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Verhältnis von Religion und Staat

Im Dokument Rettungsszenarien im Widerstreit- (Seite 113-123)

III Islam in Deutschland und den Niederlanden – migrations- und integrationspolitische Kontexte

1. Islam und MuslimInnen in Deutschland 93

1.2 Verhältnis von Religion und Staat

Die Konzeption des Verhältnisses von Staat und Religion im deutschen Grundgesetz ist geprägt durch die Erkenntnis, nur durch einen autonomen Status der Religionsgemein-schaften sei es möglich, diese „vor jedweder Form der staatlichen Willkür und politi-scher Indienstnahme wirksam [zu] schützen“ (Riedel 2005: 11). In der Verfassung vom 23.5.1949 wurden daher die entsprechenden Regelungen aus der Weimarer Reichsver-fassung vom 11. August 1919 übernommen.164 Infolge dessen zeichnet sich die

164 Die Regelungen der Weimarer Verfassung (WRV) zum Verhältnis von Staat und Religion, auf die hier Bezug genommen wird, schreiben fest, dass keine Staatskirche mehr existiert (Art. 137 Abs. 1 WRV)

sche Verfasstheit heute durch religiösen Pluralismus und die grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche aus: in Art. 4 des Grundgesetzes165 i.V. mit Art. 137 Abs. 3 WRV166 – der wie die Artikel 136-141 WRV insgesamt durch Art. 140 GG167 Bestand-teil des Grundgesetzes ist – ist die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates so-wie die individuelle und kollektive Religions- und Bekenntnisfreiheit festgeschrieben und die Privilegierung bestimmter Religionsgemeinschaften grundsätzlich untersagt (vgl. Riedel 2005: 11). Gleichzeitig ist jedoch bereits die Unterstützung des Staates für die Tätigkeiten von religiösen Gemeinschaften (bzw. ‚Religionsgesellschaften‘ in der Formulierung der WRV) und ihnen gleichgestellten weltanschaulichen Vereinigungen (Art. 137 Abs. 7 WRV) durch die wörtlich übernommenen Artikel der WRV im Deut-schen Grundgesetz festgeschrieben. Die zugesicherte staatliche Unterstützung für reli-giöse Gemeinschaften betrifft beispielsweise ihr Recht, Steuern zu erheben, sofern sie als ‚Körperschaften öffentlichen Rechts‘ verfasst sind, geht aber durch die Gewährung der ‚Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts‘ für al-le religiösen Gemeinschaften auch darüber hinaus (Art. 137 Abs. 4 WRV). Genaueres wird nach Art. 138 Abs. 1 WRV von den Landesgesetzen geregelt (vgl. dejure.org 2007).

Grundsätzlich kann jede Religionsgemeinschaft nach Art. 140 GG i.V. m. Art 137 Abs.

5 Satz 2 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) den Status einer Körperschaft öffentli-chen Rechts erlangen, wenn sie die verfassungsrechtliöffentli-chen Voraussetzungen168 dazu er-füllt (vgl. BT-Drucksache 14/4530 2000: 35f.; Kastoriano 2003: 74f.; Harwazinski 2004: 32). Bislang sind in Deutschland hauptsächlich die christlichen Kirchen (evange-lische Landeskirchen und römisch-katho(evange-lische Bistümer) sowie zahlreiche kleinere Re-ligionsgemeinschaften und areligiöse Weltanschauungsvereinigungen als

und gewähren daher die Gewissens- und Religionsfreiheit der BürgerInnen. Darin eingeschlossen ist neben der ‚aktiven, positiven Religionsfreiheit‘, die die Freiheit der Religionsausübung gewährleistet, auch die so genannte ‚passive, negative Religionsfreiheit‘, nach der BürgerInnen nicht zu einem be-stimmten Glaubensbekenntnis oder einem religiösen Bekenntnis überhaupt gezwungen werden dürfen und staatlicherseits vor religiöser Bevormundung zu schützen sind (vgl. Geiger 2002; dejure.org 2007).

165 Art. 4 GG Abs. 1 und 2 besagen: „(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ „(2) Die ungestörte Religionsaus-übung wird gewährleistet“ (dejure.org 2007).

