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Vergleichende Zusammenfassung und Fazit

Im Dokument Rettungsszenarien im Widerstreit- (Seite 149-161)

III Islam in Deutschland und den Niederlanden – migrations- und integrationspolitische Kontexte

3. Vergleichende Zusammenfassung und Fazit

Sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden stellt der Islam nach den christli-chen Religionen die am stärksten vertretene Religionsgemeinschaft dar. Ein jeweils be-deutender Teil der muslimischen Bevölkerung hat einen türkischen Hintergrund; wäh-rend in Deutschland jedoch alle anderen Herkunftsländer nur in vergleichsweise gerin-ger Anzahl vertreten sind, stellen MuslimInnen mit marokkanischem Migrationshin-tergrund einen zahlenmäßig fast ebenso großen Bevölkerungsteil in den Niederlanden.

Der Anteil der MuslimInnen an der Gesamtbevölkerung liegt in den Niederlanden 2004 mit 5,8 Prozent höher als in Deutschland (je nach Schätzung der Gesamtzahl von Mus-limInnen zwischen 3,3 Prozent und 4 Prozent). Unter den MusMus-limInnen in beiden Län-dern ist mehrheitlich die sunnitische Glaubensrichtung vertreten.

Auch in Bezug auf die Migrationswege, die MuslimInnen in beiden Ländern nutzen konnten und können, sind Gemeinsamkeiten festzustellen: Für die jeweils größten mus-limischen Bevölkerungsgruppen – Personen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland sowie mit türkischem und marokkanischem Hintergrund in den Niederlan-den – stellte die Einwanderung im Zuge der ab 1961 (Deutschland) bzw. 1964 (Nieder-lande) bestehenden Anwerbeverträge mit der Türkei bzw. mit Marokko (Deutschland:

1963, Niederlande: 1969) zunächst das bedeutendste gate of entry dar; nach den fast zeitgleich beschlossenen Anwerbestopps (Deutschland 1973, Niederlande 1974) nutzten die genannten Bevölkerungsgruppen vorrangig die Möglichkeiten des Familiennach-zugs bzw. der Familienzusammenführung. Die Zahlen der auf dem Fluchtweg, durch

eine Asylantragsstellung oder eine Studienaufnahme in beide Länder eingewanderten MuslimInnen sind vergleichsweise gering.

Beide Staaten kennen Formen der Migration, die im Vergleich zu den bisher genannten als ‚privilegiert‘ bezeichnet werden können. EinwanderInnen aus den ehemaligen nie-derländischen Kolonialgebieten – darunter auch eine geringe Anzahl von Personen mus-limischen Glaubens – hatten qua Abkommen überwiegend die niederländische Staats-bürgerschaft inne und genossen bzw. genießen aufgrund dessen insbesondere aufent-haltsrechtliche Vorteile gegenüber sonstigen MigrantInnen. In Deutschland wird – ge-mäß dem Selbstverständnis des Landes als ‚Abstammungsnation‘ – die Einwanderung so genannter Volksdeutscher (Flüchtlinge und Vertriebene im Anschluss an den Zwei-ten Weltkrieg sowie (Spät-)AussiedlerInnen, die v.a. nach 1989 nach Deutschland ein-wanderten) als ‚privilegierte Migration‘ gefasst.

In beiden Ländern zählt der überwiegende Teil der muslimischen EinwanderInnen in-folgedessen nicht zum Kreis der ‚privilegierten ZuwanderInnen‘. Dies hat auf formaler und materieller Ebene zunächst Auswirkungen auf ihre Lebenssituation, da sie für ihren Verbleib in Deutschland bzw. den Niederlanden den jeweiligen migrations- und integra-tionspolitischen Regelungen unterworfen sind. Für beide Länder steht jedoch ebenfalls zu vermuten, dass eine staatliche Politik, die bestimmte MigrantInnengruppen im Ge-gensatz zu anderen nicht explizit willkommen heißt, nicht ohne symbolische Folgen so-wohl auf die Lebenssituationen der betroffenen Menschen (z.B. ihre Identifikation mit dem jeweiligen Aufnahmeland) als auch auf Einstellungen der jeweiligen Mehrheitsbe-völkerung gegenüber den verschiedenen MigrantInnengruppen bleibt. Tatsächlich erge-ben Untersuchungen der Bevölkerungseinstellungen in beiden Ländern gegenüber Per-sonen türkischen bzw. türkischen und marokkanischen Hintergrunds im Vergleich zu anderen MigrantInnengruppen (wie z.B. EinwanderInnen aus anderen Anwerbeländern in Deutschland sowie SurinamerInnen und AntillianerInnen in den Niederlanden) deut-liche stärkere Abwehrhaltungen und abwertendere Einschätzungen.

