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Erwerbsarbeit als notwendiges Übel, Heteronomie und Ausbeutung

Im Dokument Prekäre Arbeit, prekäre Liebe (Seite 150-156)

4.3 »Gute Arbeit« als Ausdruck des Selbst: Veronika Vetter

4.7 Erwerbsarbeit als notwendiges Übel, Heteronomie und Ausbeutung

Wenden wir uns nun wieder den Bedeutungen von Erwerbsarbeit und den Fällen zu, in denen Erwerbsarbeit aus verschiedenen Gründen negativ kon-notiert ist. Nahezu niemand erzählt davon, Erwerbsarbeit von Anbeginn an

negativ gedeutet zu haben. Fast immer hat sich dies im Zuge von Prekari-sierungsprozessen entwickelt. Wir beschreiben zunächst drei negative Be-deutungen von Erwerbsarbeit: sie erscheint als notwendiges Übel (4.7.1), als Zwang und Fremdbestimmung (4.7.2) und als Ausbeutung (4.7.3). In Kapitel  8 gehen wir auf zwei weitere negative Bedeutungen, ja Patholo-gien von Erwerbsarbeit ein: Erwerbsarbeit als krankmachend (4.8.1) und als Entfremdung (4.8.2). Wie so oft gehen einige dieser Deutungen inein-ander über.

4.7.1 Erwerbsarbeit als existenziell notwendiges Übel

Einige der Befragten fassen Erwerbsarbeit per se als negativ, mit unterschied-lichen Begründungsnuancen, so etwa Theo Tettler, Walter Wenke, Clemens Caspar und Rolf Radler – die allesamt explizit oder implizit Anleihen bei der Marx’schen Lehre nehmen. Für Walter Wenke ist Arbeit, ganz im Marx’-schen Sinne, als Lohnarbeit immer entfremdete Arbeit. Er lehnt sie radikal ab (siehe Kapitel 4.8.2) und führt die Bedeutung, die Arbeit für ihn hat, aus:

»Es ist negativ. Also ich find Arbeit furchtbar […] je weniger Arbeit, desto besser […] Du musst dich verkaufen, deine Produkte, und ich hasse Arbeit.

Ich finde, es ist debil, es ist nicht bereichernd.«

Theo Tettler antwortet auf die Frage, was für ihn »gute Arbeit« ausmache:

»Arbeit KANN nicht gut sein also wie soll das möglich sein? Es is’ ah es is’ kapitalis-tische Ökonomie, was kann an der Arbeit denn gut sein?«

Zwar nimmt er diese Absolutheit etwas zurück: »Also zumindest für so Men-schen wie mich, die nichts gelernt haben«, verallgemeinert aber erneut:

Selbst für »Universitätsprofessoren« sei

»der ökonomische Zwang genauso gegeben […] also selbst diese ah gehobene Klasse ah war immer irgendwie mit dem Rücken zur Wand ja ah, was vorzeigen, was vor-weisen zu müssen […], um dann auch noch im nächsten Jahr ihre Gelder […] Also ich glaub dass es überall so ist, nur die Problematik is’ anders gelagert na.«

Erwerbsarbeit erscheint bei ihm als ökonomische und biologische Notwen-digkeit, als Zwang der Existenzsicherung, und damit als unvermeidbares, notwendiges Übel. Er sinniert, dass

»der Begriff der Arbeit eigentlich schon ah die die Freiwilligkeit nicht mehr um-fasst, na sondern halt ah aber nicht nur gesellschaftlich bedingt, sondern ah biolo-gisch bedingt. Hm. Man muss nun mal essen und sich anziehen und sich

irgend-wo Unterschlupf finden (lacht) vor vor den klimatischen Verhältnissen und diese Dinge müssen alle gemacht werden ja. Und das is’ ah, ich glaub, das war noch nie lustig.«

Gleichzeitig stellt Theo Tettler, wie Sabine Schomann, eine Ambivalenz von Erwerbsarbeit heraus, die sich für ihn vor allem aus ihrer Fremdbestimmung bis hin zur Destruktion der Arbeitenden versus ihren positiven sozialen Funktionen ergibt:

»Auf der einen Seite will man sie loshaben, na man man empfindet sie auch als das, was was einen dann ah, kombiniert mit der gesellschaftlichen Problematik, bedrückt ja, was einen kaputt macht. Auf der anderen Seite hält sie einen äh wach.«

