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Islam und/oder Islamismus als Mittel der ‚Kriegserklärung an die westliche Zivilisation‘

Im Dokument Rettungsszenarien im Widerstreit- (Seite 179-187)

IV Diskursereignisse zum Thema Islam in deutschen und niederländischen Massenmedien

1. Diskursereignisse Deutschland

1.3 Islam und/oder Islamismus als Mittel der ‚Kriegserklärung an die westliche Zivilisation‘

Zusätzlich zu den genannten Ereignissen in muslimischen Ländern, die in westlichen Medien als Bedrohung dargestellt und von vielen Menschen im Westen auch als solche empfunden wurden, waren bereits ab den 1980er Jahren auch islambezogene Ereignisse zu verzeichnen, die von den AkteurInnen selbst und in westlichen Medien explizit als

„Kriegserklärung an die westliche Welt“277 (vgl. Bittner 2002) benannt wurden. Die Re-zeption dieser Ereignisse in westlichen Medien war insbesondere ab dem Beginn der 1990er Jahre Gegenstand zahlreicher Medienanalysen, die sich überwiegend der Analy-se des ‚Feindbildes Islam‘ widmeten.278 Danach zeichnete sich der mediale Umgang mit diesen Ereignissen zum einen dadurch aus, dass mit ihnen eine räumliche Veränderung der ‚Feindkonstellation‘ verbunden wurde: Der eigentlich dem Westen äußere Feind – die muslimische Welt bzw. der Islam – offenbarte sich zunehmend als ‚innerer Feind‘, dessen Aktionen direkt auf Angehörige westlicher Staaten zielen (vgl. Gräfe 2001: 2).

Weist die Rezeption von diesbezüglichen Ereignissen feindbildkonstruierende Züge auf, gehen damit meist klare Zuschreibungen an die als feindlich wahrgenommenen Parteien einher: Der Westen gilt als Hort von Meinungsfreiheit und Demokratie, so dass die

277 Bittner bezeichnet mit diesem Ausdruck eine von dem Netzwerk al-Qaida – ein Zusammenschluss ver-schiedener Terrororganisationen aus Afghanistan, Algerien, Bangladesh, Pakistan und Kaschmir – un-terzeichnete und am 23. Februar 1998 veröffentlichte Erklärung, die MuslimInnen in aller Welt zum Mord an US-AmerikanerInnen und ihren Verbündeten aufruft (vgl. Bittner 2002).

278 Diesbezügliche Literaturangaben genauso wie eine ausführlichere Erläuterung der Konstruktion des Feindbildes Islam findet sich in Kapitel II Abschnitt 5 der vorliegenden Arbeit.

sprechenden Aktionen von Seiten ‚fanatischer IslamistInnen‘ als Bedrohung dieser Werte bzw. konkrete Angriffe auf sie oder ihre VertreterInnen wahrgenommen werden oder auch von den oft islamistischen InitiatorInnen als solche geplant sind. Grundlage dessen sind nach Hafez zwei komplementäre Mechanismen: Zum einen findet im Rah-men der medialen Bearbeitung eine Konzentration auf islamistischen Extremismus statt, der die Mehrheit der (nicht-extremistischen) MuslimInnen ignoriert. Zum anderen er-folgt – nicht selten bewusst, wie Hafez anmerkt – eine sprachliche Gleichsetzung von Terror, Gewalt, Extremismus und Fanatismus mit dem Islam per se (vgl. Hafez 1996b:

3).