Der Blick auf die jeweils im Rahmen der ‚privilegierten Migration‘ erfassten Gruppie-rungen verweist auf unterschiedliche Selbstverständnisse bzw. staatliche Verfasstheiten Deutschlands und der Niederlande: Nationale und ‚kulturelle‘ Zugehörigkeit basierte im Falle Deutschlands bis zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes 1999 ausschließlich auf dem Prinzip der ‚ethnischen Abstammung‘, wie u.a. am Beispiel des Umgangs mit (Spät-)AussiedlerInnen sowie der erst ab 1990 schrittweise liberalisierten Einbürge-rungspolitik (s.u.) deutlich wird. Wie der u.a. im Fall der Angehörigen ehemaliger

Ko-lonialgebiete deutlich weniger exklusiv und exkludierend geregelte Zugang zur nieder-ländischen Staatsbürgerschaft zeigt, zeichnen sich die Niederlande grundsätzlich durch eine ‚multikulturelle Verfasstheit‘ aus, die ‚kulturelle Differenzen‘ innerhalb des Staatsgefüges bei gleichzeitig möglichst gleichberechtigten politischen Partizipations-möglichkeiten als gegeben begreift. Damit einher gehen – auf den ersten Blick – unter-schiedlich strukturierte Kategorisierungssysteme zur Erfassung der Differenzen inner-halb der jeweiligen Bevölkerungen: In Deutschland gilt die – mit ethnischer Zugehörig-keit oder Nicht-ZugehörigZugehörig-keit parallel gehende – StaatsangehörigZugehörig-keit als primäres Ka-tegorisierungskriterium. Daraus resultiert die bis Ende der 1990er Jahre zu verzeichnen-de Zentralstellung verzeichnen-des Begriffes ‚Auslänverzeichnen-derInnen‘ im Feld verzeichnen-der Migrations- und Integra-tionspolitik. MuslimInnen in Deutschland werden überwiegend als ‚TürkInnen‘ be-zeichnet; eine tatsächliche Differenzierung zwischen Personen türkischer Staatsangehö-rigkeit und z.B. eingebürgerten (deutschen) Personen türkischen Migrationshintergrun-des ist dabei nicht immer gegeben. Erst in jüngster Zeit setzt sich in Deutschland der Begriff ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ zur Bezeichnung der inzwischen vielfäl-tigen, auf verschiedene Weise mit Migration oder Migrationserfahrungen verbundenen Lebensgeschichte durch. In den Niederlanden dagegen war der Begriff der ‚buitenlan-ders‘ (‚AusländerInnen‘) aufgrund der sich schneller entwickelnden ‚ethnischen‘ Hete-rogenität der Bevölkerung bei niedrigschwelligerer Vergabe der niederländischen Staatsangehörigkeit auf offizieller politischer Ebene von jeher weitgehend ohne Bedeu-tung: Zentrales Kriterium zur Beschreibung und Analyse von Lebensumständen ist hier das – von der konkreten Staatsangehörigkeit abstrahierte – Konzept der ‚ethnischen Zu-gehörigkeit‘, das sich u.a. in den Begriffen ‚ethnische Minderheit‘ und allochthone vs.

autochthone manifestiert. Gebrochen wird dieses Bezeichnungssystem allerdings am Beispiel der aus Indonesien eingewanderten Personen und ihrer Nachkommen: Diese gelten seit ihrer Einwanderung als assimiliert und werden entsprechend nicht als ‚ethni-sche Minderheit‘, sondern als ‚westliche allochthone‘ gefasst. Dies verweist darauf, dass dem niederländischen Kategorisierungssystem eine Differenzierung zwischen

