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Islam und MuslimInnen in den Niederlanden

Im Dokument Rettungsszenarien im Widerstreit- (Seite 123-149)

III Islam in Deutschland und den Niederlanden – migrations- und integrationspolitische Kontexte

2. Islam und MuslimInnen in den Niederlanden

Zwischen 1961 und 2002 wiesen die Niederlande fast durchgängig einen positiven jähr-lichen Migrationssaldo auf191, d.h. die Zahl der einwandernden überstieg diejenige der abwandernden Personen (vgl. Musterd 2001: 288; Entzinger 2001a: 322). Seit 2003 scheint sich eine Umkehrung abzuzeichnen: Der Saldo ist seitdem leicht negativ (vgl.

CBS 2007e). Dennoch und trotz eines stabilen Selbstverständnisses als ‚tolerante und multikulturelle Nation‘ wurde genauso wie in Deutschland die Bezeichnung der Nieder-lande als ‚Einwanderungsland‘ noch bis 1998 vermieden (vgl. Gorashi 2006: 7).

Ein bedeutender Anteil der in den Niederlanden lebenden MuslimInnen besitzt die nie-derländische Staatsangehörigkeit. Dies ist entweder Ausdruck ihrer Herkunft aus einem der ehemaligen niederländischen Kolonialgebiete oder Ergebnis spezifischer einbürge-rungspolitischer Regelungen, die – im Verbund mit weiteren integrationspolitischen Maßnahmen – die staatsbürgerliche Stellung von MuslimInnen in den Niederlanden bestimmen, wie im folgenden Abschnitt 2.1 deutlich werden wird. Veränderungen der integrations- und migrationspolitischen Ausrichtungen der verschiedenen Regierungen stehen in den Niederlanden meist im Zusammenhang mit dem sozio-ökonomischen Sta-tus von Minderheiten: Entsprechend wird auch dieser im folgenden Abschnitt zur Spra-che kommen. Das Verhältnis von Staat und Religion – und damit auch die Stellung reli-giöser Minderheitengruppen im staatlichen Gefüge – ist in den Niederlanden grundsätz-lich durch das Prinzip der ‚Versäulung‘ gekennzeichnet, das für die staatgrundsätz-liche Verfasst-heit der Niederlande lange charakteristisch war. Dieses Prinzip erodiert zwar etwa seit den 1960er Jahren allmählich, ist aber noch immer tief im niederländischen

189 Dies zeigt sich beispielsweise an der aktuellen Verabschiedung neuer Zuwanderungsregelungen, die die Erhöhung des Nachzugsalters von EhepartnerInnen beinhalten und die Anforderungen an die deut-sche Sprachkompetenz erhöhen.

190 Ausdruck dieser Orientierung an Symbolpolitik und der Ambivalenz derzeitiger deutscher Migrations- und Integrationspolitik insgesamt sind beispielsweise die Ereignisse um den im Juni 2007 ausgerichte-ten Integrationsgipfel: Der Dialog insbesondere mit EinwanderInnen türkischen Hintergrunds wurde einerseits von staatlicher Seite zur Priorität erklärt, andererseits wurden nur wenige Tage vor dem Gip-fel die erwähnten verschärften Zuwanderungsregelungen verabschiedet (vgl. am Orde/Wallraff 2007).

191 Nur in den Jahren 1967 und 1982 wanderten mehr Personen aus den Niederlanden aus als ein; der Migrationssaldo war in diesen Jahren entsprechend leicht negativ (vgl. CBS 2007e).

schaftsverständnis verankert. Das Verhältnis von Staat und Religion bzw. Islam in den Niederlanden ist Gegenstand des Abschnittes 2.2.

