zum einen die Bedeutung »Arbeit macht krank« (4.8.1), wobei Arbeit auch dann krank machen kann, wenn dies in der Selbstdeutung (noch) nicht erkannt wird. »Pathologien der Arbeit I« sind also auch eine mögliche Folge von (pre-kärer) Erwerbsarbeit. Zum anderen haben wir die Bedeutung »Erwerbsarbeit

als Entfremdung« (4.8.2) rekonstruiert. Auch hier können sich, unabhängig von der Deutung der Befragten, negative Folgen zeigen. Wir bezeichnen dies als »Pathologien der Arbeit II«.

4.8.1 Pathologien der Arbeit I: Wenn Arbeit krank macht

Bei vielen Befragten wird teils drastisch deutlich, wie belastend und krankma-chend ihre prekären Arbeitsbedingungen sind. Dies reicht von auch gesamt-gesellschaftlich weit verbreiteten körperlichen Beschwerden wie Verspan-nungen, Kopf- und Rückenschmerzen über auch chronische Beschwerden und Erkrankungen (der Wirbelsäule, Gelenke, des gastrointestinalen Trak-tes, des Herz- und Kreislaufsystems, Immunschwächen u. v. a. m.) bis hin zur kompletten Arbeitsunfähigkeit. Oft gehen die somatischen Beeinträch-tigungen mit vielfältigen psychosomatischen Beschwerden einher. Bei eini-gen manifestieren sich auch verschiedene psychische Syndrome und Symp-tome. Insgesamt sind die Ursachen oft nicht eindeutig beispielsweise in der Erwerbssphäre zu lokalisieren, sondern nur im gesamten Lebenszusammen-hang zu verstehen. Da wir weder Mediziner*innen noch Psycholog*innen sind, können wir keine Diagnosen stellen. Wir schildern aber einige unse-rer datengestützten Interpretationen von belastenden und krank machenden Arbeitsbedingungen, wobei wir nur die vorsichtigste Interpretation anfüh-ren und einiges zum Schutz der Befragten nicht berichten.

Oliver Oswald war zwar zum Interviewzeitpunkt selbst (noch) nicht von Überlastungserscheinungen betroffen, berichtete aber über Kolleg*innen, die gesundheitlich unter den Arbeitsbedingungen litten, bis hin zu länge-ren Ausfällen:

»Was ich leider bei meinem jetzigen Arbeitgeber auch schon mitbekommen habe, dass Leute durch Überlastung, durch Stress, durch zu viel Druck krank geworden sind. Und dann echt mehrere Monate ausfielen.«

Seiner Wahrnehmung nach ist es besonders der (externe) Druck, der die Be-schäftigten krank mache. Er glaubt, dass

»irgendein Druck weitergegeben wird, der von außen kommt […]. Und zumindest ist das meine Wahrnehmung in mehreren Fällen gewesen und die Leute haben’s zum Teil dann hinterher auch so erzählt, dass es die Leute krank gemacht hat. Ob das Burnout war, ob das ’n Hörsturz war oder irgendein Virusinfekt, der irgendwie die Leute lange verschleppt haben, weil sie nicht zum Arzt gehen wollten oder nich nich frei nehmen wollten und dann die Leute richtig längere Zeit flachgelegt hat. Solche

Dinge sind für mich ’n Symbol dafür, dass irgendwo Arbeit nicht gut läuft oder nicht gut organisiert ist oder in Anführungsstrichen UN-menschlich abläuft oder erzwun-gen wird oder irerzwun-gendwie so etwas.«

Auch in Petra Podans Erzählungen wird recht deutlich, dass die Arbeitsbe-dingungen, die Mobbingsituation durch die Kolleginnen und der fehlende Rückhalt durch Vorgesetzte bei ihr in Form von Kopf- und Bauchschmerzen somatisieren und ihr viele sorgenvolle Gedanken und psychische Belastun-gen bereiten – die sie aber erträgt (vgl. Kapitel 7).

Bei Pepo Poturica löst eine Allergie eine schwere Lungenentzündung aus.