166 Art. 137 Abs. 3 Satz 1 der Weimarer Reichverfassung besagt: „Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheit selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“

(vgl. dejure.org 2007).

167 Nach Art. 140 GG sind die Art. 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung Bestand-teil des Grundgesetzes (vgl. dejure.org 2007).

168 Eine genauere Darlegung dieser verfassungsmäßigen Voraussetzungen findet sich z.B. in der bereits mehrfach zitierten Antwort des Deutschen Bundestag auf die Große Anfrage einiger CDU/CSU-Abgeordneten zum Thema ‚Islam in Deutschland‘ (vgl. BT-Drucksache 14/4530 2000: 35f.).

ten öffentlichen Rechts anerkannt und stellen daher halböffentliche Institutionen dar (vgl. Kastoriano 2003: 74). Tatsächlich ist also im Unterschied zum verfassungsmäßi-gen Grundsatz der Trennung zwischen Staat und Kirche und dem Gebot der staatlichen Neutralität eine Verflechtung der kirchlichen, sozialen und politischen Strukturen fest-zustellen, deren konfessionelle Prägung z.T. bis heute fortbesteht (vgl. Kastoriano 2003:

74).169 Je ein Drittel der deutschen Bevölkerung bekennt sich heute zu einer der beiden christlichen Großkirchen bzw. ist konfessionslos, ca. 4 Prozent sind muslimischen und ca. 1,8 Prozent orthodoxen Glaubens. Andere Religions- und Weltanschauungsgemein-schaften finden nur geringfügige AnhängerInnenschaft in Deutschland (vgl. REMID 2006).

Trotz eines erkennbaren Bestrebens muslimischer Organisationen170 nach der Inan-spruchnahme der symbolischen und materiellen Vorteile, die im Rahmen des institutio-nellen Gefüges für Religionen bereitstehen, ist es bislang keiner muslimischen Gemein-de in Deutschland gelungen, als Körperschaft öffentlichen Rechts Anerkennung zu fin-den und einen fin-den christlichen Großkirchen gleichgestellten Rechtsstatus zu erlan-gen.171 Nach Angaben der Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration ist sogar die Anerkennung muslimischer Gemeinden als ‚Religionsgemeinschaften‘

strittig, so dass ihnen z.T. sogar diejenigen Rechte vorenthalten werden, die sie gemäß der genannten Artikel des Grundgesetzes bereits in ihrer Eigenschaft als ‚Religionsge-meinschaften‘ besitzen würden (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005: 249). Als vorrangiger Hinderungsgrund für die Aner-kennung als verfassungsgemäß strukturierte Religionsgemeinschaft wurde bisher die sehr heterogene Struktur der islamischen Gemeinden in Deutschland und infolgedessen

169 Diese Verflechtung zeigt sich zum einen an der Bezugnahme verschiedener Landesverfassungen auf das Christentum (z.B. in Baden-Württemberg und Bayern im Verfassungstext selbst sowie in allen al-ten Bundesländern in verschiedenen Artikeln der Schulgesetze) sowie zum anderen z.B. an den Ausei-nandersetzungen über das so genannte Kruzifix-Urteil (vgl. Rommelspacher 2002: 130) sowie gericht-licher Entscheidungen zur Frage des Kopftuchtragens in der Schule, in denen z.T. das Gleichheitsge-bot und die Neutralitätspflicht des deutschen Staates verletzt werden und christliche Kirchen Privile-gien erfahren. Ausführlicher zur so genannten Kopftuchdebatte siehe Abschnitt 1.1.4 im Kapitel IV der vorliegenden Arbeit).

170 Einen Überblick über verschiedene Anträge zur Erlangung des Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts bieten die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zum Thema Islam in Deutsch-land (vgl. BT-Drucksache 14/4530 2000: 34f.) sowie Kastoriano (vgl. Kastoriano 2003: 80) und Har-wazinski (vgl. HarHar-wazinski 2004: 53).