Auch für Rolf Radler ist Arbeit ein »notwendiges Übel (lacht)«, ebenso für Clemens Caspar. Caspar kritisiert, dass viele Menschen sich über Erwerbs-arbeit definieren und damit wichtig machen würden. Dies scheint ihm zu missfallen:

»Also dieses so jemand der weiß ich, so diese komischen Partys, wenn man so Anfang zwanzig oder was machst denn du was machst denn du und dann alle erzählt haben wie toll sie alle Jobs haben und was sie alles und wie wichtig sie sind.«

Clemens Caspar hingegen bestimmt sich nicht über Erwerbsarbeit. Auch wenn er arbeitslos wurde, dachte er nicht, »oh weia, jetzt verlier ich meine Arbeit«, sondern nutzte seine Zeit mit aus seiner Sicht sinnvollen Dingen.

Erwerbsarbeit sei »irgendwie notwendig«, weil man auf Geld angewiesen sei.

Viele Menschen könnten aber sowieso nicht von dem Geld leben, das sie ver-dienen: »Ist ja bei uns eigentlich auch so.« Außerdem gebe es Menschen, die einfach nicht in die Erwerbsgesellschaft passen, aber dennoch gemeinschaft-lich sinnvolle Arbeit tätigen:

»Es gibt Leute wir haben zum Beispiel mal jemanden gehabt hier im Ort […] der ist rumgelaufen hat mal da ein kaputtes Fahrrad gefunden. Das dahin gebracht. Hat ge-sagt, hier braucht ihr und so was? Also so so ne Leute gibt’s ja auch, die einfach ganz anders leben. In ner ganz anderen Welt sind und trotzdem irgendwie nützlich sind.

Für sich selber auch und mit sich selbst zufrieden.«

4.7.2 Erwerbsarbeit als Zwang und Fremdbestimmung

Für Theo Tettler ist Arbeit ein ökonomisch und biologisch begründeter Zwang. Wollend oder nicht, die Menschen müssen arbeiten, um zu über-leben. Rolf Radler wählt nicht solch drastische Worte, aber auch er

betrach-tet – jedenfalls gering qualifizierte – Erwerbsarbeit als Zwang und Fremd-bestimmung. Gefragt nach der Bedeutung von Arbeit für ihn antwortet er:

»Komm kommt natürlich drauf an, ne, wenn man ’n Job hat ah, wo man quasi sein Hobby zum Beruf macht, ist das was anderes ne, dann geh ich da mit mit ganz an-deren Voraussetzungen dran. Ah so ist es halt eher ’n Zwang.«

Noch deutlicher sagt er, »der Zwang zur Lohnarbeit widerstrebt mir«.

Wenn er schon arbeiten müsse, »dann am liebsten Teilzeit«. Er lehnt Er-werbsarbeit generell und ein Normalarbeitsleben als Lebensmodell für sich selbst ab: »So ’n normalen in Anführungsstrichen normalen Job ah hab’ ich überhaupt keine Lust drauf so.«

Sabine Schomanns Position zeigt sich als ambivalent: Einerseits wünsch-te sie sich wieder Erwerbsarbeit, »um nicht den ganzen Tag zuhause zu sit-zen«, zugleich beinhaltet die von ihr positiv bewertete Strukturierung des Tages auch eine negative Seite des Zwanges und der Fremdbestimmung.

Letztlich sei aber ein Leben ohne Geld ebenfalls fremdbestimmt:

»Einerseits wollt ich den Job, um auch mehr Beschäftigung zu haben, andererseits sitz ich jetzt manchmal hier und denk mir boah war das ’n schönes Lotterleben. Auf-stehen, wann du willst, überhaupt machen können, was du willst, so. Ja aber ahm ja da waren halt wieder die finanziellen Sachen, wenn man zu wenig Geld hat, kann man auch nicht immer das machen, was man will.«

In Abwägung zwischen einer finanziellen Fremdbestimmung mangels Er-werbsarbeit und einer zeitlichen Fremdbestimmung durch ihren Job ent-scheidet sie sich für den Job, wenngleich sie findet, »mehr Freizeit wäre schön«. Später kritisiert sie aber, dass ihr Mindestlohn-Job in der Kaffee-Ket-te kaum mehr Einkommen bringe als ihre vorherigen Sozialleistungen:

»Das ärgert mich so. Ich hab’ ahm mit diesen 850 Euro im Grunde nicht viel mehr, als ich vorher hatte durch Hartz IV und ’n geförderten Job. So das is’ nich viel mehr.