Im Krankenhaus legt ihm das medizinische Personal nahe, umgehend seinen Tätigkeitsbereich zu wechseln, da die hohe Staubkonzentration auf den Bau-stellen seine Lungenfunktion erheblich beeinträchtigt. Trotz seiner drohen-den Berufsunfähigkeit sieht Pepo Poturica, wie wir in Kapitel 6.2.2 ausfüh-ren, aber (derzeit) keine Möglichkeit, seine Stelle zu kündigen.

Ulrike Urban hat sich in der jahrelangen, körperlich und psychisch sehr belastenden Tätigkeit in ihrem Ausbildungsberuf als Heilerzieherin »gesund-heitlich völlig ruiniert« (4.1.2) und auch Sabine Schomann berichtet Drama-tisches über den Saisonjob mit körperlich äußerst anstrengenden Arbeitsbe-dingungen, den wir in Kapitel 4.7.3 schon vorgestellt haben:

»Die Leute sind uns reihenweise umgekippt. Wir hatten fast täglich ’n Notarzt da, der sich um irgend ’n Kollegen kümmern musste, weil der kollabiert ist.«

Sie erträgt diese Situation zunächst mehrere Jahre, aber in der dritten Saison wird es für sie untragbar und sie beschwert sich bei der Firmenleitung. Ob-wohl sie nur marginale Verbesserungen einforderte, wurde ihr Vertrag nicht verlängert:

»[…] hieß es: ›so brauchst dich nächstes Jahr gar nicht neu bewerben. Stehst jetzt auf der roten Liste, dich wollen wir hier nicht mehr haben‹. Wo ich dann gesagt habe gut ich will euch auch nicht haben ihr Scheiß Sklaventreiber. So die Gesundheit eu-rer Mitarbeiter, na wir sind Sklaven, so unsere Gesundheit is denen doch scheißegal, Hauptsache die Kasse von denen stimmt.«

Rolf Radler erzählt wenig, aber er scheint in seinem Ausbildungsberuf als be-rufs- oder erwerbsunfähig kategorisiert worden zu sein, aufgrund der stressi-gen Arbeitsbedingunstressi-gen:

»Da bin aber drauf kaputt geschrieben […], weil ich das ah die Arbeitsbedingungen nicht mehr aushalte. Zu viel Stress und so.«

Für Walter Wenke lässt sich die genannte Einengung und Fremdbestim-mung durch seine frühere, zwar sehr gut bezahlte, aber zeitlich ausgedehn-te Tätigkeit in Führungsposition als körperliche und seelische Bedrohung, ja als knapp bevorstehende Zerstörung rekonstruieren. Wie er sagt, habe er damals zwar

»finanziell so was von ausgesorgt jeden Monat. (holt Luft) Aber trotzdem, du hast ge-dacht, du du du zerbrichst jeden Augenblick.«

Theo Tettler ist schließlich, so die Rekonstruktion, durch die Arbeitsbedin-gungen im Krankenhaus letzten Endes komplett arbeitsunfähig geworden (wenngleich hier verlaufskurvenförmig verschiedene Aspekte zusammenka-men). Er beginnt seine Erzählung:

»Meine momentane Situation ist nicht so schön. Bin seit ah etwa drei Jahren arbeits-los +++ also etwa weil ah ich war in meinem alten Arbeitsverhältnis, wo ich 25 Jahre gearbeitet hatte […] zum Schluss krank, also ein dreiviertel Jahr krank. Durch die Kündigung erkrankt.«

Schon die Jahre vor der Kündigung »waren ah ziemlich der Horror« und es bahnten sich verschiedenste körperliche Beeinträchtigungen an:

»Ich hatte ja also nicht nur ein Problem mit den Nerven, sondern ah ich war schon beinah (zieht Luft ein) ah beinah halbseitig gelähmt gell, da war die ganze Schulter hier runter bis in Rücken rein alles entzündet und so. Nur vom Stress, da schläft man dann schlecht, wenn man ah familiäre und Probleme und Probleme am Arbeitsplatz hat, dann kann man nicht mehr schlafen, dann ist man nicht mehr fit, dann wird man einfach krank und zwar ziemlich schnell und man hat auch keine Chance, da irgendwas zu verbessern ja. Die Krankheit wird immer schlimmer und man kann das beobachten und das zieht sich über Monate oder Jahre und man sieht, wie man langsam abstirbt (lacht).«

Theo Tettler, so unsere Rekonstruktion, schaute sich in seiner verlaufskur-venförmigen Abwärtsentwicklung jahrelang bei seinem von den unerträglich gewordenen Arbeitsbedingungen verursachten »Absterben« selbst zu – wie ein*e soziologische*r Beobachter*in, oder wie eine handlungsunfähige und entfremdete menschliche Hülle.