2.1 Staatsbürgerliche und sozio-ökonomische Stellung von MuslimIn-nen im Kontext von Migrations- und Integrationspolitik

2004 lebten 944.000 Menschen muslimischen Glaubens in den Niederlanden192 – ihre Zahl hat sich damit in den letzten 30 Jahren von ca. 50.000 (1971) über ca. 100.000 (1975) fast verzwanzigfacht (vgl. Rath/Sunier/Meyer 1999: 74). Ihr Anteil an der nie-derländischen Gesamtbevölkerung betrug 1995 noch ca. 4 Prozent, wächst jedoch seit-her kontinuierlich und lag 2004 bereits bei ca. 5,8 Prozent193 (vgl. Bartels 2000: 63;

CBS 2007d). Der Islam ist damit nach der christlichen die zahlenmäßig am stärksten vertretene Religion in den Niederlanden (vgl. Rath/Sunier/Meyer 1999: 74; Shadid/van Koningsveld 1997: 13; Riedel 2005: 32). Bei diesen Angaben handelt es sich um lan-desweite Durchschnitte. In den städtischen Ballungszentren ist der Anteil von Muslim-Innen jedoch bedeutend höher (z.B. in den Regionen Amsterdam mit13 Prozent und in Den Haag mit 11,4 Prozent) (vgl. Riedel 2005: 29; Phalet/ter Wal 2004b 4).

Musterd nennt für die Niederlande vier Migrationstypen, die sich entlang verschiedener gates of entry ergeben (vgl. Musterd 2001: 289). Welche dieser Einwanderungsmög-lichkeiten für Menschen muslimischen Glaubens relevant wurden, orientiert sich an ih-rer Herkunft und dem Zeitpunkt ihih-rer Einwanderung in die Niederlande.

Unmittelbar im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg migrierten MuslimInnen im Zuge post-kolonialer Einwanderung aus niederländischen Kolonialgebieten in die

192 Bis 1997 konnte die Anzahl der MuslimInnen in den Niederlanden ähnlich wie in Deutschland nur an-hand der nationalen Hintergründe der entsprechenden Personen geschätzt werden, da das Bevölke-rungsregister keine Angaben zur Religionszugehörigkeit enthält und die letzte Volkszählung aus 1971 datiert (vgl. Shadid/van Koningsveld 1997: 20; Phalet/ter Wal 2004b: 4). Im Zuge der seit 1997 durch-geführten Permanent Onderzoek Leefsituatie (POLS) (etwa: Permanente Untersuchung der Lebenssi-tuation, Übers. D.M.) des Centraal Bureau voor de Statistiek, einer großangelegten Stichprobenunter-suchung, wird die Religionszugehörigkeit nun systematisch und regelmäßig erhoben: Genaue Angaben zur Religionszugehörigkeit sind auf den Internetseiten des CBS daher erst seit 1997 zu erhalten.

Phalet/ter Wal kommt zudem der Verdienst zu, explizit auf die politische Sensibilität von Angaben der (muslimischen) Religionszugehörigkeit zu verweisen: Diese sind nicht nur Gegenstand politischer Auseinandersetzungen, sondern erfüllen darin interessengeleitete Funktionen. Entsprechend wird z.B.

je nach Zielformulierung unterschieden zwischen ‚echten‘ (praktizierenden), ‚geografischen‘ (qua Ge-burtsland dem Islam zugeordneten), ‚kulturellen‘ (nicht praktizierenden, sich aber dem Islam als ‚kul-turellem Erbgut‘ verbunden fühlenden) und ‚soziologischen‘ (den Islam als ‚ethnische Identität‘ oder politische Angelegenheit betrachtenden) MuslimInnen – meist ohne diese Differenzierung jedoch ex-plizit zu machen (vgl. Phalet/ter Wal 2004b: 6f.).

