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Islam und/oder Islamismus als Bedrohung des niederländischen Zusammenlebens? Die Debatte um das Scheitern der Zusammenlebens? Die Debatte um das Scheitern der

Im Dokument Rettungsszenarien im Widerstreit- (Seite 193-197)

IV Diskursereignisse zum Thema Islam in deutschen und niederländischen Massenmedien

2. Diskursereignisse Niederlande

2.3 Islam und/oder Islamismus als Bedrohung des niederländischen Zusammenlebens? Die Debatte um das Scheitern der Zusammenlebens? Die Debatte um das Scheitern der

multikultu-rellen Gesellschaft

1986 erregte die Veröffentlichung des Buches Vermoorde onschuld – Etnisch verschill als Hollands Taboe295 große Aufmerksamkeit in den Niederlanden und provozierte ve-hemente Auseinandersetzungen: Herman Vuijsje warf darin ‚der Linken‘ einen durch den 2. Weltkrieg geprägten ‚allzu vorsichtigen Umgang‘ mit Minderheiten – vorrangig mit MuslimInnen – vor. Jegliche Erwähnung einer ethnischen oder ‚rassischen‘ Diffe-renz sei bereits tabuisiert; mit der Forderung nach einem härteren, oftmals als realisti-scher bezeichneten, Umgang mit Minderheiten versetzte er die niederländische Öffent-lichkeit in einer Zeit, in der die niederländische Migrations- und Integrationspolitik na-tional und internana-tional noch hoch gelobt wurde, in Aufregung (vgl. Prins 1997: 117).

Obwohl sich Vuijsje nicht explizit auf die in den Niederlanden lebenden MuslimInnen bezieht, ist seiner Veröffentlichung doch eine enttabuisierende Funktion zuzuschreiben, die die insbesondere zu Beginn der 1990er Jahre einsetzenden Debatten um den Islam und dessen (Un-)Vereinbarkeit mit den Grundwerten der niederländischen Gesellschaft entscheidend prägten.

An Auffassungen über den Islam, wie sie bereits während der so genannten ‚Rushdie-Affäre‘ und des Golfkrieges in niederländischen Medien zu verzeichnen waren, knüpfte Frits Bolkestein, der damalige Fraktionsvorsitzende der rechtsliberalen VVD im nieder-ländischen Parlament, mit seiner so genannten ‚Luzern-Rede‘ vom 6. Februar 1991 an:

Er kritisierte darin die niederländische Minderhedenpolitiek aufgrund ihrer – seiner An-sicht nach – kulturrelativistischen Ausrichtung und forderte zukünftig eine auf

294 Die Website www.nrc.nl des NRC Handelsblad bietet eine umfassende Übersicht über die Medienre-aktion im zeitlichen Umfeld des Regierungsrücktritts (vgl. NRC Handelsblad 2002).

295 Etwa: ‚Ermordete Unschuld. Ethnische Differenz als holländisches Tabu‘ (Übers. D.M.).

lation von MuslimInnen gerichtete Integrationspolitik. Insbesondere EinwanderInnen aus Marokko und der Türkei bezeichnete er als Beispiele gescheiterter Integration; die ZuwanderInnen aus muslimischen Ländern insgesamt bedrohten das liberale niederlän-dische Zusammenleben. Angesichts von Einwanderung aus muslimischen Ländern for-mulierte Bolkestein den Respekt gegenüber ‚den Werten der europäischen Zivilisation‘

(er nannte Vernunft, Humanismus, Christentum) als Grenze einer multikulturellen Ge-sellschaft. Ziel müsse es sein, diese Werte zu verteidigen; die bisherige pluralistische Minderheitenpolitik, die auf der Vorstellung einer versäulten Gesellschaft beruhe, kön-ne dies aufgrund ihrer kulturrelativistischen Ausrichtung nicht leisten (vgl. Bolkestein 1991: 5).

Die nicht nur auf nationaler Ebene bekannt gewordene Rede Bolkesteins stellte den Ausgangspunkt für eine mehr als ein Jahr währende, intensive Debatte (die so genannte Nationale Minderhedendebat) in den Niederlanden dar, die sich u.a. um die vermeintli-chen Gefahren drehte, die der niederländisvermeintli-chen Gesellschaft durch muslimische MigrantInnen im Besonderen und durch Glaubensvorstellungen und Kultur(en) von MigrantInnen im Allgemeinen drohten (vgl. Botman/Jouwe 2001: 11;

Böcker/Thränhardt 2003: 4). Auch im niederländischen Parlament wurde intensiv über den Islam als ‚potenzielle Gefahr für das niederländische Zusammenleben‘, als Bedro-hung für die niederländische Rechtsordnung und die Trennung zwischen Kirche und Staat diskutiert (vgl. Shadid/van Koningsveld 1997: 11f.).