Am Tag der Kündigung und wegen ihr brach Theo Tettler schließlich, gleichsam in einem finalen showdown, körperlich und seelisch komplett zusammen:

»Bin also am Tag der Kündigung, die Kündigung kam sehr überraschend für mich ahm +++++++ bin ich ah durch Hierstadt gefahren und hab’ ah +++ einen Psychia-ter (lacht) gesucht na ah ah einen Nervenarzt und so ich war einfach kaputt fertig.«

Seine Diagnose lautete »Burnout. Kombiniert mit ah also Hauptdiagnose war glaub ich Depression«. Seit dem Tag der Kündigung und in den folgen-den Monaten, in folgen-denen er eine erfolglose Kündigungsschutzklage laufen hat-te, war er nicht mehr in der Lage, zu arbeiten:

»Es war unmöglich, inner in dieser Zeit der Auseinandersetzung also für mich un-möglich, an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Und hatte dann das Glück, dass ich erstens ’nen Nervenarzt gefunden hab’ […] und zweitens, dass der mich auch ah die ganze Zeit über krankgeschrieben hat bis ah zur Kündigung bis ah ah zum Ende der Kündigungsfrist.«

Doch Theo Tettler ist nicht der einzige, der aufgrund der prekären und be-lastenden Arbeitsbedingungen, aufgrund von Arbeitsverdichtung, hohem Druck, Unsicherheit, Mobbing und anderem mehr einen »Burnout« erlit-ten hat. Birthe Bruhns und Maria Melchior waren etwa wegen eines Burn-outs in einer Reha-Maßnahme, Maria Melchior wird weiterhin wegen einer Depression behandelt, ähnlich Sabine Schomann. Einige benennen explizit einen »Burnout«, andere – etwa Walter Wenke, den wir in Kapitel 4.8.2 vor-stellen, umschreiben ihren entsprechenden Zustand mit absoluter Erschöp-fung oder ähnlichem.41

Zusammenfassend lässt sich bei einigen Befragten explizit die Deutung rekonstruieren, Erwerbsarbeit ist etwas, was die Menschen krank macht. Da-rüber hinaus kann Erwerbsarbeit und besonders prekäre Erwerbsarbeit, auch wenn sie nicht subjektiv so gedeutet wird, die Menschen krank machen, ihre Gesundheit gefährden – in Form eines Erschöpfungssyndroms, aber auch in vielfältigen anderen Formen. Dies bezeichnen wir als Pathologien der Arbeit I.

4.8.2 Pathologien der Arbeit II: Erwerbsarbeit und Entfremdung

Damit kommen wir zu einer zweiten Art von Pathologien: zur Deutung von Erwerbsarbeit als Entfremdung und den entfremdenden Folgen prekä-rer Arbeit. Entfremdung ist ein Schlüsselbegriff der Kritischen Theorie und

41 Der Begriff »Burnout« stammt von Freudenberger (1974) und lässt sich als Ausgebrannt-sein übersetzen. »Burnout« ist keine medizinische Diagnose, sondern eine Ansammlung an Symptomen. Oft wird es auch als Erschöpfungssyndrom bezeichnet. Gemeint sind damit eine anhaltende, oft chronische körperliche und emotionale Überlastung und ein Erschöpfungszustand. Dabei können auch Kriterien einer Depression erfüllt sein.

steht in einer langen Tradition.42 Sehr knapp gefasst verstehen wir mit Ja-eggi (2005) unter Entfremdung eine »Beziehung der Beziehungslosigkeit«

(ebd.: 19), eine »defizitäre Beziehung, die man zu sich, zur Welt und zu den Anderen hat« (ebd.: 23). Sie ist »verbunden mit […] Sinnlosigkeit, die sich mit Machtlosigkeit […] verschränkt […]« und ein »Herrschaftsverhältnis«, das über »Heteronomie« hinausgeht. »Entfremdung bedeutet Unverbundenheit oder Fremdheit« (ebd.: 40). Kurz: Entfremdung ist ein »Verhältnis gestörter bzw. verhinderter Welt- und Selbstaneignung« (ebd.: 19f.).