193 Das Anwachsen des muslimischen Bevölkerungsanteils ist in jüngster Zeit nicht mehr weiterer Ein-wanderung, sondern lediglich dem ‚natürlichen Bevölkerungswachstum‘ zuzuschreiben (vgl. Phalet/ter Wal 2004b: 6).

de: Einwanderung aus Indonesien, den Antillen und insbesondere aus Surinam datiert bereits aus dem 19. Jahrhundert; bis zum Zweiten Weltkrieg wurden MigrantInnen aus diesen Ländern jedoch aufgrund ihrer geringen Zahl in der niederländischen Gesell-schaft kaum wahrgenommen (vgl. Musterd 2001: 289). Im Zuge der Dekolonisierung194 nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Zahl der MigrantInnen aus diesen Ländern sprunghaft an, bis ca. 1960 überwogen jedoch die Auswanderungszahlen (vgl. Prins 1997: 112). Die meisten dieser EinwanderInnen hatten aufgrund staatlicher Regelungen in Bezug auf die ehemaligen Kolonialgebiete die niederländische Staatsbürgerschaft in-ne und unterlagen daher keiin-nen gesonderten migrationspolitischen Regelungen.195 Ins-gesamt sind seit dem Ende des 2. Weltkrieges bis 2003 ca. 400.000 Menschen aus Indo-nesien, ca. 320.000 aus Surinam und ca. 130.000 Menschen von den Antillen in die Nie-derlande eingewandert (vgl. Riedel 2005: 29). Interessanterweise waren jedoch nur we-nige dieser aus muslimischen Staaten bzw. Regionen (insbesondere Indonesien, Moluk-ken) Eingewanderten muslimischen Glaubens. Überwiegend handelte es sich um ‚repat-riierte‘ NiederländerInnen196 oder Personen niederländischer Abstammung (vgl. Pingel 1998: 23).

Der größte Teil muslimischer EinwanderInnen gelangte im Zuge von Anwerbeabkom-men bzw. als Arbeitssuchende ohne vertragliche Basis in die Niederlande: In den 1960er und 1970er Jahren gewann die Arbeitsmigration197 – hauptsächlich von gering qualifizierten jungen Männern aus verschiedenen Ländern Südeuropas und Nordafrikas

194 Indonesien erlangte bereits 1949 die Unabhängigkeit, im Zuge der Verabschiedung der neuen nieder-ländischen Verfassung 1954 erhielten ehemalige Kolonialgebiete wie Surinam und die niederländi-schen Antillen eingeschränkte Autonomie; die Antillen sind bis heute Teil des Königreiches der Nie-derlande, lediglich Aruba besitzt seit 1986 einen weitgehenden Autonomiestatus. Surinam erklärte 1975 seine Unabhängigkeit: Mit der Unabhängigkeit konnten die EinwohnerInnen zwischen der suri-namischen und der niederländischen Staatsangehörigkeit wählen. Viele entschieden sich, Niederlände-rInnen zu bleiben und in die Niederlande zu emigrieren. Für die Dauer einer Übergangszeit von fünf Jahren konnten sie sich dort niederlassen, sofern sie Arbeit hatten. Allein im Laufe des Jahres 1975 emigrierten rund 40.000 SurinamerInnen in die Niederlande (vgl. Prins 1997: 112).

195 So besitzen beispielsweise IndonesierInnen, die ganz überwiegend muslimischen Glaubens sind, per se die niederländische Staatsbürgerschaft, gelten von jeher als vollständig integriert und werden daher in keiner ‚Minderheitenstatistik‘ erwähnt (vgl. Phalet/Örkény 2001: 12). EinwanderInnen von den Mo-lukken dagegen – einem offiziellen Teil Indonesiens – erfuhren zunächst eine andere Behandlung: Ih-nen wurde nicht nur die niederländische Staatsbürgerschaft verweigert, sie wurden auch in sozio-ökonomischer Hinsicht deutlich diskriminiert. Sie standen meist im Dienst der niederländischen Ar-mee und sollten nach einem Gerichtsbeschluss von 1951 nur vorübergehend in den Niederlanden Auf-nahme finden (vgl. Entzinger 2001a: 322; Phalet/Örkény 2001: 12; Lutz 1995: 33). Ihr ungeklärter und benachteiligter Status sowie die Ablehnung, die sie überwiegend von Seiten der niederländischen Ge-sellschaft erfuhren, können als Auslöser für die landesweiten Aufstände von MolukkerInnen Ende der 1970er Jahre in den Niederlanden begriffen werden (vgl. Prins 2000: 13).