Die Rede von einer solchen Gefahr beruhte dabei auf einer Hierarchisierung von ‚Zivi-lisationen‘, d.h. eine Höherstellung von ‚Zivilisationen‘ wie der westlichen, in denen die als universell gesetzten Werte (wie Rationalismus, Humanismus, Aufklärung und Chris-tentum) hoch gehalten werden, und entsprechend einer Abwertung von ‚Zivilisationen‘

– wie der muslimischen –, in denen diese Werte scheinbar nicht respektiert oder ande-ren Werten untergeordnet werden. Am Beispiel Bolkesteins zeigt sich diese Hierarchi-sierung z.B. in Bezug auf Frauenrechte und die Freiheit der sexuellen Orientierung: Er

‚sorgte‘ sich im Rahmen der ‚Luzern-Rede‘ um die Rechte muslimischer Mädchen und Frauen in den Niederlanden und prangerte die Diskriminierung von Homosexuellen in Saudi-Arabien an – beides mit dem Ziel, den Islam als ‚negatives Fremdes‘ auszugren-zen und im gleichen Zuge eine positive niederländische Identität zu entwerfen (vgl.

Bolkestein 1991: 5; Prins 1997: 117f.). Aufgrund seiner Positionen, der Art und Weise, sie zu äußern, und vor allem durch seine Selbst- und Fremdwahrnehmung als

‚Enttabui-sierer‘ bezeichnet Prins Frits Bolkestein als typischen Vertreter des so genannten ‚Neu-en Realismus‘ (vgl. Prins 1997: 119; Prins 2000b).

Neben den beschriebenen Positionen waren jedoch auch kritische Stimmen vernehmbar, die die Stereotypisierung des Islam anprangerten und auf die damit einher gehende ver-einfachende Sicht der niederländischen Gesellschaft verwiesen (vgl. u.a. Rath/Sunier 1993: 56; Prins 1997: 119).

Nach der ersten Empörung über die Kritik Bolkesteins an der Minderheitenpolitik und dem Islam 1991 wurde sein Denken in der niederländischen Öffentlichkeit und von po-litischer Seite im Verlauf der 1990er Jahre jedoch mehr und mehr respektiert und repro-duziert296 (vgl. Rath 1997: 482). Die Revision und grundlegende Veränderung der nie-derländischen Minderheitenpolitik hin zu einer dezidierten, eher assimilatorisch ausge-richteten Integrationspolitik 1994 (siehe dazu den vorhergehenden Abschnitt) kann si-cherlich als ein zentrales Ergebnis der beschriebenen Debatte angesehen werden.

Der am 29. Januar 2000 unter dem Titel Het multiculturele drama im NRC Handelsblad veröffentlichte Essay des Publizisten und bekannten Sozialdemokraten Paul Scheffer läutete die ‚nächste Runde‘ der niederländischen Minderheitendebatte ein und zeigte, dass sich die in Bolkesteins Rede erwähnte ‚Problemwahrnehmung‘ in den dazwischen liegenden zehn Jahren verändert hatte. Die Warnung vor einer Bedrohung der ‚nieder-ländischen Kultur‘ durch den Islam findet sich bei Scheffer weiterentwickelt zu der Feststellung, die niederländische multikulturelle Gesellschaft befinde sich bereits in ei-nem dramatischen Zustand297: Er beklagte die ‚zu großzügige Aufnahmepolitik‘ der Niederlande gegenüber MigrantInnen und Flüchtlingen, die dazu beigetragen habe, dass deren Integration als gescheitert betrachtet werden müsse. Hintergrund seiner Kritik war die kulturpessimistische Wahrnehmung eines ‚Niedergangs der niederländischen Kul-tur‘; er plädierte folgerichtig dafür, mit dem Ziel der ‚Verteidigung eines offenen Zu-sammenlebens‘ der niederländischen Sprache, Kultur und Geschichte mehr Aufmerk-samkeit zu widmen und der ‚kulturellen Vielfalt‘ in den Niederlanden engere Grenzen

296 Unterstützung erhielt Bolkestein nicht nur von konservativer Seite, sondern auch von VertreterInnen der sozialdemokratischen PvdA. Auf der Suche nach einer Neuprofilierung der PvdA in Zeiten von Mitglieder- und Wählerstimmenschwund starteten u.a. der damalige PvdA-Vorsitzende Rottenberg, der Staatsekretär Aad Kosto und andere auf nationaler und kommunaler Ebene hochrangige Politike-rInnen eine regelrechte Kampagne gegen Illegalisierte. Sie bedienten sich dabei gezielter Falschmel-dungen, um Bedrohungsgefühle in der Bevölkerung zu schüren und rassistische Abwehrhaltungen zu stärken (vgl. Leiprecht 1994).

297 Die Tatsache, dass Scheffer eigentlich aus einer sozialdemokratischen Perspektive argumentierte und primär die Gleichgültigkeit kritisierte, die PolitikerInnen und Öffentlichkeit angesichts der ständig grö-ßer werdenden Kluft zwischen einer gut gestellten (autochthonen) Mehrheit und sozio-ökonomisch benachteiligten (allochthonen) Minderheiten an den Tag legten, wurde im Gegensatz zu seinen Forde-rungen nach ‚härterem Durchgreifen‘ kaum rezipiert (vgl. Prins 2000a: 38).

zu setzen (vgl. Scheffer 2000; Prins 2000a: 39; Botman/Jouwe 2001: 11). Scheffers Ar-tikel löste eine Debatte aus, die auf den Titelseiten aller großen Tageszeitungen und im Parlament geführt wurde und dadurch – wie schon die Minderheitendebatte in Folge der Bolkestein-Rede – einen niederlandesweiten Charakter bekam.