Diese thematische Diskurskonstellation zeigte sich zuerst im Kontext der 1989 gegen den britischen Schriftsteller Salman Rushdie ausgesprochenen Fatwa279 und wurde schließlich in aller Deutlichkeit in der Folge des Golfkrieges im Januar und Februar 1991 sichtbar: Im Anschluss an den Krieg wurden im deutschen Fernsehen (pseudo-)dokumentarisch angelegte Sendungen ausgestrahlt und es erschienen ‚Sach‘-Bücher, die – ganz im Einklang mit den erst in den darauf folgenden Jahren prominenten Thesen Samuel Huntingtons – den Islam als ‚Bedrohung des Westens‘ und seiner Werte dar-stellten.280 Das Bild des Islam als ‚Bedrohung der westlichen Zivilisation‘ ist seitdem kontinuierlich als eine Ausprägung der westlichen medialen Wahrnehmung von Islam und MuslimInnen präsent. Verschiedene, meist gewaltförmige Ereignisse in den 1990er Jahren wie z.B. von islamistischen Fundamentalisten verübte Anschläge gegen westli-che Einrichtungen in muslimiswestli-chen Ländern, Entführungen von Angehörigen westliwestli-cher Staaten, aber auch Drohungen z.B. gegen regimekritische SchriftstellerInnen wie Tas-lima Nasrin (Bangladesh) werden im Zuge der 1990er Jahre nicht nur von den rezipie-renden ‚westlichen‘ Medien, sondern oftmals auch von den GewalttäterInnen selbst in diesen thematischen Diskursstrang eingereiht (vgl. Schiffer 2005: 139ff.). Auch wenn der Golfkrieg 1991 zunächst als das initiierende Ereignis dieses thematischen Stranges

279 Hafez bilanziert dazu: „Die deutsche Presse hat auf den Ausschluss Rushdies aus der islamischen Ge-meinschaft ihrerseits über weite Strecken mit dem Ausschluss des Islam aus der Zivilisationsgemein-schaft reagiert“ (Hafez 1996a: 428).

280 Das eindrücklichste und am vehementesten kritisierte Beispiel dieser Art ist sicherlich die mehrteilige Sendereihe ‚Das Schwert des Islam‘ (gleichnamige Publikation bereits 1990), in der Peter Scholl-Latour in vorgeblich wissenschaftlicher Manier, aber hinterlegt mit Bildern und Kommentaren, aus denen unverhohlene Islamfeindlichkeit sprach, die ‚jahrhundertealte Geschichte der Gegnerschaft zwi-schen der muslimizwi-schen Welt und dem Westen‘ darzustellen sucht. Die Art und Weise der Darstellung und die transportierten Inhalte befördern nach Ansicht verschiedener KritikerInnen in jeder Hinsicht die (Re-)Produktion eines Feindbildes Islam (vgl. Geiger 1992; Auernheimer 1993; Klemm 1993;

Klemm/Hörner 1992). Eine inhaltlich ähnliche Kritik an dem ebenfalls zu Beginn der 1990er Jahre sehr medienpräsenten Gerhard Konzelmann und seiner Publikation Die islamische Herausforderung (wieder aufgelegt 1991) formuliert Gernot Rotter (vgl. Rotter 1992).

erscheint, darf jedoch nicht vergessen werden, dass bereits in den 1980er Jahren ver-schiedene, ebenfalls gewaltförmige Ereignisse (insb. Anschläge, Botschaftsbesetzun-gen) zu verzeichnen waren, anhand derer diese Thematik sichtbar wurde. Im Unter-schied zu den 1990er Jahren handelte es sich dabei jedoch um zeitlich kurze Phasen; die

‚Kriegserklärung an die westliche Welt‘ seitens des Islam wurde offensichtlich im Ver-lauf der 1980er Jahre noch nicht als kontinuierlich präsentes Phänomen wahrgenom-men.

Als bisheriger Höhepunkt dieses thematischen Diskursstranges wurden schließlich die Anschläge des 11. September 2001 in den USA durch islamistische Fundamentalisten verzeichnet: Nicht nur aufgrund der großen Anzahl von Toten, sondern auch durch die hohe Symbolhaftigkeit der gewählten Ziele (World Trade Center und Pentagon) sowie der Rolle der USA als führender Weltmacht und Inbegriff der westlichen Zivilisation gilt der Islam seitdem sowohl auf weltpolitischer als auch im überwiegenden Teil der westlichen Staaten auf nationaler Ebene als die zentrale Bedrohung, gegen die als west-lich bezeichnete Werte wie die Achtung von Menschenrechten und Demokratie zu ver-teidigen seien (vgl. u.a. Massarat 2002; Farrokzhad 2002; Ruf 2004). Zudem ist seit dem 11. September 2001 im massenmedialen Diskurs nochmals eine Verstärkung der thematischen Verknüpfung von Islam und Terrorismus zu verzeichnen (vgl. Lueg 2002:

21f.; Halm/Liakova/Yetik 2007: 45).281 Entführungen von Angehörigen westlicher Staa-ten und verschiedene Anschläge entweder auf westlich konnotierte Ziele in muslimi-schen oder vor allem in jüngster Zeit auch in europäimuslimi-schen Staaten (z.B. in Madrid und London) haben dieses Bild sehr verfestigt.

1.4 Folgen der Anschläge vom 11. September 2001: ‚Krieg gegen den Terrorismus‘ und Restrukturierung der ‚inneren Sicherheit‘ in Deutschland

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 entwickelte sich in Deutschland eine kontrovers und engagiert geführte Debatte über die ‚Gefährdung der inneren Sicherheit durch den islamischen/islamistischen Terrorismus‘; im Zuge dieser Debatte wurden zahlreiche Gesetze neu verabschiedet oder geändert (Ausweitung der Kompetenzen von Bundeskriminalamt und Bundesverfassungsschutz, Ausweitung des so genannten

281 Siehe dazu genauer auch den folgenden Abschnitt.

ßen Lauschangriffs und der Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen etc.). Auch die Debatte um ein Zuwanderungsgesetz erhielt durch diese Anschläge eine neuen themati-schen Schwerpunkt: Sowohl die Zuwanderung nach Deutschland als auch die Integrati-on bereits in Deutschland lebender AusländerInnen wurden ab 2001 mit dem ständigen Verweis auf die ‚Gefahren für die innere Sicherheit Deutschlands‘ diskutiert, die von nach Deutschland einwandernden und/oder ‚nicht-integrierten‘, in ‚Parallelgesellschaf-ten‘ zurückgezogenen MuslimInnen ausginge (vgl. Schiffauer 2006; Frankfurter Rund-schau 2004).

Die direkt auf die Anschläge des 11. September 2001 folgenden Debatten können inso-fern als zentraler Knotenpunkt von Diskussionen über den Islam in Deutschland zu Be-ginn der 2000er Jahre gesehen werden: Sie stellen nicht nur den Ausgangspunkt der Themen ‚Krieg gegen den Terror‘ – durch den amerikanischen Präsidenten Bush in Re-aktion auf die Anschläge proklamiert und von zahlreichen westlichen Ländern als Not-wendigkeit aufgenommen – und ‚innere Sicherheit‘ in Deutschland dar, sondern beein-flussen alle bisher genannten, zu diesem Zeitpunkt relevanten thematischen Diskurs-stränge, da Islam und Islamismus in Folge dieses Ereignisses in politischen Debatten und in den Massenmedien in viel stärkerem Maße als zuvor mit Bedrohung, Gewalt und Fanatismus assoziiert werden. Dennoch lässt sich mit Halm konstatieren, dass die Er-eignisse des 11. September 2001 keinen grundsätzlichen Wendepunkt in massenmedia-len Debatten um den Islam und MuslimInnen in Deutschland darstelmassenmedia-len, da „der Dis-kursstrang, der islamophobe Debatten in erster Linie konstatiert, nämlich der Zusam-menhang zwischen Islam und Terrorismus, längst vorher etabliert ist, wenn auch in ge-ringerem Ausmaß“ (Halm/Liakova/Yetik 2007: 12).

Obwohl, wie Eberhard Seidel konstatiert, ‚die Zivilgesellschaft‘ direkt im Anschluss an die Anschläge der erwarteten/befürchteten offenen Islamfeindschaft widerstand (vgl.

Seidel 2004), nimmt das Gefühl individueller Bedrohung durch den Islam bzw. durch Islamismus282 im öffentlichen Raum unter der Mehrheitsbevölkerung zu (vgl.