Wir beginnen mit Erfahrungen der Entfremdung, die uns berichtet wur-den. Diese sind recht vielfältig, und wir führen sie hier nur exemplarisch an-hand der Fälle Veronika Vetter und Walter Wenke aus. Daneben ließe sich auch Oliver Oswald heranziehen. Bei Sa bi ne Schomann, Aushilfe in der Kaf-fee-Kette und die meiste Zeit nicht oder prekär beschäftigt, wird eher Ver-dinglichung deutlich. Unter VerVer-dinglichung verstehen wir, sehr vereinfacht, nicht wie ein Selbstzweck, sondern als bloßes Mittel zum Zweck, wie ein Objekt behandelt zu werden.43 Für Schomann ist es »gute Arbeit«, wenn sie einen Chef hat, der

»nicht nur die Zahlen sieht und der nicht nur meine Arbeitskraft sieht, sondern auch ah, dass ich ’n menschliches Wesen bin.«

Dies habe sie aber nie so erlebt, was im Umkehrschluss deuten lässt, dass sie im Erwerbssystem nur als Arbeitskraft und nicht als menschliches Wesen be-handelt wird.

Veronika Vetter und die »Erwerbsarbeitsmatrix«

Veronika Vetter und ihre mittlerweile sehr erwerbskritische Haltung, jeden-falls was die Bedingungen betrifft, unter denen Erwerbsarbeit seit einigen Jahren stattfindet, haben wir bereits vorgestellt. Entfremdung wird weitge-hend nur implizit deutlich, anders als bei Walter Wenke. In Veronika Vetters Deutung ist Erwerbsarbeit in der aktuellen Escheinungsform maximal belas-tend, krankmachend und schränkt ihre Lebensqualität ein:

42 Eine beeindruckende theoretische, begriffliche und empirisch unterfütterte Auseinan-dersetzung mit Entfremdung bietet Jaeggi (2005), wenn auch nicht mit Blick auf prekä-re Beschäftigung.

43 Zu einer anerkennungstheoretischen Bestimmung von Selbst- und Fremdverdingli-chung siehe etwa Honneth (2005); rezipiert und auf Doppelkarriere-Paare bezogen wird dies etwa von Wimbauer (2012: 333ff.)

»Also für mich ist es wirklich so, dass Arbeit mit ’nem extremen Stress verbunden is’, mit Reduktion von Lebensqualität, was einfach das Einkommen, das ich hab’, das das wiegt das eigentlich gar nicht mehr auf ja.«

Mehrfach verdeutlicht sie, dass falsche Strukturen von Erwerbarbeit sie krank machen:

»Also wenn ich in widersinnige Strukturen eingespannt bin +++ das das KANN ich einfach nicht durchhalten, das macht mich krank ja.«

Von jenen fühlt sie sich auch körperlich bedroht wie von einem Folterinstru-ment, wie wir bereits an den heranrückenden »Daumenschrauben« und an den ihr die Luft zum Atmen (und damit zum Über-/Leben) raubenden Hie-rarchien veranschaulicht haben: »Ab ’ner bestimmten (atmet tief aus) Hier-archieform kann ich einfach auch nicht mehr atmen.«

Körperliche Bedrohungen sind das eine, Entfremdung ist das andere.

Diese deutet sich – womöglich auch als Verdinglichung, wie bei Schomann – an, wenn sie vehement kritisiert, dass heute »Arbeitskraft nur noch auf diese extreme automatisierte Funktionalität reduziert« wird. Eindeutig um Ent-fremdung geht es, wenn Veronika Vetter Erwerbsarbeit massiv als vereinsei-tigte gesellschaftliche »Matrix« kritisiert, die die Menschen – in ihrer, so die Deutung, gesellschaftlich bedingten Verblendung – von sich selbst, von den eigenen Bedürfnissen, von den anderen und von den Bedürfnissen der an-deren abbringe:

»Die Menschen sind so in dieser Matrix drin, Job ist das Wichtigste, dass sie be-stimmte Realitäten gar nicht mehr wahrnehmen.«