Hab’ aber viel weniger (lacht) Freizeit. So insofern ziemlich Scheiße.«

Auch würde Sabine Schomann nicht jeden Job annehmen, nur um Geld zu verdienen. Er muss zumindest ihren Minimalanforderungen entsprechen.

Andernfalls nimmt sie auch Sanktionen durch ihren Sachbearbeiter bezüg-lich ihres Hartz IV Bezuges auf sich. Sie sagt:

»Mir ist meine Selbstbestimmung und meine Freiheit wichtiger als alles Geld der Welt. Ich penn lieber unter ’ner Brücke, bevor ich mich versklaven lass für irgend

’nen Scheiß.«

Deutlich wird hier also, dass Erwerbsarbeit, wenn sie nicht den inhaltlichen und formalen Minimalanforderungen Sabine Schomanns entspricht, als ihre Freiheit einschränkend und damit als Fremdbestimmung und Heteronomie gedeutet wird. Im Zweifelsfall entscheidet sich Sabine Schomann dafür, »ihre persönliche Freiheit« zu »bewahren«.

Einen ähnlichen tradeoff, hier zwischen (Frei-)Zeit und Geld, artikuliert Rolf Radler, den er für sich ähnlich zugunsten von mehr (Frei-)Zeit löst. Sei-ne Nichterwerbstätigkeit bewertet er als

»eigentlich grundsätzlich ganz angenehm ne, man hat halt viel Freizeit (lacht)/I lacht/ah aber entsprechend natürlich kein kein Einkommen ne keine finanziellen Mittel zur Verfügung und das is’ dann schon ’n bisschen blöd.«

Auch Walter Wenke zieht bei der Frage nach Zeit oder Geld die Freizeit und Lebenszeit vor (ausführlich 4.8.2). Geld spiele für ihn eine »ganz, ganz untergeordnete Rolle« und er lehnt es vehement ab. Geld steht – so die Re-konstruktion – für Walter Wenke allgemein für das Unmoralische, Entfrem-dende und Verdinglichende des gesamten Wirtschafts- und Erwerbssystems und spezifisch als Synonym für Walter Wenkes mit dem Falschen vergeudete und fremdbestimmte Lebenszeit. Er zeichnet einen tradeoff zwischen Geld als durch heteronome Erwerbsarbeit gebundene Lebenszeit und Glücklich-sein als Selbstbestimmung:

»Ein klarer roter Faden in meinem Leben ist, je weniger Geld ich verdient habe, desto glücklicher war ich. Also je mehr ich verdient hab, ich mein in diesen ganzen Führungspositionsjobs, das war eine Katastrophe für mich. Unglaublich einengend und ja.«

Bei Walter Wenke ist der Verzicht auf Geld, ergo auf Erwerbsarbeit, eine tat-sächliche aktive Entscheidung, während dies bei Rolf Radler eher als Nicht-tätigkeit erscheint. Und wenngleich sich Walter Wenke und Theo Tettler aktiv gegen Erwerbstätigkeit entscheiden, lassen sich die jeweiligen Bedin-gungen als unterschiedlich rekonstruieren: Walter Wenke entscheidet sich zum Zwecke seiner Selbstbefreundung und Selbstfindung für ein selbstbe-stimmtes, (vermeintlich) autonomes Leben in Muße und gegen eine hetero-nome Erwerbsarbeit, die ihn beinahe zerstört hätte. Theo Tettler entscheidet sich nicht für etwas, sondern nur gegen eine von ihm als heteronome, weil krankmachende, erdrückende, pathologische und als ihn letztlich tötende, wahrgenommene Erwerbsarbeit. Theo Tettler bewertet es recht ähnlich wie Walter Wenke, wie es für ihn ist, nicht erwerbstätig zu sein und, so die Re-konstruktion, der maximalen Fremdbestimmung zu entgehen:

»Da ist es nur gut. Es gibt nichts Besseres als ah pf einigermaßen selbstbestimmt sein Leben führen zu können […] von daher ist das für meine ah Gesundung sehr wich-tig ja.«

Im Teilkapitel 4.8.1 beschreiben wir eingehender die Negativentwicklung von Theo Tettlers Gesundheit und schließen hier mit der Zusammenfassung seiner letzten Berufsjahre:

»Die Krankheit wird immer schlimmer und man kann das beobachten und das zieht sich über Monate oder Jahre und man sieht, wie man langsam abstirbt (lacht).«