Halm/Liakova/Yetik 2007: 33ff.). Dies ist sicherlich als eine Erklärung dafür zu sehen, dass die vielfältigen Gesetzesänderungen genauso wie die so genannte ‚Rasterfahn-dung‘, die alle in Deutschland lebenden jungen männlichen Muslime unter Generalver-dacht stellte, zwar Diskussionen und z.T. auch Demonstrationen zur Folge hatten, aber dennoch keinen ganz umfassenden Widerstand innerhalb der deutschen Bevölkerung auslösten (vgl. zum Beginn der Rasterfahndung Spiegel-Online 2001).

282 Auch in diesem Punkt wird in massenmedialen Beiträgen nicht immer genau differenziert.

Trotz der Aufgeregtheit der Debatten im Anschluss an die Anschläge vom 11. Septem-ber 2001 ist gleichzeitig eine allmähliche Ausdifferenzierung der Wahrnehmung des Is-lam in Deutschland zu beobachten: Unzählige dokumentarische Fernsehsendungen, aufklärerische Zeitungs- und Zeitschriftendossiers, Sachbücher, Romane, Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen zeigen, dass das Interesse am Islam in Deutschland und ein dahingehender Informationsbedarf der Mehrheitsbevölkerung deutlich gestiegen sind.283 Neben der Reproduktion altbekannter Klischees und orientalistischer Bilder sind im Zuge dieser Veranstaltungen und Veröffentlichungen Versuche, häufig von in Deutsch-land lebenden MuslimInnen, zu beobachten, den Islam als eine Weltreligion unter ande-ren und mit diesen in jeder Hinsicht vergleichbar darzustellen und umfassend über ver-schiedene Ausprägungen muslimischen Glaubens zu informieren. Dies ist sicherlich ei-ne der relevantesten Entwicklungen: Deutlich zwischen dem Islam als gelebter Religion und seiner politischen Ideologisierung (Islamismus) zu unterscheiden. Die Studie von Halm et al. zeigt jedoch, dass diese vermittelnden, dialogorientierten Stimmen, die er als ‚Gegendiskurs‘ zusammenfasst, zwischen 2000/2001 und 2003/2004 sowohl in den Debatten des deutschen Bundestages als auch in Massenmedien eine deutliche Margina-lisierung erfahren haben(vgl. Halm/Liakova/Yetik 2007: 33ff.).

Auf internationaler Ebene ruft der amerikanische Präsident Bush am 20. September 2001 den War on Terror aus, den er mit Hilfe einer Koalition gleich gesinnter Staaten zu führen beabsichtigt. Primäre Gegner sind zunächst die von der US-Regierung unter dem Begriff der ‚Schurkenstaaten‘284 zusammengefassten muslimischen Staaten Afgha-nistan, Irak, Iran, Sudan und Syrien. Als Kriegsziel wird „die Vernichtung jener, die un-sere Freiheiten, unun-sere Werte, und unun-sere Zivilisation hassen“ (Massarat 2002: 3) aus-gegeben.

Am 7. Oktober 2001 beginnt die Operation Enduring Freedom, die Luftangriffe der USA und Großbritanniens in Afghanistan und Operationen im Seegebiet am Horn von Afrika umfasst. Ziel in Afghanistan sind die Taliban bzw. das von ihnen unterstützte is-lamistische Netzwerk al-Qaida unter der Führung von Ossama Bin Laden, das für die

283 Dass natürlich auch Veranstaltungen und Veröffentlichungen solcher – am Ziel der Wissensvermitt-lung, Aufklärung, Information etc. orientierter – Art eine genaue Betrachtung erfordern, zeigt bereits der Hinweis Hafez´, dass Differenzierungen in Bezug auf ‚den Islam‘ oft halbherzig erfolgen, indem sprachlich differenzierte Artikel durch eine stereotypisierende Bildsprache begleitet werden (vgl.

Hafez 2002).

284 Auch Kuba und Nordkorea fallen für die US-Regierung unter den Begriff ‚Schurkenstaaten‘, werden aber im Kontext des ‚War on Terror‘ – der sich primär gegen islamistische Fundamentalisten richtet – nicht zu Zielen erklärt.