‚westlich‘ und ‚nicht-westlich‘ und damit verbundenen Vorstellungen von ‚kulturel-ler/ethnischer‘ Nähe und Ferne unterliegt. Ist von MuslimInnen in den Niederlanden die Rede, sind damit meist Personen mit türkischem und marokkanischem Migrationshin-tergrund angesprochen; die Bezeichnung allochthone umfasst auch eingebürgerte Per-sonen. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich also die zunächst als unterschiedlich bezeichneten Kategorisierungssysteme als durchaus ähnlich: Sowohl in Deutschland als

auch in den Niederlanden erfolgt eine Kategorisierung von Personen entlang ihrer ‚eth-nischen Herkunft‘ – im deutschen Fall resultiert daraus eine staatsangehörigkeitsrechtli-che Praxis, in den Niederlanden dagegen ist die ‚ethnisstaatsangehörigkeitsrechtli-che Zugehörigkeit‘ genau dafür weitgehend bedeutungslos, dient jedoch der Erfassung der vielfältigen Lebensumstände.

Die genannten Kategorisierungspraxen und die damit einher gehenden Bedeutungen verweisen wiederum auf die jeweiligen migrations- und integrationspolitischen Leitli-nien in den Vergleichsländern Deutschland und den Niederlanden, die die Lebensum-stände von MuslimInnen prägen.

Nach einer gemeinsamen Phase der Unentschiedenheit und der Nicht-Anerkennung des Faktums Einwanderung in den 1950er und 1960er Jahren verliefen die Entwicklungen im genannten Politikfeld in Deutschland und den Niederlanden bis gegen Ende der 1980er Jahre deutlich unterschiedlich: In den Niederlanden wurde bereits in den 1970er Jahren bzw. ausdrücklich formuliert ab 1983 eine dezidiert minderheitenorientierte Poli-tik betrieben, die auf die Integration der Minderheiten bei gleichzeitiger Aufrechterhal-tung ihrer ‚kulturellen Identität‘ gerichtet war. Der sozio-ökonomischen Integration wurde dagegen wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In Deutschland mangelte es bis Ende der 1980er Jahre an einer ausgearbeiteten Integrationspolitik: Einwanderung und Zu-wanderInnen wurden fast ausschließlich unter arbeitsmarktpolitischer Perspektive be-trachtet; anders als in den Niederlanden wurde der ,kulturellen Identität‘ der Zugewan-derten und ihrer darauf basierenden Integration wenig Bedeutung beigemessen.

In beiden Ländern war gegen Ende der 1970er Jahre interessanterweise ein potenzieller Wendepunkt im Feld der Migrations- und Integrationspolitik zu verzeichnen: In Deutschland sorgte das so genannte ‚Kühn-Memorandum‘ für Aufruhr und formulierte Vorschläge einer integrationspolitischen Wende hin zu einer Akzeptanz des Faktums Einwanderung und zur Konzeption einer expliziten Integrationspolitik, konnte jedoch keinen politischen Umschwung herbeiführen. In den Niederlanden dagegen warnten ge-gen Ende der 1970er Jahre erste Analysen vor der Verfestigung der sozio-ökonomischen Benachteiligung der ‚ethnischen Minderheiten‘ – führten jedoch eben-falls nicht zu einer politischen Kehrtwende.

Ab den 1990er Jahren ist eine schrittweise und wechselseitige Annäherung der migrati-ons- und integrationspolitischen Ausrichtungen Deutschlands und der Niederlande zu verzeichnen: Angesichts sich verändernder weltweiter Migrationsbewegungen im Ver-lauf des Zusammenbruchs der kommunistischen Staaten Osteuropas und der Sowjetuni-on, einer nicht mehr zu leugnenden Einwanderungsrealität und zunehmender

ausgren-zender und rassistischer Bevölkerungseinstellungen257 sowie einer Zunahme gewaltför-miger Übergriffe waren in beiden Ländern gegen Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre die Diskursfiguren der ‚Erkenntnis des Scheiterns‘ der bisherigen politi-schen Ausrichtung (Minderheitenpolitik in den Niederlanden) bzw. der ‚Konzeptionslo-sigkeit‘ (Deutschland) sowie der ‚Notwendigkeit einer (Um-)Orientierung‘ hegemonial.