196 Hauptsächlich ehemalige Kriegsgefangene (vgl. Pingel 1998: 23).

197 Bereits ab den späten 1940er Jahren wurden so genannte GastarbeiterInnen (aus Italien, Spanien, Grie-chenland, Portugal, Cap Verde, Jugoslawien, Marokko und der Türkei) mittels Anwerbeverträgen an-geworben; erst in den späten 1950er und 1960er Jahren waren die arbeitsbedingten Zuwanderungszah-len jedoch relevant (vgl. Prins 1997: 112).

– stark an Bedeutung. Die größten Gruppen kamen aus der Türkei und Marokko; sie bilden auch in jüngster Zeit zusammen mit EinwanderInnen aus Surinam noch die größ-ten, überwiegend muslimischen Zugewandertengruppen (2004: Türkei: ca. 328.000, Marokko: ca. 296.000) und stellen damit ca. ⅔ aller muslimischen MigrantInnen in den Niederlanden (vgl. Riedel 2005: 30; Entzinger 2001a: 323; CBS 2004).

Insbesondere MuslimInnen aus der Türkei und aus Marokko nutzten im Anschluss an arbeitsbedingte Migration die Möglichkeiten des Familiennachzugs: Nach der Ölkrise 1973 stagnierte zwar ebenso wie in Deutschland auch in den Niederlanden die Nachfra-ge nach billiNachfra-ger Arbeitskraft, nach dem offiziellen Anwerbestopp 1975 hielt die Ein-wanderung insbesondere aus der Türkei und Marokko jedoch an, da Familienzusam-menführungen und Familiengründungen als gate of entry genutzt wurden (vgl. Musterd 2001: 290). Insbesondere zwischen 1989 und 1993 waren die Zahlen der auf diesem Wege in die Niederlande Eingewanderten sehr hoch (vgl. Prins 1997: 113). Arbeits- o-der familienbedingt migrierte MuslimInnen unterlagen je nach Zeitpunkt ihrer Einwan-derung den verschiedenen minderheiten- bzw. integrationspolitischen Regelungen der niederländischen Regierungen (siehe dazu auch weiter unten in diesem Abschnitt).

Ab den späten 1980er und in den 1990er Jahren war nach Musterd wiederum ein ver-gleichsweise neues Migrationsmuster zu beobachten: Migration aufgrund von globalen ökonomischen Verwerfungen und Entwicklungen. Die Einwanderung hoch qualifizier-ter Arbeitskräfte aus anderen EU-Staaten – bedingt durch die ‚neue‘ ökonomische Stär-ke der Niederlande im Zuge der Etablierung des ‚Polder Modells‘198 – gewann an Be-deutung und die Zahl der auf legalen bzw. illegalisierten Wegen eingereisten Flüchtlin-ge199 und Asylsuchenden (v.a. aus dem ehemaligen Jugoslawien und der ehemaligen Sowjetunion, Afghanistan, Sri Lanka, Iran, Irak, Somalia und anderen afrikanischen Ländern) stieg stark an (vgl. Musterd 2001: 290f.; Hagendoorn 2001: 44; Phalet/Örkény 2001: 12).200 Nur ein kleiner Anteil von ca. 10 Prozent der Asylsuchenden werden

198 Eine aktuelle Zusammenfassung und fundierte Analyse der Entwicklung des niederländischen Wohl-fahrtsstaates findet sich bei van Dyk (vgl. van Dyk 2006).