171 Einige der muslimischen Organisationen wie z.B. der Zentralrat der Muslime haben jedoch nach Kan-del niemals den Körperschaftsstatus angestrebt, sondern sich mit der einst als ‚Notlösung‘ oder ‚Provi-sorium‘ empfundenen Rechtsform eines eingetragenen Vereins arrangiert (vgl. Kandel 2004: 2). Das Streben nach der Erlangung des Körperschaftsstatus wird z.T. auch von muslimischer Seite mit dem Verweis darauf abgelehnt, dass dies einer ‚Verkirchlichung‘ des Islam gleichkäme (vgl. Ghadban 2003: 7).

das Fehlen eines verbindlichen Ansprechpartners für den Staat auf Seiten der islami-schen Gemeinden genannt (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-linge und Integration 2005: 249; Kastoriano 2003: 80; Ghadban 2003: 7; Harwazinski 2004: 10, 33).172 Ebenfalls verkomplizierend wirkt z.T. die föderale Struktur des deut-schen Staates, da gemäß der föderalen Kompetenzaufteilung in Deutschland die Länder und Kommunen für einzelne Fragen, die das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen bzw. Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften betreffen, zuständig sind (z.B.

Bereich Schulen und Hochschulen, Medien, Kultur, Vereins- und Körperschaftsrecht und Friedhofswesen) (vgl. BT-Drucksache 14/4530 2000: 4).173

Die Wahrnehmung muslimischen Lebens in Deutschland wird entscheidend durch die Verlautbarungen und das öffentliche Auftreten muslimischer Organisationen174 be-stimmt: Die relevantesten – vorrangig in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenomme-nen – muslimischen, religiös orientierten Organisatiowahrgenomme-nen in Deutschland sind überwie-gend von türkischen MuslimInnen gegründet worden und richten sich vorrangig an die-se.175 Dies sind der sich als überparteilich begreifende Verband islamischer Kulturzent-ren (VIKZ, seit 1973), der sich die Wahrung der türkisch-islamischen Identität der in Deutschland lebenden TürkInnen zum Ziel gesetzt hat; die mitgliederstärkste Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG, seit 1995)176 und die an den türkischen Staat gebun-dene und von diesem gelenkte Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DI-TIB, seit 1982) (vgl. Kandel 2004: 2; BT-Drucksache 14/4530 2000: 8f.; Harwazinski 2004: 53).177 Die letztgenannte Organisation DITIB wurde bis in jüngster Zeit von

172 Zwar dringt der inzwischen (2007) gegründete Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland (KRM) auf seine staatliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft, dies wurde jedoch vom Bundesminister des Inneren, Wolfgang Schäuble – mit dem Verweis auf die Vielfalt muslimischen Lebens in Deutsch-land, das durch die im Koordinierungsrat vertretenen Gruppen keinesfalls repräsentiert sei – zurück-gewiesen. Ein Ende dieser Auseinandersetzungen ist also auch nach der Gründung des Koordinie-rungsrates nicht abzusehen (vgl. Gaserow 2007b).

173 Ein Vergleich zwischen dem zentralistisch verfassten französischen und dem föderalen deutschen Sys-tem in Bezug auf die Stellung der islamischen Religionsgemeinschaft findet sich bei Tietze (vgl.

Tietze 2003) sowie bei Ghadban (vgl. Ghadban 2003).

174 Traditionell existieren im Islam keine vereins- oder verbandsähnlichen Organisationsstrukturen. Die Notwendigkeit, selbige zu gründen, ergab sich erst im Zuge der Migration nach Deutschland. Infolge-dessen datieren viele der Vereinsgründungen aus den 1970er Jahren (vgl. BT-Drucksache 14/4530 2000: 8). Durch die Expansion der Vereine ab 1980 wurde in den 1980er Jahren die Gründung von Dachverbänden als notwendig erachtet (vgl. Ghadban 2003: 8).

175 Kandel kritisiert die einseitige Konzentration auf türkische, sunnitische MuslimInnen in deutscher Po-litik und Forschung und macht in Bezug auf MuslimInnen anderer Herkunft (z.B. MuslimInnen aus a-rabischen Ländern) und anderer Glaubensrichtungen (wie AlevitInnen oder konvertierte Deutsche) deutliche Forschungsdefizite aus (vgl. Kandel 2004: 2; Worbs/Heckmann 2003: 137f.).

