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Erwerbsarbeit zur Sicherung der Existenz und der Unabhängigkeitder Unabhängigkeit

Im Dokument Prekäre Arbeit, prekäre Liebe (Seite 117-123)

4.3 »Gute Arbeit« als Ausdruck des Selbst: Veronika Vetter

4.4 Erwerbsarbeit zur Sicherung der Existenz und der Unabhängigkeitder Unabhängigkeit

Damit kommen wir zu unserer vierten Bedeutungsdimension, der Sicherung der ökonomischen Existenz durch Erwerbseinkommen. Dies ist eine grund-legende Funktion von Erwerbsarbeit in marktwirtschaftlichen oder kapita-listischen Gesellschaften, neben verschiedenen sozialen Funktionen (vgl. Ka-pitel 2; Jahoda et al. 1975 [1933]).

Die Existenzsicherung spielt für die meisten der von uns Befragten eine mehr oder weniger wichtige Rolle. Dies ist noch ausgeprägter der Fall, wenn

Kinder im Haushalt leben. Allerdings wird die materielle Bedeutung von Erwerbsarbeit in den Interviews kaum breiter ausgeführt, sondern sie wird oft als selbstverständlich (voraus-)gesetzt. Daher legen wir diese Dimen-sion nicht anhand eines oder zweier exemplarischer Fälle, sondern knapp und über mehrere Fälle dar (siehe Kapitel  4.4.1). Breiteren Raum nahm eine Unterbedeutung der ökonomischen Existenzsicherungsfunktion ein, die finanzielle Unabhängigkeit von einer anderen Person oder vom Staat.

Hier waren es besonders Frauen, die diese Unabhängigkeit betonten (siehe Kapitel 4.4.2).

4.4.1 Arbeiten, um zu (Über-)Leben

Viele Befragte verbinden mit Erwerbsarbeit die Sicherung der Existenz und gegebenenfalls auch die ihrer Familie. Arbeitsinhalte oder Selbstver-wirklichung können dabei in den Hintergrund treten und einer eher funk-tional-pragmatischen Orientierung nachgeordnet werden. Es ist aber auch möglich, dass verschiedene Bedeutungen gleichzeitig mit der ökonomischen relevant werden, was in der materiellen und sozialen Doppelfunktion von Arbeit begründet ist.

Schließlich kann die Funktion der Existenzsicherung mit einer (eher) positiven oder einer (eher) negativen subjektiven Deutung von Erwerbsar-beit einhergehen. Wir führen sie in der Kategorie positive Bedeutungen von Erwerbsarbeit auf, weil viele Befragte, die Erwerbsarbeit für ihre Existenzsi-cherung als relevant erachten, sie als zumindest tendenziell positiv deuten.

Allerdings resultieren gerade aus der Existenzsicherungsnotwendigkeit auch negative Deutungen und der Zwangscharakter von Erwerbsarbeit, insbeson-dere, wenn die Arbeits- und Einkommensbedingungen prekär sind. Diesen Zwangscharakter nehmen einige Befragte sehr deutlich wahr und kritisieren ihn – etwa Walter Wenke, dessen selbstgewähltes Motto »prekär aus Selbst-bestimmung« lautet und der durch seinen konsumabstinenten Lebensstil dem Erwerbszwang entgehen will, ebenso Rolf Radler und Theo Tettler, die beide (dauerhaft) von ALG II leben, und Clemens Caspar. Wir kommen in Kapitel 4.7 hierauf zurück.

Wie steht es nun um die materielle Funktion? Wie ausgeführt, sind für Oliver Oswald die Existenzsicherung und die Fähigkeit, durch Erwerbsarbeit eine Familie zu ernähren, sehr wichtig – allerdings konnte er lange kein aus-reichendes Einkommen erzielen (siehe Kapitel 4.1.1).

Für die alleinerziehende Petra Podan ist Erwerbsarbeit zur Sicherung der Existenz ihrer Familie zentral; andere Ansprüche an Inhalt oder Qualität ordnet Podan nolens volens unter (siehe Kapitel 4.2.1).

Beim Paar Poturica fällt es entsprechend dem Alleinernährer-Hausfrau-enmodell in die Verantwortung von Pepo Poturica, durch seine Erwerbs-tätigkeit die ganze Familie zu versorgen, während Patricia Poturica für die Haus- und Sorgetätigkeiten zuständig ist. Allerdings macht sich Patricia Po-turica bisweilen große Sorgen um die ökonomische Existenz der Familie, zumal ihr Mann aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen zukünftig arbeits- oder erwerbsunfähig werden könnte. Ihre belastenden Gedanken drückt sie deutlich aus: »Ich kann da teilweise nachts nicht schlafen, wenn ich nicht weiß, was kommt.« Wie fragil das von dem Paar gelebte Arbeitstei-lungsmodell in Anbetracht von Pepo Poturicas drohender Arbeits- oder Er-werbsunfähigkeit ist, legen wir in Kapitel 6.2.2 und 8.1.1 näher dar.