Unter anderem aufgrund dieser Entfremdungserfahrungen, der Bedrohun-gen und möglichen Zerstörung von Körper und Gesundheit und der fal-schen Versprechen mit Blick auf Arbeits in halte und Dauerhaftigkeit von Stellen, die man ihr vorgegaukelt habe, strebt Veronika Vetter heute danach, ihren eigenen Weg des Herzens zu gehen. Sie will nun immer »ganz konse-quent« »bei sich selber« bleiben und den fremdbestimmten, krankmachen-den, entfremdenden Strukturen und letztlich der übermächtigen Erwerbs-arbeitsmatrix entfliehen. Dass ihr das allerdings nicht so leichtfällt und sie weiterhin an Erwerbsarbeit orientiert ist, sprich: Ambivalenzen deutlich wer-den, zeigt auch ihre Reflektion über ihre derzeitigen Bewerbungsgespräche:

»Einerseits […] möcht ich was tun, möcht ich mich einbringen in eine halbwegs oder überwiegend gesunde Struktur, und gleichzeitig merk ich, wenn ich dann in den Gesprächen sitze (atmet tief ein) klingeln schon wieder die Alarmglocken.«

Schließlich prangert Veronika Vetter vehement eine weitere strukturelle Am-bivalenz, ja nachgerade Paradoxie an. Diese entstehe/n durch die sich aus der Ausweitung von befristeter, flexibler und projektbezogener Beschäftigung er-gebenden höchst widersprüchlichen Anforderungen, die aber uneinlösbar seien:

»Im Grunde kann man gar nicht mehr länger PLANEN, als was weiß ich bis zum nächsten (lacht) Wochenende oder so ja. Das ist auch so ’n Widerspruch. Eigent-lich sollte man ’ne Perspektive entwickeln und gleichzeitig KANN man sie gar nicht mehr entwickeln, weil die Realität einfach dagegen spricht.«

Die Arbeitsbedingungen bergen für Veronika Vetter also, so die Rekonst-ruktion, Entfremdungserfahrungen, paradoxe und damit unmöglich ein-zulösende Anforderungen, die Gefahr von Pathologien, körperliche Be-drohungen bis hin zu Selbstzerstörungen und insgesamt ein recht großes Ideologiepotential.

Walter Wenke: Von der »totalen Entfremdung« zur »Selbstbefreundung«

Walter Wenke ist zum Interviewzeitpunk Anfang 30, der jüngste und höchst-qualifizierte Befragte.44 Während und nach seinem dualen Studium war er als Führungskraft in der Versicherungswirtschaft tätig. Er arbeitete »fuffzich Stunden die Woche, zum Teil ging’s auch mal hoch auf 80, 90«. Den Druck seitens seiner Vorgesetzten, in seiner Führungsposition und im Verkauf all-gemein beschreibt er als sehr hoch und den Vertrieb als frei von jeglicher Moral. Im Lauf der Zeit erkannte er die Anforderungen in seiner Führungs-position und die gesamte Versicherungswirtschaft als »gar nicht so richtig meins«. Zudem wurde er »klein gehalten in dem Job« und fühlte sich »frus-triert und gekränkt«. Sein erster Satz im Interview lautet:

»Also für mich ist so ein ähm Einschnitt gewesen zu erkennen, was ist Fremdbestim-mung, was ist Selbstbestimmung.«

In diesem ersten Satz sind wesentliche Aspekte der Fallstruktur enthalten, hier die Differenzierung zwischen »Fremdbestimmung« und »Selbstbestim-mung« sowie der »Einschnitt« zwischen beiden. Wie Walter Wenke weiter erzählt, habe er

44 Mit seiner akademischen Ausbildung erfüllt er an sich das Kriterium einer mittleren bis geringen Bildung nicht, und er ist neben Paar Daub der einzig selbst gewählte prekär Beschäftigte. Dennoch präsentieren wir ihn hier, weisen aber explizit auf seine hohe Bil-dung hin (ebenso bei Paar Daub und Oliver Oswald).