176 Nachfolgeorganisation der 1985 gegründeten AMGT – Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V.

177 Der aktuelle Bericht der International Crisis Group wirft der türkischen Regierung gar explizit vor, die Repräsentation von MuslimInnen in Deutschland über die DITIB monopolisieren zu wollen und

for-schen Behörden bevorzugt als Ansprechpartner angesehen. Durch ihre enge Anbindung an den türkischen Staat galt sie zwar lange als laizistisch, wird aber inzwischen, seitdem die islamische AKP in der Türkei eine bestimmende Rolle spielt, als deutlich religiöser orientiert wahrgenommen (vgl. Rüssmann 2007). Daneben existieren verschiedene Dachverbände, deren Mitgliedsorganisationen unabhängig von bestimmten Herkunfts-ländern sind: Zu nennen sind der Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD) sowie der weitgehend durch die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) domi-nierte Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IR) (vgl. Lemmen 2000: 34ff.; BT-Drucksache 14/4530 2000: 9f.).178 Als Zusammenschluss verschiedener Vereine und In-teressenvertretung der nicht-deutschen Bevölkerung türkischen Hintergrunds fungiert die 1995 konstituierte Türkische Gemeinde in Deutschland. Da die Mehrheit der in Deutschland lebenden EinwanderInnen mit türkischen Hintergrund zumindest formal MuslimInnen sind, umfasst die Türkische Gemeinde zwar überwiegend Menschen mus-limischen Glaubens, begreift sich aber dezidiert als pluralistisch in Bezug auf die religi-öse und politische Orientierung der Mitgliedsvereine (vgl. Türkische Gemeinde in Deutschland 2003). Häufig unbeachtet bleibt auch die Föderation der Alevitengemein-den in Deutschland (AABF), die ca. 95 Mitgliedsvereine und immerhin auch ca. 30.000 Mitglieder umfasst (vgl. Kandel 2005).

Lediglich 10-30 Prozent aller in Deutschland lebenden MuslimInnen sind nach Kandel in den genannten religiös orientierten Vereinen und Verbänden organisiert179: Dies sagt jedoch nur wenig über ihren tatsächlichen Einfluss gegenüber der deutschen Mehrheits-bevölkerung und gegenüber ihrer eigenen Klientel aus (vgl. Kandel 2004: 3). Die in den

dert die deutsche Regierung auf, dies aktiv zu unterbinden (vgl. ICG 2007: i, 6ff.; Rüssmann 2001).

178 Strittig ist die Einschätzung der politischen Ausrichtungen der verschiedenen in Deutschland bestehenden muslimischen Vereine, Verbände und Dachorganisationen: Der ICG-Bericht stellt zunächst fest, politische oder dschihadistische Strömungen fänden in Deutschland insgesamt vergleichsweise wenig Anklang (vgl. ICG 2007: 1). Während Schiffauer die Tätigkeit des Verfassungsschutzes, der inzwischen zahlreiche muslimische Organisationen wegen des Verdachts der Verfassungsfeindlichkeit beobachtet, äußerst kritisch analysiert und anhand dessen vor einer vorschnellen Verurteilung von MuslimInnen in Deutschland warnt (vgl. Schiffauer 2006), verweist Kandel klar auf das Bestehen islamistischer Ideologien, oftmals gepaart mit einem autoritären Patriarchalismus, v.a. innerhalb der muslimischen Verbände und Vereine in Deutschland (vgl. Kandel 2004: 6ff.). Seit der Streichung des so genannten Religionsprivilegs im Vereinsgesetz am 4.12.2001 sind religiöse Vereine nicht mehr aus den Bestimmungen des Vereinsgesetzes ausgenommen (vgl.

Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2002: 171) und so ist es entsprechend staatlicherseits möglich, auch muslimische Vereine wegen extremistischer Aktivitäten zu verbieten.

Bis Ende 2004 sind gegenüber drei Vereinen und ihren z.T. zahlreichen Teilorganisationen Verbote ausgesprochen worden (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005: 229f.).