4.7.3 Erwerbsarbeit als Ausbeutung

Direkte Erfahrungen der Ausbeutung – die wir klar als Nichtanerkennung deuten – kritisieren nur einige Befragte, anders als Heteronomie und Ent-fremdung. Auch in unserer Interpretation finden sich nur wenige Hinwei-se auf Ausbeutung. Unter Ausbeutung verstehen wir mit den Befragten und sehr vereinfacht gefasst insbesondere die Aneignung eines Mehrwertes, den die Befragten durch ihre Arbeitstätigkeit erzielen, durch andere.40 Dies ge-schieht vor allem durch Unterbezahlung, die von einigen Befragten bedauert bzw. von denen eine (etwas) höhere Bezahlung gewünscht wird. Am deut-lichsten beschreibt Sabine Schomann einen ausbeuterischen früheren Ar-beitgeber als

»Scheiß Sklaventreiber. So die Gesundheit eurer Mitarbeiter, na wir sind Sklaven, so unsere Gesundheit is denen doch scheißegal, Hauptsache die Kasse von denen stimmt.«

Auch Ulrike Urban benennt Ausbeutungserfahrungen. In ihrer Pflegetätig-keit klaffe eine große Lücke zwischen ihrer bezahlten und faktischen Arbeits-zeit: »Also anderthalb Stunden bekomm ich pro Tag bezahlt, aber ich arbeite da viel mehr.« Sie dürfe

»gar nicht erzählen, was ich dafür bekomme, das sind 800 Euro (lacht). Das ist ahm (atmet ein) das ist ahm nee das ist eine sehr prekäre Geschichte.«

Der Pflegedienst bezahle ihr nicht mehr, »weil das Halsabschneider« seien.

Ähnlich fühlt/e sich Rolf Radler in seinen Jobs »halt auch nur ausgenutzt«.

40 Eine ausführliche und differenzierte theoretische und empirisch anhand der Laienpfle-ge fundierte Auseinandersetzung mit dem Konzept lieferte jüngst Haubner (2017).

Veronika Vetter nennt Leiharbeitsfirmen an einer Stelle »Sklavenhalter«, was man durchaus als Ausbeutung interpretieren kann. Sie wäre aber bereit, für einen Job auch Gehaltseinbußen in Kauf zu nehmen angesichts ihrer pre-kären Berufsbiographie und der insgesamt als schlecht wahrgenommenen Arbeitsmarktlage. Vor fünf Jahren hätte sie noch »gedacht boahhh (lacht) für das Geld arbeit’ ich nicht«, aber es gäbe »einfach auch Situationen, wo man vielleicht einfach dann ein bisschen elastisch sein sollte.« Diese Elastizität ist Ergebnis ihrer bisherigen Erfahrungen; prospektiv würde sie »gerne auf vier fünfhundert Euro brutto verzichten zugunsten einfach eines angenehmen Umfeldes«. Doch selbst ein solch erheblicher Einkommensverzicht ermög-licht ihr derzeit weder, eine bessere Qualität von Beschäftigung noch über-haupt eine Beschäftigung sicher zu stellen.

Auch Oliver Oswald nimmt lieber eine schlecht bezahlte, aber inhaltlich halbwegs interessante Tätigkeit in Kauf, auch wenn er sein geringes Einkom-men als Anerkennungsdefizit und als Makel empfindet. Sabine Schomann und Rolf Radler hingegen erhalten nur einen niedrigen Lohn ohne positive Arbeitsinhalte und fühlen sich in beiderlei Hinsicht nicht anerkannt: Sabi-ne Schomann empfindet sich mit dem Tariflohn als unterbezahlt angesichts der Verantwortung, die sie habe, und auch Rolf Radler würde gerne mehr als den Tariflohn erhalten. Theo Tettler schließlich müsse nehmen, was er krie-gen könne und habe keine Wahl.

Es scheint, als hätten sich die prekär Beschäftigten an geringe Einkom-men und schlechte Bezahlung gewöhnt und als hätte sich das Kritikpotenti-al angesichts ihrer wahrgenommenen schlechten Beschäftigungssituation für sie erschöpft – jedenfalls mit Blick auf Einkommen. Anders ist die (Kritik-) Situation mit Blick auf Entfremdung und Pathologien von Erwerbsarbeit.

4.8 Von den Pathologien selbst- und sozialdestruktiver

Im Dokument Prekäre Arbeit, prekäre Liebe (Seite 150-156)