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1V/Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen

Urteil des EVG vom 30. Juli 1984 i.Sa. E.G.

Art. 47 Abs. 1 AHVG, Art. 49 lVG, Art. 85 Abs. 2 lVV. Die eine frühere Verfügung berichtigende Wiedererwägung zieht grundsätzlich die Pflicht zur Rückerstattung der von der IV zu Unrecht bezogenen Lei-stung nach sich. Eine Ausnahme von dieser Regel greift dann Platz, wenn der zur Wiedererwägung führende Fehler bei der Beurteilung

eines spezifisch 1V-rechtlichen Gesichtspunktes unterlaufen ist (Er-wägung 2a; Präzisierung der Rechtsprechung).

Wenn der Fehler beim Umsetzen des (der Kasse formell richtig mitge-teilten) Beschlusses der 1V-Kommission in eine Rentenverfügung un-terlief, ist ein 1V-spezifischer Gesichtspunkt zu verneinen (Erwägung 2b).

Die zuständige 1V-Kommission beschloss am 26. Februar 1976, dem 1930 ge-borenen Versicherten gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 100 Prozent ab 1. Mai 1975 eine ganze, gemäss Art. 7 lVG um 30 Prozent gekürzte IV- Rente auszurichten. In der Folge sprach ihm die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 26. April 1976 eine ungekürzte Rente zu, weil sie die von der 1V-Kommission angeordnete Leistungskürzung übersehen hatte. Im Rahmen eines Revisions-verfahrens beschloss die 1V-Kommission am 22. Februar 1978, dem Versicher-ten die ganze, wegen Alkoholmissbrauchs um 30 Prozent gekürzte 1V-Rente weiter zu gewähren. Daraufhin teilte ihm die Ausgleichskasse am 2. März 1978 mit, die Rente werde wie bisher unverändert ausbezahlt, wobei sie die im Revi-sionsbeschluss der 1V-Kommission festgehaltene Rentenkürzung wiederum

übersah. Erst als im Rahmen eines weiteren Revisionsverfahrens die IV-Kom-mission mit Beschluss vom 25. Juni 1981 die Kürzung von 30 Prozent wegen Alkoholabusus wiederholte, bemerkte die Ausgleichskasse ihr Versehen und verfügte am 18. August 1981 die rückwirkende Kürzung der Rente ab 1. Au-gust 1976; ausserdem forderte sie die in der Zeit vom 1. AuAu-gust 1976 bis 31. Juli 1981 zuviel ausbezahlten Rentenbetreffnisse von insgesamt 16 243 Franken zurück (Verfügung vom 17. August 1981).

Beschwerdeweise liess der Versicherte beantragen, die Kassenverfügung vom 18. August 1981 sei aufzuheben und es sei ihm eine ungekürzte 1V-Rente aus-zurichten; zudem sei die Rückerstattungsverfügung vom 17. August 1981 auf-zuheben. Der kantonale Richter hiess die Beschwerde gegen die Verfügung vom 18. August 1981 in dem Sinne gut, dass die Verwaltung verpflichtet wurde, die ungekürzte 1V-Rente auch für den Monat August 1981 auszuzah-len, und dass die Sache hinsichtlich der Rentenkürzung ab 1. September 1981 zur erneuten Abklärung im Sinne der Erwägungen an die Verwaltung zurück-gewiesen wurde. Sodann hob er die Rückerstattungsverfügung vom 17. Au-gust 1981 in Gutheissung der Beschwerde ersatzlos auf (Entscheid vom 21. Juni 1982).

Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides, soweit die Rückerstattungsver-fügung aufgehoben wurde; ferner sei festzustellen, dass für den Monat August 1981 nur eine gekürzte Rente auszurichten ist. Der Versicherte lässt beantra-gen, der vorinstanzliche Entscheid sei vollumfänglich zu bestätigen. Das BSV schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Sinne, dass die Sache zur Prüfung der Rentenkürzung für die vor dem 1. September 1981 liegende Zeitspanne an das erstinstanzliche Gericht zurückgewiesen werde.