Angeregt durch die so genannte ‚Luzern-Rede‘ Frits Bolkesteins erzeugten erste vehe-mente Debatten über die Unvereinbarkeit von Islam und ‚westlicher Kultur‘ in den Nie-derlanden zudem steigenden Druck auf politische EntscheidungsträgerInnen, die

‚Grundlagen des niederländischen Zusammenlebens‘ zu reflektieren und zum Flucht-punkt einer expliziten Integrationspolitik zu erklären. In der Konsequenz erfolgte 1994 die Abkehr von der Minderheiten- und die Hinwendung zur Integrationspolitik in den Niederlanden. In Deutschland bestand in den 1990er und den beginnenden 2000er Jah-ren durch die Gleichzeitigkeit der Reform der Ausländergesetzgebung 1990, die z.B.

durch die Einführung von Anspruchseinbürgerungen eine tendenzielle Öffnung des bis-her rigiden Integrationssystems bedeutete, eines schnellen Ansteigens der (Spät-)-AussiedlerInnen- und Asylsuchendenzahlen, einer sehr deutlichen Verschärfung der Asylgesetzgebung sowie stark zunehmender Gewalttaten gegenüber Personen mit Migrationshintergrund eine polarisierte Situation in Bezug auf die Migrations- und In-tegrationspolitik: Einerseits war – insbesondere mit Blick auf die als Vorbild betrachte-ten Niederlande – eine ‚Aufbruchsstimmung‘ von progressiverer Seite zu verzeichnen, die sich beispielsweise in der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes sowie in der Ar-beit der Zuwanderungskommission unter dem Vorsitz Rita Süßmuths äußerte. Anderer-seits waren verstärkte Bemühungen auf konservativer Seite zu verzeichnen, z.B. über den Begriff der ‚Leitkultur‘ den Zugang zur deutschen Gesellschaft und die gleichbe-rechtigte Teilhabe an dieser an immer höhere Zugangsvoraussetzungen zu binden und daher die Anforderungen an die in Deutschland lebenden, ‚integrationswilligen‘

MigrantInnen zu steigern.

257 Interessanterweise ist in beiden Ländern zu Beginn der 1990er Jahre ein deutlicher Anstieg rassisti-scher Einstellungen manifest (vgl. z.B. Jäger 1994; Jäger/Link 1993; Jäger 1992;

Foitzik/Leiprecht/Marvakis/Seid 1992; Phalet/ter Wal 2004b). Interessant erscheint diese parallele Entwicklung, da für die Niederlande der Anstieg rassistischer Einstellungen und Übergriffe zu diesem Zeitpunkt aufgrund eines noch weitgehend bestehenden ‚multikulturellen Konsenses‘ in einer pluralis-tisch verfassten Gesellschaft überrascht; in Deutschland dagegen lassen sich rassispluralis-tische Einstellungen in einer Situation des politischen, ökonomischen und identitären Umbruchs aufgrund der Wiederverei-nigung und des Zusammenbruchs des ehemaligen Ostblocks sehr leicht und wenig überraschend be-reits Anfang der 1990er Jahre mobilisieren. Genaueres dazu findet sich im Kapitel IV der vorliegenden Arbeit.

Während die Debatten in Deutschland zu Beginn der 2000er Jahre zwar von der be-schriebenen Polarität und restriktiven politischen Praxis, aber auch von einem Bemühen um Sachlichkeit gekennzeichnet waren (was sich auch in den durchaus gemäßigten Re-aktionen auf allen politischen Ebenen auf die Anschläge des 11.9.2001 in den USA zeigte), ist für die Niederlande eine entgegengesetzte Bewegung festzustellen: Bereits vor den genannten Anschlägen führten verschiedene Ereignisse (wie u.a. die von Paul Scheffer angestoßene Debatte sowie die so genannte ‚El-Moumni-Affäre‘) dort zu einer starken Emotionalisierung der Themen Einwanderung und Multikulturalität insbesonde-re in Bezug auf den Islam sowie zu einer grundsätzlichen Infragestellung der bisherigen Politik und des bisherigen Selbstverständnisses und mündeten zunächst in eine deutlich restriktivere, sich von bisherigen Politikkonzepten abhebende Migrations- und Integra-tionspolitik. Erst seit der faktischen Absetzung der damaligen Integrationsministerin Ri-ta Verdonk im Dezember 2006, die diese restriktive Wende hauptsächlich initiierte, deutet sich eine Phase des Innehaltens und der Reflexion an, deren Ausgang jedoch noch nicht einschätzbar ist.