Anschläge des 11. September 2001 verantwortlich gemacht wird (vgl. Netzeitung 2001).

Ab dem 20. März 2003 führten die USA unterstützt von zahlreichen anderen Staaten (‚Koalition der Willigen‘) einen Angriffskrieg gegen den Irak. Als Kriegslegitimation diente die Annahme, dass der Irak über Massenvernichtungswaffen verfügte. Erklärtes Ziel des Krieges war, diese ausfindig zu machen und Saddam Hussein zu stürzen. Die Gegenwehr der irakischen Streitkräfte endete offiziell im April 2003. Eine ‚Befreiung des Landes‘ wurde jedoch nicht erreicht. Bis heute herrschen bürgerkriegsartige Zu-stände im Irak, Streitkräfte verschiedener Nationalität sind noch heute im Irak statio-niert. Die deutsche Bevölkerung stand dem Krieg überwiegend ablehnend gegenüber und unterstützte zu großen Teilen die Haltung der Bundesregierung, keine Streitkräfte in den Irak zu senden (vgl. Knorr 2006285; lpb 2007).

1.5 Ablösung der Diskursfigur des ‚Kopftuchs‘ durch die Diskursfigu-ren ‚Zwangsehen‘ und ‚EhDiskursfigu-renmorde‘286: Islam als ‚Integrations-hindernis‘?

Debatten über ‚das Kopftuch‘ waren auch in den 2000er Jahren noch in der deutschen Öffentlichkeit präsent, wie sich nicht zuletzt am Beispiel der Medienaufmerksamkeit für das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im September 2003 zeigte. Während das Kopftuch jedoch etwa seit der Mitte der 1990er Jahre das herausragende und nahezu

285 Die Begriffe ‚Islam‘ und ‚MuslimInnen‘ werden in der Dissertation Antje Knorrs erstaunlicherweise lediglich an zwei Stellen erwähnt: Ihre Analyse der Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zei-tung und der Süddeutschen Zeitung zum Zweiten Golfkrieg, zum Krieg im Kosovo und zum Irak-Krieg 2003 mit dem Ziel der Analyse einer europäischen Öffentlichkeit, die sich ihrer Annahme nach z.B. im Rahmen der intensivierten Berichterstattung über Kriege konstituiert, bezieht sich also in kei-nem Moment auf die konstitutive Rolle der Abgrenzung des ‚Abendlandes‘ von Orient und Islam (vgl.

Knorr 2006).

286 Mit dem Setzen der einfachen Anführungszeichen soll nicht die Existenz der gewaltförmigen Phäno-mene selbst, sondern lediglich deren vereinheitlichende Bezeichnung in Frage gestellt werden. Für ei-nen Teil der so bezeichneten Ehen und Morde sind die genannten Begrifflichkeiten sicherlich zutref-fend – dies kann jedoch jeweils nur durch eine genaue Betrachtung der Umstände geschlossen werden:

„Ich sehe die Debatte mit großem Unbehagen, denn mit dem Etikett ‚Ehrenmord‘ wird auch eine Lust am Schaudern bedient. Im Moment werden in der Berliner Öffentlichkeit fünf Morde als Ehrenmorde gehandelt, davon sind vier Fälle, in denen ein Partner oder Expartner aus vielfältigsten Gründen seine Partnerin ermordet hat. Einmal spielte etwa eine Rolle, dass er nach der Scheidung abgeschoben wer-den sollte – da bauen also ganz andere Faktoren einen Druck auf als die ‚Ehre‘ der Familie.“

(Schiffauer 2005) Zur kontroversen Diskussion über ‚Zwangsehen‘ siehe auch die aktuelle Studie von Gülay Kizilocak/Martina Sauer (vgl. Kizilocak/Sauer 2007; Gaserow 2007a). Zur Position Necla Ke-leks in dieser Debatte siehe weiter unten in diesem Abschnitt. Das Thema ‚Zwangsehe‘ ist auch Be-standteil verschiedener emotionalisierter Berichte mit z.T. großen autobiografischen Anteilen, wie z.B.