199 Nach Pingel ist der niederländische Begriff ‚vluchteling‘ nicht mit dem deutschen Flüchtlings-Begriff gleichzusetzen: In den Niederlanden wird zwischen ‚uitgenodigde vluchtelingen‘ (Quotenflüchtlinge, aufgenommen in Absprache mit dem UNHCR) und ‚individuele vluchtelingen‘ (auf eigenes Betreiben kommende AsylantragsstellerInnen) unterschieden. Der Bezeichnung als ‚vluchteling‘ setzt zudem ein mit einem Aufenthaltstitel beendetes Verfahren voraus (Anerkennung nach der Genfer Flüchtlings-konvention, Duldung oder Anerkennung als Quotenflüchtling). Als ‚asielzoekers‘ werden dagegen die-jenigen bezeichnet, die sich in einem laufenden Asylverfahren befinden oder deren Asylantrag bereits abgelehnt ist (vgl. Pingel 1998: 13).

200 Die Asylantragszahlen stiegen von 7.486 (1988) über 13.898 (1989) auf ca. 21.000 in den Jahren 1990 bis 1992 und schließlich auf 35.399 (1993) (vgl. Ministerie van Justitie 1993). Genaue Angaben über die Zahlen der AsylantragsstellerInnen, die trotz einer Ablehnung ihres Gesuchs in den Niederlanden

kannt201; ein bedeutend größerer Anteil jedoch, ca. 40 Prozent der Asylsuchenden, er-hält den Status von ‚Geduldeten‘, d.h. Personen, deren Antrag auf Asyl nicht anerkannt wurde, die aber aus politischen Gründen auch nicht in das Herkunftsland ausgewiesen werden dürfen. Insgesamt erhalten also ca. 50 Prozent aller Asylsuchenden in den Nie-derlanden, die zu einem bedeutenden Anteil aus muslimischen Staaten geflohen sind, ein längeres oder dauerhaftes Aufenthaltsrecht. Erst allmählich und in zeitlich abgestuf-ten Schritabgestuf-ten ist es ‚Geduldeabgestuf-ten‘ gestattet, sich in die niederländische Gesellschaft zu in-tegrieren: Im ersten Jahr nach Zuweisung des Status als ‚Geduldete‘ ist es ihnen erlaubt, Sprachunterricht zu nehmen, während des zweiten Jahres haben sie Anrecht auf eine Berufsausbildung, und im dritten Jahr ist eine Arbeitsaufnahme erlaubt. Im deutlichen Unterschied zur Praxis in Deutschland erwerben ‚Geduldete‘ in den Niederlanden nach drei Jahren regulären Aufenthalts ein Anrecht auf eine Aufenthaltsbewilligung (vgl.

Entzinger 2001b: 72; Pingel 1998: 59, 97ff.).202

Ende der 1970er Jahre hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Annahme eines lediglich temporären Aufenthaltes für den weit überwiegenden Teil der EinwanderInnen und damit auch der MuslimInnen in den Niederlanden ein Trugschluss war (vgl. Prins 1997: 112ff.). Zwischen 1970 und 1992 war in Folge der Einwanderung eine bedeuten-de Veränbedeuten-derung bedeuten-der ethnischen Zusammensetzung bedeuten-der niebedeuten-derländischen Bevölkerung zu verzeichnen: Vor dem Zweiten Weltkrieg war diese weitgehend ‚ethnisch homogen‘, in 1992 jedoch waren 15,6 Prozent, in 1997 sogar 17 Prozent und 2004 schließlich 19 Pro-zent (vgl. CBS 2007c; eigene Berechnungen) aller EinwohnerInnen der Niederlande so genannte allochthone203 – die wiederum zu ¾ (1997) die niederländische

verbleiben, liegen nicht vor.

201 Der Anteil der anerkannten Asylanträge sinkt zwischen 1975 und 1986 bereits von ca. 80 auf unter 20 Prozent (vgl. Pingel 1998: 29, 33).