Für beide Länder ist seit Ende der 1990er Jahre und verstärkt durch die verschiedenen Ereignisse der beginnenden 2000er Jahre eine zunehmende Fokussierung von öffentli-chen Debatten im Feld der Migrations- und Integrationspolitik auf den Islam und auf MuslimInnen und damit verbunden auf die ‚innere und äußere Sicherheit‘ zu verzeich-nen. Befördert hauptsächlich von außenpolitischen Ereignissen, aber auch von Vor-kommnissen in Deutschland und den Niederlanden sind MuslimInnen in den 2000er Jahren zum zentralen Gegenstand integrationspolitischer Debatten im Spannungsfeld zwischen einem Generalverdacht gegenüber MuslimInnen, der proklamierten Unver-einbarkeit von Islam(ismus) und Demokratie bzw. ‚westlichen Werten‘, kulturrelativis-tischer Leugnung von Zielkonflikten und einem Bemühen um Differenzierung und An-näherung geworden. Die Intensität der Debatten lassen die Existenz anderer als musli-mischer MigrantInnen in beiden Ländern nahezu vergessen. Ein Ende der Debatten um den Umgang mit der Vielfalt muslimischer MigrantInnen und ihrer Nachkommen in Deutschland und den Niederlanden sowie um die Stellung des Islam in den staatlichen Gefügen ist derzeit nicht absehbar.

Immer wieder Gegenstand vergleichender Untersuchungen und kontroverser Diskussio-nen über unterschiedliche migrations- und integrationspolitische Ausrichtungen sind ak-tuelle Daten zur sozio-ökonomischen Position von MigrantInnen insbesondere mit

tür-kischem in Deutschland bzw. türtür-kischem und marokkanischem Hintergrund in den Nie-derlanden. Diese Daten sind u.a. der Grund für eine Umkehrung der Vorbildfunktionen zwischen beiden Ländern: Während die Niederlande aufgrund ihrer als multikulturell wahrgenommenen gesellschaftlichen Struktur und der entsprechenden Integrationspoli-tik deutschen PoliIntegrationspoli-tikerInnen und WissenschaftlerInnen ab der Mitte der 1990er Jahre als erstrebenswertes Beispiel dienten (vgl. u.a. Michalowski 2005; Böcker/Thränhardt 2003: 1; Hoving 2005: 3), wird insbesondere in den 2000er Jahren vor dem Hintergrund sozio-ökonomischer Daten von niederländischer Seite wohlwollend auf die bisher re-striktivere bzw. phasenweise konzeptionslose deutsche Integrationspolitik geblickt (vgl.

Hagendoorn 2001: 52; Böcker/Thränhardt 2003: 5; Michalowski 2005).258 Insbesondere der Blick auf die Arbeitsmarktsituation, aber auch auf den (Aus-)Bildungsstand von Personen türkischen bzw. marokkanischen Hintergrunds zeigt, dass die sozio-ökonomische Ungleichheit zwischen diesen und der autochthonen Mehrheitsbevölke-rung in den Niederlanden in der Vergangenheit stets größer war und derzeit größer ist als diejenige zwischen Personen türkischen Hintergrunds und der der deutschen Mehr-heitsbevölkerung.259

Diese Erkenntnis sorgte insbesondere in den Niederlanden für Überraschung und führte zu engagiert betriebener Ursachenforschung: Als beeinflussende Faktoren werden z.B.

der im Vergleich zu Deutschland umfassendere Arbeitsplatzverlust im industriellen Sektor oder auch das in den Niederlanden weitreichendere System der Arbeitsunfähig-keitsversicherung genannt, das zahlreiche EinwanderInnen nach dem Verlust ihrer Ar-beitsplätze in Anspruch nahmen und damit dem Arbeitsmarkt dauerhaft fern blieben.