Necla Keleks Die fremde Braut, Ich klage an von Ayaan Hirsi Ali und Große Reise ins Feuer von Seyran Ates, die ebenfalls kontrovers diskutiert werden.

einzige Symbol für die Entrechtung muslimischer Frauen zu sein schien, gerieten in den 2000er Jahren zwei weitere Phänomene in den Fokus der deutschen Öffentlichkeit: Der Mord an Hatun Sürücü am 7. Februar 2005, einer jungen Berlinerin türkischen Hinter-grunds, die mit ihrer Familie gebrochen und ihren Ehemann verlassen hatte, um mit ih-rem Sohn ein eigenständiges Leben zu führen, löste eine vehemente Debatte in Politik und Öffentlichkeit über Zwangsehen, Ehrenmorde, ‚Wertvorstellungen‘ von in Deutsch-land lebenden Menschen mit türkischem Migrationshintergrund sowie nach und nach auch über die gesellschaftlichen Umstände aus, die zu dem Mord geführt haben könn-ten. Nur wenige Wochen später fokussierte die Veröffentlichung der Sozialwissen-schaftlerin Necla Kelek mit dem Titel Die fremde Braut (vgl. Kelek 2005a) die Diskus-sionen über Geschlechterverhältnisse in der muslimischen Religionsgemeinschaft in Deutschland stark auf so genannte Zwangsehen. Bezeichnet der Begriff im engeren Sinne eine unter Androhung oder Anwendung von Gewalt, gegen den Willen von Braut oder/und Bräutigam durchgesetzte Ehe, so erfuhr er in der deutschen Debatte, u.a. auf-grund der Beiträge Necla Keleks eine weitere Definition, die eine Abgrenzung zur so genannten arrangierter Ehe kaum mehr erlaubte. Die im Frühjahr 2005 einsetzende De-batte zeichnete sich durch eine starke Emotionalisierung und Dramatisierung aus, die nur vor dem Hintergrund der sonstigen intensiven Debatten der 2000er Jahre um den Is-lam und MuslimInnen zu begreifen ist: Wie bereits zuvor ‚dem Kopftuch‘ wurde den Phänomenen ‚Zwangsehe‘ und ‚Ehrenmord‘ ein hoher symbolischer Wert zugeschrie-ben, anhand dessen ‚das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft‘ bzw. die ‚Proble-matik der Integration von MuslimInnen in Deutschland‘ ‚belegt‘ werden konnte (vgl.

z.B. Schiffauer 2005; Amirpur 2005).

Eine engagierte Vertreterin der Position, die die Integration von MuslimInnen als ge-scheitert erklärt und die Anerkennung dieser ‚Tatsache‘ vehement einfordert, ist die be-reits erwähnte Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek. Erstmals an die Öffentlichkeit ge-treten mit ihrer Dissertation, in der sie unter dem Titel Islam im Alltag die Bedeutung is-lamischer Religiosität für SchülerInnen und Schüler türkischer Herkunft in Deutschland untersuchte, veröffentlichte sie 2005 den bereits erwähnten Band Die fremde Braut.

Während sie in ihrem ersten Buch noch zu dem Schluss kam, ihre islamische Religiosi-tät stelle für die Befragten weniger ein Integrationshindernis als vielmehr ein gelebtes Beispiel kulturellen Wandels und ein Mittel zur Alltagsbewältigung dar, indem sie den Islam durch individuelle Aneignung und Anpassung an ihre Bedürfnisse und für ihre ei-gene Identitätsbildung nutzen, äußert sie in ihrem zweiten Buch zum Thema

