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4. Theorie des (Schrift-)Spracherwerbs und der Lese-

4.4 Lese-Rechtschreibstörung (LRS)

4.4.5 Ursachen der LRS

Lange Zeit wurden zwei unterschiedliche Positionen der Entstehung der LRS diskutiert: die eine geht eher von psychogenen und soziokulturellen Faktoren aus, die andere im Wesentli-chen von somatoformen. Die psychogenen Faktoren scheinen nach dem heutigen Kenntnis-stand jedoch eine eher geringere Bedeutung zu spielen (Warnke und Roth 2000, Schulte-Körne 2001). Genetische Faktoren haben durch moderne Forschungsmethoden an Bedeutung gewonnen (Schulte-Körne 2009, 2010). LRS scheint eine heterogene Störung darzustellen (Remschmidt et al. 1998). Vieles im Bereich der Ursachenforschung ist noch strittig.

Eichler (2004) unterschied in diesem Zusammenhang vier Forschungsparadigmen:

 das neuro(psycho/bio)logische Paradigma der Lernstörung und Teilleistungsschwäche, dass vor allem im Ausland und in Deutschland unter den Kinder- und Jugendpsychia-tern und pädagogischen Psychologen z. B. von den Forschungsteams um Schulte-Körne (2002) und Warnke et al. (2004) Anerkennung findet

 das pädagogisch-psychologische Paradigma, dass vor allem von Grundschulpädago-gInnen wie z. B. Bergk (2000), Scheerer-Naumann (2004) und Valtin (2004) getragen wird

 das psycholinguistische, das vor allem in der Schriftspracherwerbsforschung erfolg-reich ist und durch Sprachwissenschaftler wie Eichler und Thomé repräsentiert wird

 das sozialpsychologische, das vor allem von der Schule um Betz und Breuniger (1990) vertreten wird.

Die Ansichten und Meinungen der Vertreter der unterschiedlichen Richtungen unterscheiden sich erheblich. Von Vertretern, die dem neuropsychobiologischen Paradigma folgen, wird die phonologische Bewusstheit als eine der wichtigsten Vorläuferfähigkeiten des Schriftsprach-erwerbs gesehen. Lange Zeit wurde die Förderung derselben ganz in den Vordergrund ge-stellt. In letzter Zeit werden aber zunehmend auch ihre Grenzen benannt. Diese Studie be-schäftigt sich mit einem Programm zur Verbesserung des Schriftspracherwerbs durch Förde-rung der phonologischen Bewusstheit (Kapitel 4.2.). Daher setzt sich diese Arbeit vorrangig mit dem ersten Forschungsparadigma auseinander, die übrigen werden nach Bedarf in die Überlegungen einbezogen.

Als Ursache der LRS nimmt man eine Lernstörung an, die durch biologisch begründete Be-sonderheiten der Informationsverarbeitung im Gehirn bedingt zu sein scheint. Eine gesicherte Ursache ist letztlich noch unbekannt. Sie scheint auf jeden Fall genetisch mitbedingt zu sein.

Auch die Lernanforderungen im Schriftsprachbereich, z. B. die Qualität des Unterrichts und der Umgang mit Sprache und Schriftsprache im Elternhaus, scheinen eine Rolle zu spielen.

Die Störungen der Informationsverarbeitung im Gehirn lassen sich im Wesentlichen in zwei Systeme einordnen: in Störungen des visuellen und des auditiven Informationsverarbeitungs-system (Blanz 2002, Schulte-Körne 2001; siehe hierzu auch Abbildung 4.2). Es kann auch eine Kombination der beiden Systeme gefunden werden (Rosenkötter 2003).

Abbildung 4.2: Vereinfachtes Ursachenmodell zur LRS nach Schulte-Körne (2001) Störungen der visuellen

Wahrnehmung

Genetische Disposition

Störungen des Lesens und des Rechtschreibens

Störungen der auditiven Wahrnehmung

Die Prävalenz der auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen liegt bei Kin-dern bei 2-3 %, bis zu 20 % aller älteren Erwachsenen sind betroffen19. Es gibt eine Reihe von Test- und Therapieverfahren, die weder im angloamerikanischen noch deutschen Sprachraum einheitlich sind. Nach Ptok (2001) scheint bei Lese-Rechtschreibstörungen die Zuordnung unterschiedlicher Lautvarianzen zu Phonemen gestört zu sein. Die bewusste Lautanalyse ist eingeschränkt und dadurch die Codierung der gehörten Laute in geschriebene Buchstaben nicht möglich. Dieses Defizit kann sich durch einen geringeren Wortschatz, weniger gut be-herrschte Grammatik, geringere Gedächtnisleistung bei sprachlichem Lernstoff und Schwä-chen im phonologisSchwä-chen Recodieren20 und bei der phonologischen Bewusstheit (Kapitel 4.2.) der Betroffenen zeigen.

Die Bedeutung der visuellen Wahrnehmungsstörungen ist im Vergleich zur auditiven Wahrnehmung eher geringer einzuschätzen (Schulte-Körne 2004, Warnke et al. 2004). Trotz-dem trägt sie zur Vielfalt der Ursachen der LRS bei. Sie äußern sich in ganz unterschiedlicher Weise21.