»irgendwann den cut gemacht, weg von diesen Führungspositionen hin zu ähm Teil-zeit. Und zwar prekär aus Selbstbestimmung.«

Später im Interview deutet er an, dass er nach einigen Jahren seiner erfolg-reichen Karriere einen Burnout hatte: Er »war einfach voll durch« und nahm einen »radikalen Bruch« vor, indem er der seiner Ansicht nach maximal fremdbestimmten und entfremdenden Erwerbsarbeit weitest möglich ent-sagte. Er kündigte, war neun Monate arbeitslos, ist seitdem nur noch 15 Stunden pro Woche befristet als Aushilfe tätig und hat sich einen Lebens-traum erfüllt: sich einem Studium Generale und dem Nachdenken zu wid-men. Immer wieder verzichtet er zeitweise komplett auf Erwerbsarbeit, hat seinen Konsum radikal reduziert, wohnt in einem besetzten Haus und arbei-tet erst wieder, wenn es finanziell absolut erforderlich ist. Erscheint er in der Rekonstruktion früher als seiner Karriereorientierung hörig, so ist heute das Gegenteil der Fall:

»Ich war am Anfang ja wie gesagt, der berufliche Karrierist, Macht, Geld, das war so eine Sache, zu der ich sehr Herr (leicht unverständlich) war. Das hat sich jetzt sehr sehr stark gewandelt.«

Heute bezeichnet er sich als »prekär aus Selbstbestimmung«: Den radikalen Verzicht auf ein erwerbszentriertes Leben und die weitgehende Reduzierung von Erwerbsarbeit auf das materiell Notwendigste habe er selbstbestimmt und bewusst gewählt, wie er oft betont:

»Das war auch ne ganz klare Entscheidung für mich, ich WOLLTE weniger arbeiten und […] hab’ ich mich eben für […] dieses Konzept entschieden […] mehr Raum lassen für wirklich die eigenen Wünsche, Interessen […] alles aus ’ner Selbstbestim-mung heraus. Nicht, weil ich keine andere Wahl hatte, sondern weil ich das mir so zusammengebaut habe.«

Mit seiner aktiven Entscheidung gegen Erwerbsarbeit möchte er der Ent-fremdung, die aus seiner Sicht der Erwerbsarbeitsgesellschaft inhärent ist, entrinnen und Zeit für seine »Selbstwerdung« gewinnen:

»Ich rede immer lieber so von Selbstwerdung immer, das ist ähm man muss sich die Zeit frei schau feln. Ich mein, Selbstbestimmung führt dazu, dass man Dinge macht, die ähm einen SO werden lassen, wie man möchte, sag ich jetzt mal.«

Ein wesentliches Scharnier in seiner Arbeits- und Lebenskonzeption ist seine Vorstellung, dass Erwerbsarbeit gebundene Lebenszeit ist, und diese Lebens-zeit ihm entsprechend fehlt, wenn er einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Eine 40-Stunden-Arbeitswoche ist für ihn

»Lebenszeit, die ich entweder verprass […] für irgendeine Riesenunternehmen oder für mich nutze und vielleicht daraus was viel Wertvolleres erwachsen kann als eben nur ein Gehalt am Ende des Monats.«

Er strebt heute nach Selbstbestimmung, nach Selbstfindung, Selbstverwirk-lichung und Selbstbefreundung, welche er durch Erwerbsarbeit als – so die Rekonstruktion  – Inbegriff von Fremdbestimmung und Heteronomie be-droht sieht. In seiner Erwerbskarriere hat er die »absolute Entfremdung« er-fahren. Er erzählt anschaulich von dem »Schlüsselmoment«, wie es zu seiner Abkehr von seiner Karriere kam: Er arbeitete zeitlich sehr ausgedehnt in ei-ner Tätigkeit, die ihn nicht interessierte, nicht zu ihm passte und von der er sich entmächtigt und entfremdet fühlte:

»Das war schon ein Zeichen, dass ich eigentlich ähm ah ohnmächtig bin. Also, dass ich eigentlich ich hab’ keine Ahnung, was ich mache, ich ta ich tu da nur was irgend-wie Fremdbestimmtes.«

Zusätzlich war er extremem Druck im Verkauf ausgesetzt, was in der Summe eines Tages zu seinem Zusammenbruch führte:

»Ich hab’ den diesen Chef auf der an der Pelle gehabt also immer der natürlich auch

»Ich hab’ den diesen Chef auf der an der Pelle gehabt also immer der natürlich auch

Im Dokument Prekäre Arbeit, prekäre Liebe (Seite 156-168)