Zwangs-hochzeit konträre Positionen: Sowohl türkische Traditionen als auch die islamische Re-ligiosität selbst könnten als ‚Integrationshindernisse‘ wirken, wie sie am Beispiel der von ihr interviewten türkischen Frauen zeigt. Diese würden ihrer Ansicht nach oft unter Zwang nach Deutschland gebracht und hier verheiratet und besäßen oftmals keinerlei Chancen für eine Einbindung in die deutsche Gesellschaft (vgl. Kelek 2005a). Aufgrund ihrer provokanten und direkten Äußerungen erregte Necla Kelek schnell Aufmerksam-keit in der deutschen ÖffentlichAufmerksam-keit und ist inzwischen eine gefragte Expertin zu Fragen des Islam in Deutschland.287 Ihre Positionen hinsichtlich ihrer Zielrichtung und Begrün-dung sowie ihre herausgehobene Stellung als durch autobiografische Erfahrungen legi-timierte Kritikerin des Islam ähneln stark denjenigen der niederländischen Islamkritike-rin Ayaan Hirsi Ali.

Die Art und Weise genauso wie die Intensität, mit der Necla Keleks Äußerungen öffent-liche Debatten in Deutschland polarisieren und emotionalisieren, können als symptoma-tisch für die diskursive Bearbeitung des Themas Islam in Deutschland in den 2000er Jahren verstanden werden. In den Reaktionen auf Keleks Veröffentlichungen, die insbe-sondere am Beispiel des kritischen offenen Briefes in der Wochenzeitung Die Zeit288 (vgl. Karakasoglu/Terkessidis 2006) und den diversen, verteidigenden Gegenstimmen erkennbar werden, mischen sich verschiedene Diskussionsstränge, deren VertreterInnen sich gegenseitig entweder der Ethnisierung gewalttätiger Übergriffe oder aber der reali-tätsfremden, kulturrelativistischen Leugnung von Gewaltphänomenen in migrantischen Communities insgesamt und vor allem der „realitätswidrige[n] Schönfärberei“ (Krauss 2006) bezichtigen: Necla Kelek zelebriert durch ihre provokant vorgetragenen Äuße-rungen den Tabubruch im Stil des ‚Neuen Realismus‘ (vgl. Prins 1997: 117ff.) und stili-siert sich ähnlich wie Ayaan Hirsi Ali in den Niederlanden als aufgeklärte Islamkritike-rin mit muslimischem Hintergrund. Die deutsche Mehrheitsbevölkerung spaltet sich vereinfachend gesagt auf in diejenigen VertreterInnen einer kontrollierenden, warnen-den, begrenzenden Haltung in Bezug auf Integration, die die Äußerungen Keleks als be-freiend, authentisch und emotional stark begreifen und sie oftmals als ‚Kronzeugin‘ ih-rer eigenen antimuslimischen Ressentiments vereinnahmen289, sowie diejenigen

287 Sie wirkt u.a. als Beraterin der Hamburger Justizbehörde für den Umgang mit türkischen Gefangenen sowie der baden-württembergischen Landesregierung für deren Gesetzesinitiative, Zwangsheiraten un-ter Strafe zu stellen.

288 Dieses bereits 2006 und damit außerhalb des eigentlichen Untersuchungszeitraumes gelegene Ereignis wird an dieser Stelle mit aufgenommen, da es den Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die Äuße-rungen Necla Keleks darstellt.

289 Dazu zählt z.B. Otto Schily (vgl. Schily 2005). Kelek erfuhr zudem insbesondere von konservativ aus-gerichteten Presseorganen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt etc.) Unterstützung (vgl. z.B.

terInnen multikultureller Auffassungen, die die Äußerungen Keleks in ihrer Aggressivi-tät und Stereotypie als islamophob und in der Konstruktion eines ‚wesenhaften Islam‘

als anschlussfähig an (rechts-)konservative Positionen und als rassistisch einschätzen (vgl. z.B. Zaptcioglu 2006; Amirpur 2005). Die so genannte ‚Kelek-Kontroverse‘ stellt den bisherigen Höhepunkt von Debatten um die proklamierte Unvereinbarkeit des Islam

als anschlussfähig an (rechts-)konservative Positionen und als rassistisch einschätzen (vgl. z.B. Zaptcioglu 2006; Amirpur 2005). Die so genannte ‚Kelek-Kontroverse‘ stellt den bisherigen Höhepunkt von Debatten um die proklamierte Unvereinbarkeit des Islam

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