202 Für eine ausführliche Übersicht über Entwicklungen der Asyl- und Flüchtlingspolitik in den Nieder-landen bis Mitte der 1990er Jahre vgl. Pingel 1998.

203 Der Begriff allochthon wurde erstmals 1971 durch die Soziologin Hilde Verwey-Jonker gebraucht, hielt aber erst nach seiner Verwendung im Bericht des Wetenschapelijke Raad voor de Regeringsbe-leid (WRR) 1989 (siehe dazu weiter unten in diesem Abschnitt), in dem er den Begriff der Minderhei-ten ersetzt, systematisch Einzug in die politischen DebatMinderhei-ten (vgl. Prins 2000: 14). Als allochthon wer-den seitdem Personen bezeichnet, die keine niederländische Staatsangehörigkeit besitzen und/oder au-ßerhalb der Niederlande geboren sind und/oder mindestens einen auau-ßerhalb der Niederlande geborenen Elternteil aufweisen können (vgl. Prins 1997 116). autochthone Personen sind infolgedessen in den Niederlanden geboren oder können darauf verweisen, dass ihre beiden Elternteile in den Niederlanden geboren sind (vgl. Prins 1997: 113). Abschließend zu einer Diskussion dieser Begrifflichkeiten weist Prins jedoch darauf hin, dass sich der Alltagsgebrauch von Begriffen im Bereich der niederländischen Migrationspolitik (v.a. der Begriffe allochthon und autochthon) keinesfalls konsequent nach diesen Definitionen richtet, sondern ihre Anwendung meist schlicht der Unterscheidung zwischen People of Colour und Weißen NiederländerInnen und damit der Vermeidung des als rassistisch tabuisierten Beg-riffs ‚Farbige‘ dient (vgl. Prins 1997: 113). Auch Phalet/Örkeny merken an, dass die in den

Niederlan-schaft inne haben.204 6,1 Prozent der niederländischen Bevölkerung wurden 1997 als Mitglied einer ‚ethnischen Gruppe‘ gezählt205 (vgl. Prins 1997: 113; Musterd 2001:

291). Nur 4,3 Prozent (1997 und 2004) der EinwohnerInnen der Niederlande besitzen nicht die niederländische Staatsangehörigkeit (vgl. Phalet/Örkény 2001: 12; CBS 2007b; eigene Berechnungen). Die 2004 in den Niederlanden lebenden ca. 945.000 MuslimInnen, die überwiegend der sunnitischen Glaubensrichtung angehören, weisen folgende Hintergründe206 auf: MuslimInnen mit türkischem Hintergrund stellen mit ca.

328.000 die größte, MuslimInnen mit marokkanischem Hintergrund mit ca. 296.000 die zweitgrößte Herkunftsgruppierung; dazu kommen ca. 42.000 mit irakischem, 36.000 mit afghanischem, 32.000 mit surinamischem, 28.000 mit iranischem, 25.000 mit soma-lischem Hintergrund und 116.000 Personen mit übrigen, hier nicht weiter differenzier-ten Hintergründen (vgl. CBS 2007a; Phalet/ter Wal 2004b: 7).207

Erstaunlich ist, dass lediglich 43.000 der 2004 in den Niederlanden lebenden MuslimIn-nen der Kategorie ‚westlich‘ – die u.a. auch Indonesien mit einschließt – zugeordnet sind. Insgesamt sind seit dem 2. Weltkrieg fast 400.000 Menschen aus Indonesien ein-gewandert – diese müssen also ganz überwiegend Nicht-MuslimInnen niederländischer Herkunft gewesen sein, die aus Indonesien in die Niederlande zurückkehren; sonst wäre die niedrige Zahl von nur 43.000 ‚westlichen‘ MuslimInnen nicht erklärbar (vgl. CBS 2004).

den primär im Kontext migrations- und integrationspolitischer Fragestellungen verwandten und scheinbar rein analytischen Begrifflichkeiten normativ höchst aufgeladen und dadurch stark emotional besetzt sind (vgl. Phalet/Örkény 2001: 5ff.). Kritik an diesen Begrifflichkeiten üben auch Wekker/Lutz und Gorashi (vgl. Wekker/Lutz 2001: 27f.; Gorashi 2006: 41). Zu beachten ist auch Raths Kritik an der Bezeichnung ‚ethnische Minderheit‘ und der Konstruiertheit der Kategorie (vgl. Rath 1997:

481ff.).