Um die im deutsch-niederländischen Vergleich weniger benachteiligte sozio-ökonomische Positionierung von EinwanderInnen zu erklären, werden jedoch auch die jeweiligen migrationspolitischen Regelungen in den Blick genommen: So wurde in Deutschland der Zuzug von – oft wenig qualifizierten – Familienangehörigen früher be-schränkt, die Rückwanderung arbeitslos gewordener EinwanderInnen wurde stärker ge-fördert, die Erlangung sicherer Aufenthaltstitel in stärkerem Maße an die sozio-ökonomische Positionierung gekoppelt, so dass sich die Zusammensetzung der

258 Die rechtsliberale VVD brachte bereits 1990 den Vorschlag ein, migrationspolitisch den deutschen Immigrationsrestriktionen zu folgen. Bis 1998 erfolgte keine nennenswerte Reaktion der anderen Par-teien. Ab 1998 wurde diesem Vorschlag jedoch von der jeweiligen Regierungsseite interessiert nach-gegangen (vgl. Hagendoorn 2001: 52). Inzwischen dient den Niederlanden gar die äußerst rigide däni-sche Migrationspolitik als Vorbild (vgl. Michalowski 2004: 174).

259 Vergleichbare Daten, die sich nicht auf nationalstaatliche oder ‚ethnische‘ Kategorisierungen, sondern auf das Kollektiv der ‚MuslimInnen‘ beziehen, sind für die Untersuchungsländer dieser Arbeit nicht vorhanden.

gen EinwanderInnengemeinschaften in Deutschland und den Niederlanden im Verlauf der Zeit zunehmend unterschieden. Zudem genossen EinwanderInnen in Deutschland bessere Zugangsmöglichkeiten zu den Organen der betrieblichen Interessenvertretung (vgl. Dagevos/Euwals/Gijsberts/Roodenburg 2006a: 73ff.). Auch die von niederländi-scher Seite über lange Zeit verfolgte Minderheitenpolitik wird aufgrund ihrer Ausrich-tung auf die BeibehalAusrich-tung kollektiver Identitäten als Faktor ins Spiel gebracht, der sich – im Vergleich zu der eher arbeitsmarktorientierten, eigentlich aber konzeptionslosen Integrationspolitik, die in Deutschland etwa ab 1970 vorherrschte – negativ auf die so-zio-ökonomische Integration von EinwanderInnen insbesondere türkischen und marok-kanischen Hintergrunds in den Niederlanden auswirkte (vgl. Koopmans 2002;

Dagevos/Euwals/Gijsberts/Roodenburg 2006a; Böcker/Thränhardt 2003).

Böcker/Thränhardt (2003) kommen daher zu dem Ergebnis, die Integration von Ein-wanderInnen auch türkischen Hintergrunds sei in Deutschland insgesamt weiter voran-geschritten als in den Niederlanden und bezeichnen dies als „Erfolg der Konzeption der Politik der sozialen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung“ (Böcker/Thränhardt 2003: 10). Dies kann jedoch in der Form nicht unwidersprochen bleiben: Zum einen verweisen die im Rahmen der vorliegenden Arbeit genannten Daten auf eine deutlich benachteiligte sozio-ökonomische Positionierung von EinwanderInnen mit türkischem Hintergrund im Vergleich zu Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland.

Dies darf auch im Zuge des Vergleichs mit den Niederlanden und der dortigen, ‚noch benachteiligteren‘ Positionierung von EinwanderInnen mit türkischem und marokkani-schem Hintergrund nicht aus dem Blick geraten. Zudem muss gegen die sehr positive Bewertung der ‚Integrationspolitik‘ in Deutschland, die Böcker und Thränhardt vor-nehmen, eingewandt werden, dass durch die stark auf den Arbeitsmarkt fokussierte In-tegration im Produktionssektor eine potenziell instabile und v.a. konjunkturabhängige Integrationsstruktur geschaffen wurde (vgl. dazu auch Dagevos/Euwals/Gijsberts/

Roodenburg 2006a: 72f.). In den Niederlanden dagegen wurden aufgrund einer anderen integrationspolitischen Ausrichtung andere Schwerpunkte gesetzt und infolgedessen andere Integrationserfolge erzielt: Während die prekäre Arbeitsmarktsituation von EinwanderInnen mit türkischem und marokkanischem Hintergrund nur ungeordnete Beachtung erfuhr, wurde in den Niederlanden (zumindest bis zu den 2006 umgesetzten restriktiveren Reformen) ein vergleichsweise niedrigschwelliger Zugang zur niederlän-dischen Staatsbürgerschaft und damit einher gehend eine möglichst gleichberechtigte Partizipation von MigrantInnen auf politischer Ebene – d.h. eine Aufenthalts- und

poli-tische Integration angestrebt (vgl. Schulte 2007: 5; Hoving 2005: 2). Die damit einher-gehende breitere gesellschaftliche Präsenz von EinwanderInnen insgesamt in den Nie-derlanden sollte für eine vergleichende Beurteilung der jeweiligen ‚Integrationserfolge‘

nicht unberücksichtigt bleiben.