Nur wenige Wochen später setzte Paul Schnabel, Soziologe und Direktor des Sociaal Culturel Planbureau, die wieder aufgenommene Minderheitendebatte durch einen Arti-kel mit dem Titel De multiculturele samenleving is een illusie (Schnabel 2000) fort: Im Vergleich zu Scheffer verschärfte er gar die Kritik an der niederländischen Migrations- und Integrationspolitik, indem er die multikulturelle Gesellschaft in den Niederlanden als Illusion und als grundsätzlich nicht anstrebenswert bezeichnete. Er konstatierte, ‚die europäische Kultur‘ sei ‚der muslimischen‘ überlegen; Integrationspolitik müsse daher insgesamt auf Assimilation ausgerichtet sein, da MigrantInnen aufgrund ihres Mangels an kulturellem Kapital ohnehin keine kulturelle Bereicherung für die niederländische Gesellschaft darstellen könnten (vgl. Schnabel 2000).

Obwohl die populistischen Argumentationen Scheffers und Schnabels in der niederlän-dischen Öffentlichkeit durchaus auch auf Kritik trafen, ist doch an der Diskursereignis-dichte insgesamt ersichtlich, wie stark das Thema Islam in Verbindung mit dem neder-landse samenleving zu Beginn der 2000er Jahre in der niederländischen Öffentlichkeit für Erregung sorgte. Zwei Beispiele können dies illustrieren: Im Dezember 2000 wurde die für 2001 in der ‚Kulturhauptstadt Rotterdam‘ geplante Aufführung der Oper Aisha abgesagt, nachdem sich der überwiegende Teil der marokkanischen Besetzung zurück-gezogen hatte. Kurz zuvor hatten Unbekannte einer holländischen Zeitung und dem ma-rokkanischen Premierminister ein Fax zukommen lassen, in dem sie für den Fall der Aufführung der Oper verkünden, die Mitwirkenden würde ‚dasselbe Schicksal wie Sal-man Rushdie‘ treffen. Das Musical beruht auf dem bekannten Buch Fern von Medina der in Algerien geborenen Autorin Assia Djebar, in dem Djebar versucht, die Auffas-sung zu widerlegen, der Islam sei eine frauenfeindliche Religion (vgl. Top 2002: 7).

Weitaus nachhaltigere Wirkung jedoch ist der so genannten ‚El-Moumni-Affäre‘ zuzu-schreiben: In einem Interview mit dem Fernsehsender NOVA bezeichnete der Rotter-damer Imam Khalil El-Moumni im Mai 2001 Homosexualität als eine ansteckende Krankheit und sorgte damit für helle Aufregung in der niederländischen Öffentlich-keit298 (vgl. Phalet/ter Wal 2004a: 51; Top 2002: 7f.). Die Aussagen El-Moumnis

298 Seine gleichzeitige Ablehnung von Gewalt gegen Homosexuelle wurde vom Sender jedoch ver-schwiegen (vgl. Top 2002: 7). Eine Übersicht über verschiedene Argumentationsstränge in der so

ge-den als eindrückliches Beispiel für ge-den ‚Zusammenprall der Kulturen‘ und die Unver-einbarkeit von Islam und ‚westlichen Werten‘ wahrgenommen; weite Teile der nieder-ländischen Öffentlichkeit genauso wie der schwulen Community stimmten in einer Um-frage der Aussage zu, ‚wer hierher kommt, muss unsere Toleranz tolerieren, oder er ge-hört hier nicht hin‘ (vgl. Prins 2000a: 40). Interessanterweise beriefen sich sowohl Kri-tikerInnen als auch VerteidigerInnen El-Moumnis auf das Recht der freien Meinungs-äußerung: KritikerInnen wie Theo van Gogh und der streitbare Kolumnist der Zeitung Trouw, Ephimenco, gebrauchten dieses Recht, um MuslimInnen zu beleidigen und zu provozieren299; genau wie ihre säkularen GegnerInnen verteidigten El-Moumni und sei-ne AnhängerInsei-nen ihre anti-westlichen Ansichten ebenfalls mit dem Verweis auf ‚west-liche Wert‘ (vgl. Prins 2000a: 41).300 Die ‚El-Moumni-Affäre‘ wurde insbesondere von jungen MuslimInnen als das Ereignis wahrgenommen, das die Stimmung zwischen MuslimInnen und der autochthonen Mehrheitsbevölkerung in den Niederlanden nach-haltig vergiftet habe (vgl. Phalet/ter Wal 2004a: 51; Top 2002: 8).

In die derart aufgeheizte Stimmung fiel dann schließlich die Nachricht der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA.

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