179 Dies besagt jedoch nichts über die religiöse Aktivität oder gar die Gläubigkeit von MuslimInnen in Deutschland (vgl. dazu Kandel 2004: 2; Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005: 225ff.).

1980er Jahren beginnende Institutionalisierung und Organisierung des Islam in Deutschland unterlag zwar einem stetigen Wandel, hat aber insgesamt seitdem stark zu-genommen und verweist auch auf ein mit der Bleibeabsicht vieler MuslimInnen ge-wachsenes Streben nach Anerkennung, öffentlicher Repräsentanz und Gleichberechti-gung. Die heute bestehenden zahlreichen Vereine und Verbände auf lokaler, Länder- und Bundesebene haben den Anspruch, ihrem Klientel ein umfassendes Dienstleis-tungsangebot180 zur Verfügung zu stellen und sehen sich selbst in einer Brückenfunkti-on zwischen muslimischer Minorität, Staat und Mehrheitsgesellschaft. Trotz ihrer zah-lenmäßig begrenzten Mitgliederzahlen nehmen Verbände und Vereine deutlichen Ein-fluss auf inner-islamische Diskurse und prägen – verallgemeinernd und verkürzend – das Bild von MuslimInnen der mehrheitsdeutschen Öffentlichkeit, da sie oftmals als ih-re Repräsentanten wahrgenommen bzw. von staatlicher Seite – auf der Suche nach dem

‚einen‘ Ansprechpartner – auch als solche konstituiert werden. Dies betrifft insbesonde-re die vier erstgenannten Organisationen (vgl. Kandel 2004: 5ff.; ICG 2007: 2).181 Nach dem Bericht der International Crisis Group ist hierin eine problematische Spezifik des deutschen staatlichen Umgangs mit EinwanderInnen türkischen Hintergrunds zu sehen:

Obwohl mit der Türkischen Gemeinde in Deutschland eine säkular orientierte Organisa-tion besteht, strebten staatliche Autoritäten bis in jüngste Zeit vorrangig einen Dialog mit religiösen Körperschaften an.182 Dies führte jedoch zum einen auf Grund des niedri-gen Organisationsgrades von MigrantInnen türkischen Hintergrunds in Deutschland da-zu, dass sich nur wenige von ihnen tatsächlich angesprochen fühlten. Zum anderen hatte

180 Dies umfasst jegliche Form von Beratung und Betreuung, Organisation von Freizeitaktivitäten und re-ligiöser und sonstiger (Aus-)Bildung sowie Mission und politische Interessenvertretung.

181 2007 schlossen sich der Verband islamischer Kulturzentren, die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, die DITIB und der Zentralrat der Muslime in Deutschland zum ‚Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland‘ (KRM) zusammen. Dies löste eine vehemente Debatte über die Frage aus, ob diese Or-ganisation als Vertretung der MuslimInnen in Deutschland wahrgenommen wird bzw. ob das Streben nach einer einheitlichen Vertretung angesichts der Vielfalt in Deutschland lebender MuslimInnen wei-terführend sei (vgl. Rüssmann 2007). Eine sehr ausführliche und strukturierte Charakterisierung inklu-sive einer Typologisierung verschiedener, vor 2000 gegründeter muslimischer Organisationen in Deutschland findet sich bei Lemmen (vgl. Lemmen 2000: 34ff.). Kandel weist jedoch darauf hin, dass eine solche Typologisierung durch die immense Heterogenität von in Deutschland lebenden Musli-mInnen erschwert ist (vgl. Kandel 2004: 2). Auch Kandel bietet einen kurzen strukturierten Überblick über islamische Organisationen in Deutschland (vgl. Kandel 2005).