Caroline Christiansen haben wir ebenfalls schon erwähnt. Für sie ist Er-werbsarbeit sehr wichtig zur Existenzsicherung der Familie und darüber hi-naus, hat also mindestens eine Doppelfunktion. Caroline Christiansen ist, wie Petra Podan, Familien ernährerin, jedoch anders als Podan nicht alleiner-ziehend. Weil ihr Partner Clemens Caspar kein Einkommen erzielt, sieht sie sich gegen ihren Wunsch in der Alleinverantwortung, die Kinder und ihren Partner ökonomisch zu versorgen. Welche Dynamiken dies im Paar entfal-tet und welche geschlechterdifferenzierenden Ungleichheiten dies impliziert, thematisieren wir in Kapitel 6.

Sabine Schomann haben wir noch nicht erwähnt. Bei ihr ist Erwerbs-arbeit kaum mit Sinn und nicht mit Anerkennung verbunden, sondern hat in »erster Linie« die Bedeutung »Geld verdienen«. Sabine Schomann ist seit Jahren prekär und derzeit als Aushilfe in einer Kaffee-Kette beschäftigt und der Job erfüllt für sie maßgeblich eine ökonomisch-materielle Funktion, ne-ben einer nachgeordneten sozialen Funktion (siehe 4.5). Gefragt, was ihr an der Stelle gefalle, antwortet Sabine Schomann: »Im Moment gefällt mir ei-gentlich gar nichts da, außer dass ich Prozente auf den Kaffee krieg.« Einen intrinsischen Wert weist der aktuelle Job für sie nicht auf: Sie findet ihn »ein-tönig« und »langweilig« und ihre »Erfüllung ist der Job nicht«. Sie betont nochmals nachdrücklich:

»Ich mach’s wirklich nur wegen der Kohle, nicht weil ich in dem Job aufgehe und weil ich mich da bestätigt fühle und mein oah ja es macht mir total viel Spaß. Nee also es gibt Schlimmeres, ich könnte Fleisch verkaufen/I: (lacht)/Ich verkaufe lecke-ren Kaffee, das geht dann noch, aber is’ is’ nicht meine Erfüllung nä.«

Ihre momentane Arbeitssituation empfindet sie als »nicht so gut«, denn sie werde von den dienstälteren Kolleginnen »sehr oft gemaßregelt«, weil sie »zu langsam« sei. Generell habe Sabine »unheimlich viel Kritik bekommen, weil ich mach, wenn ich nervös bin, wenn ich den Leuten gefallen will und alles richtig machen will, mach ich erst recht alles falsch«. Sabine Schomann be-müht sich, möchte »alles richtig machen« und gute Arbeit abliefern, aber die Ergebnisse stimmen nicht damit überein. Neben den zwischenmenschlichen Unstimmigkeiten mit ihren Kolleginnen, die sie einschätzt als »es war noch nicht direkt Mobbing, aber ahm hm war schon unschön« und die sich mitt-lerweile etwas gebessert hätten, beklagt sie ihr geringes Einkommen in Höhe des Mindestlohnes:

»Ich find, wir kriegen zu wenig Geld für das, was wir machen. So wir haben halt auch viel Verantwortung […], damit der Laden läuft, und das liegt in unserem eigenen Interesse. Wenn die Filiale schließt, sind wir alle unseren Job los. So. Wir haben vol-le Verantwortung für den Laden und dafür find ich sind 8,50 Euro die Stunde ein-fach zu wenig.«

Insgesamt fühlt sie sich für ihre Arbeit nicht anerkannt, stelle sich aber »auch die Frage, wer wer soll mich da anerkennen?« Die Situation mit den Kolle-ginnen ist wenig angenehm und nicht anerkennend, und »von oben, von den Chefitäten kommt da nich viel jetzt«. Schließlich schätzt sie auch den gesellschaftlichen Wert ihrer Tätigkeit als »nicht sehr hoch« ein: »Ja ich bin bin halt Kaffeeverkäuferin ne, is halt nicht so so weit unten wie ’ne Klofrau, aber ahm ja.«

Walter Wenke schließlich lehnt Erwerbsarbeit klar ab, aber ist auf sie an-gewiesen. Er sagt: »Ich brauch das Geld zum Existieren« – mehr hierzu in Kapitel 4.8.