204 Alle AusländerInnen, die seit mindestens fünf Jahren legal in den Niederlanden leben, können die nie-derländische Staatsbürgerschaft beantragen. Grundsätzlich muss für die Erlangung der niederländi-schen die bisherige Staatsbürgerschaft abgelegt werden; zahlreiche Ausnahmegenehmigungen führen jedoch dazu, dass 2004 fast 950.000 EinwohnerInnen der Niederlande zusätzlich zur niederländischen noch eine oder zwei weitere Staatsbürgerschaften inne hatten (vgl. CBS 2007f).

205 Als Mitglied einer ,ethnischen Gruppe‘ sind in Abgrenzung dazu Personen definiert, die sich einer spezifischen ethnischen Gruppe, die eine marginale sozio-ökonomische Position einnimmt, zugehörig fühlen, oder von anderen mit einer solchen Gruppe identifiziert werden (vgl. Prins 1997: 113). Entzin-ger verweist darauf, dass Eingewanderte anders als in Deutschland in den Niederlanden kaum als

‚Ausländer‘ bezeichnet werden, da sie aufgrund immigrationspolitischer Regelungen oft die niederlän-dische Staatsbürgerschaft besitzen (siehe weiter unten in diesem Abschnitt). Die Bezeichnungen ‚eth-nische Gruppe‘ gilt daher als aussagekräftiger, da sie auf die ‚eth‚eth-nische Herkunft‘ von Personen und Gruppen verweist (vgl. Entzinger 2001b: 73).

206 Da ein bedeutender Anteil der in den Niederlanden lebenden allochthonen inzwischen eingebürgert ist und daher die niederländischen Staatsbürgerschaft inne hat, lässt sich an dieser Stelle nicht von ‚Nati-onalitäten‘ sprechen. Da zudem viele keine eigene Migrationserfahrung haben, sondern bereits in zweiter oder inzwischen auch dritter Generation in den Niederlanden leben, ist auch der Begriff ‚Her-kunft‘ nicht zutreffend.

207 Die Zahl der zum Islam konvertierten autochthonen NiederländerInnen ist nach Phalet/ter Wal zu ver-nachlässigen (vgl. Phalet/ter Wal 2004b: 4).

Aus diesem Überblick über die verschiedenen Einwanderungsmöglichkeiten, die Mus-limInnen nutzten, um in die Niederlande zu migrieren, wird deutlich, dass sich ihr ge-nauerer aufenthaltsrechtlicher Status zunächst nach ihrer Herkunft sowie damit zusam-menhängend nach dem Migrationsweg richtet. Muslimische EinwanderInnen aus den ehemaligen Kolonialgebieten unterliegen dank ihrer überwiegend niederländischen Staatsbürgerschaft keinen gesonderten Regelungen. MuslimInnen, die als Arbeits-migrantInnen im Zuge einer Familienzusammenführung insbesondere aus Marokko und der Türkei eingewandert sind, sowie Flüchtlinge und Asylsuchende sind dagegen be-züglich ihres aufenthaltsrechtlichen und staatsbürgerlichen Status abhängig von migra-tions-, integrations und asylpolitischen Maßnahmen und Regelungen der niederländi-schen Regierungen. Deren diesbezügliche Politik war nach Entzinger (2001) seit den 1950er Jahren phasenweise starken Wandlungen unterworfen, insgesamt hat sie eine Entwicklung von einer minderheiten- zu einer integrationspolitischen Ausrichtung voll-zogen.