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Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Ausgleichskasse wird vom EVG hin-sichtlich der Rente für August 1981 abgewiesen (s. Erw. 4), im übrigen aber mit folgender Begründung gutgeheissen:

2. Vorerst stellt sich die Frage, ob im vorliegenden Fall die Aufhebung der Lstungen bzw. deren Kürzung überhaupt rückwirkend erfolgen und damit zu ei-ner Rückerstattungsforderung führen kann.

a. Die Aufhebung einer 1V-Rente bzw. deren Kürzung im Rahmen einer Wie-dererwägung kann nach der bisherigen Rechtsprechung nur dann rückwir-kend erfolgen und die Rückerstattung gemäss Art. 47 Abs. 1 AHVG in Verbin-dung mit Art. 49 IVG nach sich ziehen, wenn der zur Wiedererwägung füh-rende Fehler einen AHV-analogen Gesichtspunkt (z.B. Versicherteneigen-schaft, massgebendes durchschnittliches Jahreseinkommen, anwendbare Rentenskala) betrifft. Demgegenüber ist die Wiedererwägung gemäss Art. 85 Abs. 2 IVV nur für die Zukunft wirksam, wenn die Verwaltung bei Erlass der ur-sprünglichen Verfügung einen spezifisch 1V-rechtlichen Gesichtspunkt (z.B.

die Bemessung des Invaliditätsgrades) falsch beurteilte. Es ist in jedem einzel-nen Fall zu prüfen, «ob der Fehler, der zur Wiedererwägung einer früheren Ver-fügung führt, einen AHV-analogen oder einen spezifisch 1V-rechtlichen Faktor betrifft>) (BGE 105V 172, ZAK 1980 S. 129 Erw. 6a; BGE 105 V 175, ZAK 1980, S. 274; BGE 107V37,ZAK 1981 S. 549).

Diese Formulierung hat wegen der Unbestimmtheit des Ausdrucks «betrifft»

gelegentlich zu Missverständnissen geführt (vgl. z.B. ZAK 1981 S. 552 Erw.

2c). Auch im vorliegenden Fall, in welchem die Ausgleichskasse in ihren Ver-fügungen vom 26. April 1976 und 2. März 1978 die von der 1V-Kommission angeordnete Kürzung der 1V-Rente wegen Alkoholmissbrauchs ausser acht liess, ging die Vorinstanz davon aus, bei der Rentenkürzung wegen Selbstver-schuldens nach Art. 7 IVG handle es sich um einen spezifisch 1V-rechtlichen Gesichtspunkt und der Fehler der Ausgleichskasse «betreffe» mithin einen sol-chen Faktor. Dabei stellt sich aber im Zusammenhang mit der Prüfung der all-fälligen Rückerstattungsforderung die Frage, ob die Verwaltung den Fehlerbei der Beurteilung eines AHV-analogen oder 1V-spezifischen Faktors beging bzw. worauf sich der Fehler bezieht. Es erscheint daher angezeigt, das Abgren-zungskriterium neu zu umschreiben und die bisherige Rechtsprechung in dem Sinne zu präzisieren, dass die eine frühere Verfügung berichtigende Wiederer-wägung grundsätzlich die Pflicht zur Rückerstattung der von der IV zu Unrecht bezogenen Leistung nach sich zieht (Art. 47 Abs. 1 AHVG i.V.m. Art. 49 IVG) und dass eine Ausnahme von dieser Regel dann Platz greift, wenn der zur Wie-dererwägung führende Fehler bei der Beurteilung eines spezifisch 1V-recht-lichen Gesichtspunktes unterlaufen ist (vgl. Art. 85 Abs. 2 IVV). Unerheblich ist, welche Verwaltungsbehörde (Ausgleichskasse oder 1V-Kommission) den Fehler begangen hat; entscheidend ist allein die materielle Seite des Fehlers (BGE 1O7V36, ZAK 1981 S.549).

b. Kein 1V-spezifischer Sachverhalt wurde angenommen, als eine 1V-Kommis-sion in der Mitteilung ihres Beschlusses an die Ausgleichskasse versehentlich einen Invaliditätsgrad von 100 statt 50 Prozent eintrug und die Kasse in der Folge eine ganze statt eine halbe IV-Rente zusprach; desgleichen als die Mit-teilung des Beschlusses der 1V-Kommission zwar den zutreffenden Invalidi-tätsgrad von 50 Prozent wiedergab, die Kasse aber irrtümlicherweise eine ganze Rente gewährte. Mit der Beschwerdeführerin ist (entgegen ZAK 1981 S. 552 Erw. 2c) ein 1V-spezifischer Gesichtspunkt auch im vorliegenden Fall zu verneinen, in welchem der zur Wiedererwägung führende Fehler beim Um-setzen des—der Kasse richtig mitgeteilten - Beschlusses der 1V-Kommission in eine Rentenverfügung unterlief und nicht bei der Beurteilung der 1V-spezifi-schen Frage nach der Rentenkürzung gemäss Art. 7 IVG. Die Rückwirkung der Wiedererwagungsverfügung richtet sich daher nach dem in Art. 47 AHVG / Art. 49 IVG enthaltenen Grundsatz und nicht nach der Ausnahmebestimmung von Art. 85 Abs. 2 IVV. Die von der Beschwerdeführerin rückwirkend vorge-nommene Kürzung und die verfügte Rückerstattung der zuviel bezogenen Rentenbetreffnisse erweisen sich mithin als rechtmässig, weshalb der vorm-stanzliche Entscheid insoweit aufzuheben ist.