182 Dies zeigt sich z.B. daran, dass Kenan Kolat, der Vorsitzende der säkularen Türkischen Gemeinde in Deutschland, im Rahmen der bisher zweimal (im September 2006 und im Mai 2007) zusammengetre-tenen Islamkonferenz als Einzelperson eingebunden ist. Einen alternativen Weg beschreiten die auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene im Anschluss der Anschläge des 11. September 2001 unter der Ägide des Interkulturellen Rates eingerichteten Islamforen: Diese haben sich zum Ziel gesetzt, so-wohl VertreterInnen der großen muslimischen Organisationen als auch muslimische Einzelpersonen mit VertreterInnen der Innenministerien der Länder, des Verfassungsschutzes des Bundes und der Länder, der Gewerkschaften, anderer Religionsgemeinschaften in Deutschland und WissenschaftlerIn-nen verschiedener DiszipliWissenschaftlerIn-nen zu dialogorientierten Veranstaltungen zusammen zu bringen (vgl.

Interkultureller Rat 2002).

die Fokussierung auf religiöse Körperschaften zur Folge, dass MigrantInnen mit türki-schem, d.h. zu einem großen Teil säkularem Hintergrund, ‚als MuslimInnen‘ angespro-chen und identifiziert, also ungeachtet ihrer Selbstdefinition ‚islamisiert‘ wurden (vgl.

ICG 2007: 2).

Die von muslimischen Verbänden und Organisationen seit Beginn der 1980er Jahre ge-führte Auseinandersetzung um die Koordination untereinander und eine Anerkennung durch den deutschen Staat ist am Beispiel der Bemühungen um die Einführung islami-schen Religionsunterrichts als reguläres Fach an deutislami-schen Schulen gut ersichtlich: Die Forderung nach einem solchen Religionsunterricht ist grundsätzlich verfassungsrecht-lich legitim, da Art. 7 GG Abs. 3 den Religionsunterricht als ordentverfassungsrecht-liches Lehrfach an öffentlichen Schulen festschreibt. Seit Ende der 1970er Jahre sind zwar Bemühungen von Seiten der muslimischen Vereine und Verbände zu verzeichnen, islamischen Reli-gionsunterricht flächendeckend in Deutschland anbieten zu können, bisher ist dies je-doch noch nicht gelungen. Folgen und Begleitumstände dieser Bemühungen sind län-derspezifische Modellprojekte und längerfristige Regelungen183 sowie eine seit über 20 Jahre vehement geführte und äußerst vielschichtige Debatte – in deren Rahmen es zwar auch um ‚die Sache selbst‘ geht, hinter der sich jedoch, wie Kastoriano vermutet, eine viel grundsätzlichere Auseinandersetzung184 verbirgt: Für eine Forderung nach islami-schem Religionsunterricht werden Argumente und Begründungen wie das Streben nach demokratischer Gleichheit, Anerkennung und religiöse Selbstbestimmung angeführt;

von deutscher und türkisch-laizistischer Seite wird oftmals darauf hin gewiesen, ein schulisches Angebot in islamischer Religion sei eine attraktive – und staatlicherseits kontrollierbare – Alternative zu Korankursen und könne daher den Einfluss islamisti-scher Strömungen auf muslimische Kinder und Jugendliche mindern. Die Argumente gegen die Einführung eines solchen Unterrichts sind dagegen oft diffus und verbleiben häufig auf verwaltungsrechtlicher oder juristischer Ebene185, so dass die Vermutung

183 Das gängigste der derzeit angewandten Modelle ist das einer religiösen Unterweisung im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts. Ein detaillierter Überblick über die Regelungen in ver-schiedenen Bundesländern findet sich in der erwähnten Veröffentlichung des Deutschen Bundestages (vgl. BT-Drucksache 14/4530 2000: 40ff.), auf aktuellerem Stand auch im Bericht der Bundesbeauf-tragten für Migration, Flüchtlinge und Integration (vgl. z.B. Beauftragte der Bundesregierung für Mig-ration, Flüchtlinge und Integration 2005: 250ff.) sowie bei Kastoriano (vgl. Kastoriano 2003: 79).

184 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann auf die Auseinandersetzungen um die Einführung islami-schen Religionsunterrichtes nicht genauer eingegangen werden. Einen Überblick über diese vielschich-tige Debatte und über bestehende Modelle bietet der 6. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Marieluise Beck (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005: 248f.).