4.4.2 Unabhängigkeit vom Staat und vom Mann

Eine wichtige Nebendimension der Existenzsicherung ist die durch Erwerbs-arbeitseinkommen ermöglichte finanzielle (und weitergehende) Unabhän-gigkeit  – vom Sozialstaat und von anderen Personen. In unserem Sample sind es vorwiegend Frauen, die diese Unabhängigkeit von einem Partner oder Ehemann betonen und entsprechende Abhängigkeiten ablehnen, oft auch vom Sozialstaat. Allerdings ist es auch für einige Männer, die an einer industriegesellschaftlichen Männlichkeit orientiert sind, nicht vorstellbar, von ihren Partnerinnen abhängig zu sein (etwa für Pepo Poturica und Anton

Alsdorf; siehe Kapitel 6 und 8). Eine Abhängigkeit vom Sozialstaat scheint hingegen für mehrere Männer durchaus denkbar.

Doch zuerst zu den Frauen. So artikuliert etwa Petra Podan klar: »Ich will oder wollte auch immer finanziell unabhängig sein.« Gleiches gilt für Veronika Vetter, die sich früh dezidiert gegen eine Partnerschaft entschie-den hat. Sie hätte zudem »große Schwierigkeiten«, vom Einkommen eines Ehemannes oder Partners abhängig zu sein und würde, wenn überhaupt, lieber einen solchen mitfinanzieren als sich finanzieren zu lassen. Sie er-klärt ihre Ablehnung von Heteronomie und ihr Streben nach Autonomie als Persönlichkeitseigenschaft:

»Ich glaub, ich hab’ ’n tiefsitzendes Unabhängigkeitsbedürfnis (lacht). Ich glaub’, das ist auch das Entscheidende, dass ich dann lieber sag, dann zieh lieber ich den Karren als dass ich mich ziehen lass.«

Auch vom Sozialstaat habe sie nie Leistungen bezogen, außer »gelegentlich immer mal wieder ne Physiotherapie und das wars dann auch schon«. Ihren derzeitigen ALG I-Bezug deutet sie nicht als Leistungsbezug, sondern als ihr zustehende Versicherungsleistung – zumal sie sich nicht als selbstverschuldet arbeitslos oder gar als »faul« fasst.

Auch Ulrike Urban strebt nach Unabhängigkeit von einem (Ehe-)Mann und möchte sich

»nicht in so ’ne finanziellen Abhängigkeit begeben. Das ist also das da hab’ ich auch immer zugesehen, dass ich das erst mal gar nicht mache.«

Mit Blick auf den Sozialstaat hat sie sogar einmal so schlechte Erfahrungen mit ihrem Leistungsbezug nach SGB II gemacht, dass sie auf ihren Anspruch verzichtete: »Also mit Hartz IV, ganz fürchterlich, da hab’ ich auch mal ganz freiwillig auf Hartz IV verzichtet und hab’ gesagt, also das das tu ich mir nicht an. […] Weil ich das so demütigend fand.«

Anders zeigt sich das Bild mit Blick auf Sozialstaat und männliche Be-fragte: Rolf Radler, Theo Tettler und Oliver Oswald fühlen sich zwar vom Sozialstaat nicht anerkannt, aber es kommt in den Interviews – anders als bei den meisten weiblichen Befragten – nicht zum Ausdruck, dass sie sozialstaat-liche Transfers möglichst vermeiden möchten.

Walter Wenke, den wir in Kapitel 4.8 näher ausführen, hat nach seiner erschöpfungsbedingten Kündigung neun Monate ALG I bezogen. Zwar war er zu Beginn »total verunsichert so oh Gott was passiert hier? Weil war das erste Mal, dass ich arbeitslos war«, doch dann war er »so dankbar […] für diese Zeit«. Im Nachhinein bezeichnet er sie sogar als »WUNDERVOLL«

und als die »schönste Zeit« seines Lebens (siehe auch Kapitel 9.1). Er hat, so die Interpretation, in seiner persönlichen Lage, in der er aus gesundheitli-chen Gründen nicht mehr arbeiten konnte, die dekommodifizierende, also von der Marktabhängigkeit befreiende, Funktion des Sozialstaates erfahren und schätzen gelernt. Abgesehen von dieser Ausnahmesituation widerstre-ben ihm aber Abhängigkeiten aller Art und damit auch vom Sozialstaat.