3. Da der kantonale Richter einen spezifisch 1V-rechtlichen Sachverhalt an-nahm und folglich die Rückerstattungspflicht des Beschwerdegegners ver-neinte, brauchte er nicht zu prüfen, ob die Zusprechung einer ungekürzten 1V-Rente gemäss Verfügung vom 26. April 1976 auch materiell zweifellos un-richtig war. Er ging zwar davon aus, dass mindestens anfänglich eine Renten-kürzung zweifellos angebracht war. Die Akten liessen jedoch nach seiner Auf-fassung eine Oberprüfung weder der Angemessenheit des angewandten Kür-zungssatzes anhand der massgebenden, die Invalidität bewirkenden Faktoren (Alkoholismus, zusätzlicher Gesundheitsschaden) noch der Dauer der Kür-zung zu, weshalb die Sache zur Neufestlegung des KürKür-zungsmasses an die Verwaltung zurückgewiesen wurde, allerdings mit Wirkung erst ab September 1981. Damit kann es aber in zeitlicher Hinsicht nach dem in Erw. 2 Gesagten nicht sein Bewenden haben. Vielmehr hat die Verwaltung, allenfalls durch nä-here Abklärung des Sachverhaltes, als Vorfrage zu prüfen, ob die ursprüngliche Verfügung vom 26. April 1976, mit welcher dem Beschwerdegegner eine un-gekürzte Rente gewährt wurde, materiell zweifellos unrichtig und ob insofern die Voraussetzung zur Wiedererwägung (BGE 109 V 112, ZAK 1983 S. 401;

BGE 109V 121, ZAK 1984 S.37; BGE 107V85,ZAK 1982 S.87; BGE 107V 182; BGE 107V 192, ZAK 1982 S. 320; BGE 106V 87, ZAK 1980S. 594; BGE 105 V 30, ZAK 1980 S. 62) erfüllt war. Hinsichtlich des anwendbaren Kür-zungssatzes wird sie zu bestimmen haben, in welchem Ausmass ein zusätz-licher Gesundheitsschaden neben dem Alkoholmissbrauch an der Invalidität beteiligt ist und in welchem masslichen und zeitlichen Verhältnis die Faktoren, welche die Invalidität bewirken, zueinander stehen (BGE 104V 2, ZAK 1978 S.417 Erw. 2b; BGE 97V 230, ZAK 1973 S. 47 Erw. lc). Vom Ergebnis der diesbezüglichen Abklärungen wird abhangen, ob und in welcher Höhe der Be- 407

schwerdefü hrerin ein Rückforderungsanspruch gegenüber dem Beschwerde-gegner zusteht.

Ergibt eine Oberprüfung der Anspruchsberechtigung, dass eine Leistung revisionsweise herabgesetzt oder aufgehoben werden muss, so ist die Ände-rung nach Art. 88 bis Abs. 2 Bst. a IVV in der hier anwendbaren, bis Ende 1982 geltenden Fassung von dem der neuen Verfügung folgenden Monat an vorzu-nehmen. Da die neue Verfügung vom 18. August 1981 datiert, hatte die Be-schwerdeführerin die 1V-Rente für den Monat August 1981 noch ungekürzt auszurichten, wie die Vorinstanz zu Recht feststellt. Die Verwaltungsgerichts-beschwerde ist daher in diesem Punkt abzuweisen.

Entsprechend dem Ausgang des erstinstanzlichen Verfahrens wurde die Frage des Erlasses, worum der Beschwerdegegner in einem Eventualantrag er-suchte, gegenstandslos. Sie wird sich aber stellen, falls sich die Rentenkürzung wegen Alkoholmissbrauchs aufgrund der weiteren Abklärungen als gerecht-fertigt erweist und der Beschwerdegegner folglich rückerstattungspflichtig wird. Die Verwaltung hat nach Durchführung der ergänzenden Abklärungen und je nach deren Ergebnis auch noch über den Erlass zu befinden.