Zur Stellung der muslimischen Minderheit bzw. religiöser Minderheiten allgemein konnten für beide Länder zunächst formalrechtliche Ähnlichkeiten festgestellt werden:

Das Gebot der grundsätzlichen staatlichen Neutralität in Bezug auf die pluralen religiö-sen Praxen der StaatsbürgerInnen sowie die positive und negative Religionsfreiheit sind in den Verfassungen beider Länder verankert. Obwohl die niederländische Verfassung zudem die Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften sogar unabhängig von ihrer Größe und der Dauerhaftigkeit ihrer Existenz fordert, genießen die christlichen Kirchen in beiden Ländern aus historischen Gründen und aufgrund ihrer Mitgliederstärke Vor-rechte gegenüber anderen Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften. Dennoch sind auch hier Unterschiede festzustellen: Der Islam als Minderheitenreligion bzw.

MuslimInnen blicken in den Niederlanden aufgrund des ‚Versäulungsprinzips‘ und der lange Zeit auf die Anerkennung und Unterstützung ‚ethnischer Minderheiten‘ und ihrer

‚kulturellen Identität‘ ausgerichteten Minderheitenpolitik auf eine längere Geschichte staatlich geförderter Institutionalisierung und Einbindung in den Prozess der politischen Willensbildung zurück und sind demnach in Öffentlichkeit und Alltag der Niederlande deutlich stärker präsent als in Deutschland. Die Auswirkungen einer staatlichen Ver-fasstheit, die immer noch Züge der verzuiling aufweist, lassen sich z.B. daran erkennen, dass – in sehr begrenztem Maße und sofern es niederländischem Recht nicht wider-spricht – muslimisches Recht Eingang in niederländisches Familienrecht gefunden hat, dass verschiedene muslimische Medien rezipiert werden können und Dinge des tägli-chen Bedarfs in muslimistägli-chen Läden angeboten werden (vgl. Rath 2005: 32). Zudem bilden islamische Bildungseinrichtungen (insbesondere Grund- sowie einige wenige Mittelschulen und weiterführende Einrichtungen), deren inhaltliche Unterrichtsgestal-tung nach der niederländischen Verfassung ihnen selbst obliegt und im Einklang mit der Verfassung stehen muss, einen zwar immer wieder umstrittenen, aber dennoch festen Bestandteil der niederländischen Bildungslandschaft, während die Institutionalisierung islamischen Schulunterrichts in Deutschland noch wenig fortgeschritten und zudem stark umkämpft ist. In Ermangelung eines mit den Niederlanden vergleichbaren privat

‚kulturellen Identität‘ ausgerichteten Minderheitenpolitik auf eine längere Geschichte staatlich geförderter Institutionalisierung und Einbindung in den Prozess der politischen Willensbildung zurück und sind demnach in Öffentlichkeit und Alltag der Niederlande deutlich stärker präsent als in Deutschland. Die Auswirkungen einer staatlichen Ver-fasstheit, die immer noch Züge der verzuiling aufweist, lassen sich z.B. daran erkennen, dass – in sehr begrenztem Maße und sofern es niederländischem Recht nicht wider-spricht – muslimisches Recht Eingang in niederländisches Familienrecht gefunden hat, dass verschiedene muslimische Medien rezipiert werden können und Dinge des tägli-chen Bedarfs in muslimistägli-chen Läden angeboten werden (vgl. Rath 2005: 32). Zudem bilden islamische Bildungseinrichtungen (insbesondere Grund- sowie einige wenige Mittelschulen und weiterführende Einrichtungen), deren inhaltliche Unterrichtsgestal-tung nach der niederländischen Verfassung ihnen selbst obliegt und im Einklang mit der Verfassung stehen muss, einen zwar immer wieder umstrittenen, aber dennoch festen Bestandteil der niederländischen Bildungslandschaft, während die Institutionalisierung islamischen Schulunterrichts in Deutschland noch wenig fortgeschritten und zudem stark umkämpft ist. In Ermangelung eines mit den Niederlanden vergleichbaren privat

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