Nicht zuletzt scheint er die Erwerbsarbeitsnorm und gesellschaftliche Illegi-timität von Arbeitslosigkeit tief internalisiert zu haben; wie schwer dies für ihn sagbar ist, wird auch in seinem sprachlichen Ausdruck deutlich:

»Manchmal hab’ ich ’s Gefühl n bisschen – was völlig es ist nur ein Gefühl, es ist ja nich nicht wahr, weil es ein Gefühl von äh von ich gerate in so ’n Schmarotzer-tum rein. Vor allem auch ähm dieses Gefühl, von wegen, hey ich finds hammergeil, dass ich ähm arbeitslos bin, das das das ist nicht gut, das DARF ich nicht denken.

Also da ist schon so ’n Norm (holt Luft) was Normatives im Hirn von wegen (holt Luft) – nee du darfst doch nicht auf Kosten des Staates arbei äh dich erfreuen oder (holt Luft) du musst mehr arbeiten, du musst der Gesellschaft mehr beitragen, da-durch dass du mehr arbeitest.«

Deutlich wird hierbei jedenfalls auch die durch die gesellschaftlichen Rah-men der Anerkennbarkeit nahegelegte grundlegende Ambivalenz zwischen Freiheit oder Dekommodifizierung einerseits und andererseits Abhängig-keit, Stigma, Illegitimität des Bezuges von Arbeitslosengeld oder von Sozial-leistungen. Diese kann dann auch für die Einzelnen spürbar werden.

Hiervon scheint schließlich Clemens Caspar nicht betroffen. Im Paar Clemens/Christiansen kommen sehr deutlich geschlechterdifferente Un-/

Abhängigkeitsmuster zum Ausdruck. Anders als viele andere habe Clemens Caspar »nie verinnerlicht, ich muss arbeiten, um Geld zu haben«. Für ihn ist Einkommen offenbar nicht mit Unabhängigkeit verknüpft, sondern Er-werbsarbeit – jedenfalls Erwerbsarbeit, die keinen Spaß macht – ist für ihn gleichbedeutend mit der Verschwendung von Lebenszeit:

»Die hundert Jahre, die wir leben, warum soll ich die denn vergeuden mit mit Zeit, die einfach […] Scheiße ist? Das geht nicht.«

Clemens Caspar würde daher lieber sozialstaatliche Transfers beziehen als eine Tätigkeit ausüben, die ihm keinen Spaß macht. Seit einiger Zeit lebt er vom Einkommen seiner Partnerin, was ihn ebenfalls nicht zu stören scheint.

Wenn Caroline Christiansen nachhause kommt und über ihre Arbeitsbe-dingungen und Kolleg*innen schimpft, hat er kein Verständnis. Stattdes-sen schlägt er ihr vor, mit ihrer Arbeit aufzuhören und für die Familie

Leis-tungen zu beziehen: »Wenn’s dich so anstrengt, dann lass es doch einfach bleiben […] Dann gehen wir eben zum Amt«. Für Caroline Christiansen kommt ein Sozialleistungsbezug hingegen überhaupt nicht in Frage und sie möchte ihn unbedingt vermeiden. Ausführlicher hierzu Kapitel 6.3.1 und 9.

Zwischenfazit

Zusammenfassend ist die materielle Funktion von Erwerbsarbeit für viele Befragte sehr wichtig. Erwerbsarbeit kann dabei (tendenziell) positiv, aber auch negativ gedeutet werden. Je weniger inhaltliche oder auf Selbstverwirk-lichung zielende Aspekte relevant gemacht werden können, desto eher bleibt nur eine pragmatisch-funktionelle Orientierung. Lässt sich kein ausreichen-des Einkommen erzielen und die Existenz nicht sichern, wird dies oft als An-erkennungsdefizit oder als Bedrohung empfunden. Gerade die ökonomische Funktion ist es schließlich, die auch negative Deutungen von Erwerbsarbeit und ihren Zwangscharakter begründet.

Mit Blick auf finanzielle Unabhängigkeit – von anderen Personen und vom Sozialstaat – deuten sich tendenziell Geschlechterunterschiede im Sin-ne eiSin-ner größeren Betonung von Unabhängigkeit bei den Frauen an. Die-se gehen womöglich auf den expliziten Wunsch zurück, eine – für Frauen der befragten Generationen durchaus im Normalmodell vorgesehene – Ab-hängig keit von einem Ernährer zu vermeiden. Womöglich haben die Frauen auch schlechte Erfahrungen gemacht, oder es handelt sich um Selektionsef-fekte. Abhängigkeit vom Sozialstaat scheint für Männer eher denkbar, aber grundsätzlich zumindest oft als ambivalent. Diese Interpretationen sind al-lerdings eher spekulativ und wären vertiefend weiter zu untersuchen.

Im Dokument Prekäre Arbeit, prekäre Liebe (Seite 117-123)