185 GegnerInnen einer Einführung islamischen Religionsunterrichts verweisen wiederum meist auf Zwei-fel an der Verfassungstreue verschiedener islamischer Gruppierungen, auf die fehlende Einigkeit unter

he liegt, solche Argumentationen seien vorgeschoben und dienten der Ablenkung vom Eigentlichen, der grundsätzlichen Abwehr des ‚Allzu-Fremden‘ und dem Streben nach einem Erhalt des ‚Eigenen‘ (vgl. Kastoriano 2003: 81).

Ungeachtet der Tatsache, dass keine der muslimischen Religionsgemeinschaften bisher den Status einer anerkannten Körperschaft erlangen konnte und eine flächendeckende Einführung von islamischem Religionsunterricht bisher nicht erfolgte, lässt sich inzwi-schen – im Vergleich zur Situation Anfang der 1990er Jahre – von einer relativ weit entwickelten Institutionalisierung des Islam im Sinne einer umfassenden islamisch ge-prägten Infrastruktur186 in Deutschland sprechen: Nach Amir-Moazami ist diese jedoch nicht – wie in den Niederlanden – als Ergebnis eines multikulturellen Gesellschaftsver-ständnisses zu verstehen, sondern resultiert vielmehr aus der verfassungsmäßig garan-tierten Glaubens- und Religionsfreiheit sowie der ebenfalls verfassungsmäßig veranker-ten staatlichen Unterstützung für jegliche Religionsgemeinschafveranker-ten, die ihnen wie be-reits erwähnt, unabhängig von einem eventuellen Körperschaftsstatus zusteht (vgl.

Amir-Moazami 2006: 18f.).

Als eine Besonderheit des Verhältnisses zwischen Staat und Religion in Deutschland, die sich für die Stellung des Islam als zunehmend bedeutender Minderheitenreligion immer wieder als relevant erweist, ist schließlich der relativ geringe Spielraum deut-scher Bundesregierungen zur Regelung von Angelegenheiten des Verhältnisses von Staat und Religion anzusehen: Dies rührt u.a. daher, dass – wie bereits kurz erwähnt – Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften weitgehend in den Kompetenzbereich von Ländern und Gemeinden fallen und Bundesbehörden ent-sprechend in vielen Angelegenheiten nur Empfehlungen aussprechen können. De Ga-lembert sieht es als ein Resultat u.a. dieser geteilten Zuständigkeit an, dass verschiedene Konflikte auf dem juristischen Weg behandelt wurden und erst durch Urteile des Bun-desverfassungs- oder des Bundesverwaltungsgerichtes (vorläufig) entschieden worden

ihnen über die genaue Gestaltung eines solchen Unterrichts (Sprache etc.) und die Frage, wer zu des-sen Durchführung und zur Ausbildung von Imamen berechtigt sein solle (vgl. Beauftragte der Bundes-regierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005: 248ff.).

186 Auf die zahlreichen muslimischen Organisationen, Vereine und Verbände unterschiedlichster Ausrich-tung, Funktion und Mitgliederstruktur wurde bereits hingewiesen. Leider sind keine statistischen An-gaben über die Zahl der heute in Deutschland bestehenden Moscheen verfügbar. Die AnAn-gaben über Gründungen muslimischer Einrichtungen des Bildungswesens (acht Kindergärten und Kindertagesstät-ten, jeweils zwei Grund- und weiterführende Schulen sowie je ein SchülerInnenwohnheim und Alten-heim) in Trägerschaft unterschiedlicher muslimischer Vereine verweisen darauf, dass sich zwar

186 Auf die zahlreichen muslimischen Organisationen, Vereine und Verbände unterschiedlichster Ausrich-tung, Funktion und Mitgliederstruktur wurde bereits hingewiesen. Leider sind keine statistischen An-gaben über die Zahl der heute in Deutschland bestehenden Moscheen verfügbar. Die AnAn-gaben über Gründungen muslimischer Einrichtungen des Bildungswesens (acht Kindergärten und Kindertagesstät-ten, jeweils zwei Grund- und weiterführende Schulen sowie je ein SchülerInnenwohnheim und Alten-heim) in Trägerschaft unterschiedlicher muslimischer Vereine verweisen darauf, dass sich zwar

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