Dem gegenüber sind, wie zuvor bereits ausgeführt, Probleme in der phonologischen Verar-beitung schwerwiegend (siehe auch Kapitel 4.2.2.). Es kommt zu einer Störung des schnellen Zugriffs auf phonologische Information im mentalen Lexikon und des phonetischen Rekodierens im Arbeitsgedächtnis so wie einer eingeschränkten sprachlichen Merkfähigkeit.

Zusammengefasst bedeutet das eine spezifische Gedächtnisschwäche für schriftsprachliches Material (Schulte- Körne 2001, 2004).

Auf der molekularen Ebene finden sich zu oben beschriebenen Phänomenen die folgenden Korrelate. Neuroanatomisch und histologisch (in Anlehnung an Warnke et al. 2004) fand die Arbeitsgruppe um Galaburda (1985) Veränderungen der linkshemisphärischen Area 39 (Gyrus angularis und supramarginalis), dem Sitz des Lese-Rechtschreibzentrums. Hier

19 Man findet Störungen der Sprachwahrnehmung und der phonologischen Bewusstheit, verminderte Diffe-renzierungsfähigkeit von Stoppkonsonanten (b/p; b/d) und Lautfolgen und Störung der Wahrnehmung von schnell aufeinander folgenden akustischen Reizen (Schulte-Körne 2001, 2002, Warnke 2003, Warnke et al.

2004).

20 Verlangsamung beim Benennen von Buchstaben, Worten, Farben, Gegenständen, Zahlen

21 Sie äußern sich in Störungen der Wahrnehmung von Bewegung und Reizen mit niedrigem Kontrast, der verlangsamten Weiterleitung visueller Stimuli, Schwierigkeiten bei gleich lautenden Worten orthographi-sche Merkmale visuell zu unterorthographi-scheiden (sein/sain) (Eden et al. 1996, Schulte-Körne 2002), Störungen des orthographischen Wissens und Gedächtnisspeichers (Landerl 2001), der morphologischen Speicherung, der Übersetzung von Graphemfolgen in Phonemfolgen, im Zugriff auf "Wortbilder", Störungen des "morpho-logischen Gedächtnisses" (Nichtwortlesen) (Warnke et al. 2004) und Verlangsamung der orthographischen Codierung (Reaktionszeit bei einfachen Lichtreizen und visueller Vorgabe von Zahlen oder Buchstaben) (Warnke 1990).

den visuelle Informationen mit lautsprachlich wahrgenommenen Informationen verknüpft (Silbernagl und Lang 1998). Außer den oben genannten finden sich "ein Netzwerk von Ge-hirnarealen" (Schulte-Körne 2009, S.131), die eine entscheidende Rolle beim Lesen und Schreiben zu spielen scheinen und bei Untersuchungen mittels eines Positronen-Emmisions-Tomographen andere Untersuchungsmuster bei "gesunden" Probanden als bei Personen mit LRS zeigten (Rumsey und Horwitz 2001). Auch für einen Zusammenhang zwischen LRS und der phonologischen Bewusstheit, finden sich in Untersuchungen neuroanatomische und hirn-elektrische Korrelate (Blanz 2002, Schulte-Körne 2001, Warnke 2003). Diese Befunde müs-sen teilweise noch bestätigt werden.

Neurophysiologisch (in Anlehnung an Warnke et al. 2004) lassen sich bei Personen mit LRS vor allem eine Verlangsamung der visuellen (Eden et al. 1996, Galaburda und Livingstone 1993, Häfele und Häfele 2010, Warnke 1990,) und eine Beeinträchtigung der sprachlichen Informationsverarbeitung (Schulte-Körne 2001, 2002, von Suchodoletz 1999, Warnke 1990) im Bereich des Stoffwechsels und der hirnelektrischen Aktivitäten mittels Bild gebender Ver-fahren wie z. B. der Kernspintomographie und der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) nachweisen. Diese Erkenntnisse unterstützen die neurobiologischen Erklärungsansätze der LRS ganz entscheidend, können aber derzeit nur als vorläufig betrachtet werden, da sie noch nicht eindeutig interpretierbar sind.

Mittels Familien- und Zwillingsstudien konnte eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass genetische Faktoren bei manchen Formen von LRS eine ausschlaggebende Rolle spielen, nachgewiesen werden (Schulte-Körne 2004, 2010, Warnke et al. 2004). Hinweise darauf finden sich schon Anfang des vorherigen Jahrhunderts (Fischer 1905, Hinshelwood 1907; beide zitiert nach Warnke et al. 2004). Aus molekulargenetischen Untersuchungen der neueren Zeit weiß man, dass es kein "Legasthenie-Gen" gibt. Es scheint verschiedene Genlokalisationen zu geben, die mitverantwortlich für die Entstehung einer Lese-Rechtschreibstörung sind. Auch scheinen für unterschiedliche Sprachen unterschiedliche genetische Zusammenhänge zu gelten. In Deutschland werden zur Zeit Genlokalisationen der Chromosomen 1, 2, 3, 6, 15 und 18 ver-antwortlich gemacht (Grimm und Warnke 2002, Pennington 1999, Schulte-Körne 2002, 2004, Warnke et al. 2004).