Die Politik niederländischer Regierungen der 1950er, 1960er und 1970er Jahre gegen-über muslimischen EinwanderInnen, die nicht aufgrund ihrer Herkunft aus den ehema-ligen niederländischen Kolonialgebieten per se die niederländische Staatsangehörigkeit inne hatten, war deutlich geprägt von der Vorstellung, ihre Einwanderung sei lediglich temporären Charakters: Diese ‚Rückkehrannahme‘ entlastete die niederländischen Re-gierungen zunächst von der Notwendigkeit der Entwicklung einer perspektivenorien-tierten Inkorporationspolitik. Im Gegensatz zu den 1950er Jahren, in denen nach Ent-zinger seitens der niederländischen Regierungen eine schlicht ‚vermeidende‘ Haltung vorherrschend war (vgl. Entzinger 2001a: 322), wurde in den 1970er Jahren aber die zumindest temporäre Eingliederung aller EinwanderInnen als unabdingbar angese-hen.208 Als politische Leitlinie galt jedoch, „to ensure that they [the newcomers, Anm.:

D.M.] could preserve their own culture and habits while staying in the Netherlands“

(Entzinger 2001a: 323), um ihnen die Rückkehr in ihr Herkunftsland jederzeit zu er-möglichen. Die negativen Auswirkungen dieser ‚ambivalenten‘ Phase niederländischer Migrationspolitik – so Entzingers Bezeichnung (vgl. Entzinger 2001a: 323f.) – wurden bald sichtbar: Bereits zu Beginn der 1970er Jahre wurden zum einen erste rassistisch motivierte Gewalttaten und eine Zunahme entsprechender Einstellungen in der

208 So erhielten alle EinwanderInnen in dieser Phase beispielsweise volle wohlfahrtsstaatliche Leistungen und muttersprachlicher Unterricht für SchülerInnen wurde gewährleistet. Sie erhielten Mitte der 1970er Jahre kommunales Wahlrecht (vgl. Entzinger 2001a: 323f.). Staatliche Unterstützung im Wohn-, Bildungs- und Arbeitsmarktbereich für SurinamerInnen und AntillianerInnen wurden gewähr-leistet (vgl. Pingel 1998: 29).

rung bekannt; zum anderen wurden von Seiten der Regierung erste Zuwanderungsbe-schränkungen für SurinamerInnen diskutiert sowie Maßnahmen zur Rückkehrförderung beschlossen (vgl. Pingel 1998: 26ff.). Gegen Ende der 1970er Jahre nahmen die Span-nungen zwischen verschiedenen EinwanderInnengruppen sowie zwischen MigrantInnen und ‚einheimischer‘ Bevölkerung rapide zu.209 Rassismus und Diskriminierung entwickelten sich „in a country which until then had believed that such phenomena only existed elsewhere“ (Entzinger 2001a: 324). Der Rapport Etnische Minderheden des wissenschaftlichen Rates für Regierungspolitik210 (Wetenschappelijke Raad voor het Regeringsbeleid, WRR) stellte 1979 entsprechend fest, der Aufenthalt vieler MigrantIn-nen in den Niederlanden sei auf Dauer ausgerichtet, warnte vor sozialer Diskriminie-rung und kultureller Isolation und plädierte für eine deutliche rechtliche Besserstellung von MigrantInnen in den Niederlanden (vgl. WRR 1979).211 Seine Veröffentlichung markierte den Beginn einer systematischen Minderheitenpolitik (Ethnic Minorities Po-licy, vgl. Entzinger 2001a: 324; vgl. auch Prins 1997: 114; Prins 2000: 13; Pingel 1998:

40), die die Lebenssituation eines Großteils der MuslimInnen in den Niederlanden – in

40), die die Lebenssituation eines Großteils der MuslimInnen in den Niederlanden – in

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