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4. Theorie des (Schrift-)Spracherwerbs und der Lese-

4.1 Erstspracherwerb

Der Schriftspracherwerb ist eng an den Erstspracherwerb, d. h. den Erwerb der Muttersprache gebunden. Ein gestörter Erstspracherwerb erschwert das Erlernen einer regelgetreuen Schrift-sprache. Diese Annahme wird durch den vier- bis fünffach höheren Anteil der Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen (LRS) in den Sprachheilschulen13 als in den Regelschulen unter-stützt (Becker et al. 1985 nach Sassenroth 2003).

Deshalb muss man sich zuallererst mit dem regulären Spracherwerb beschäftigen, will man im Bereich des Schriftspracherwerbs forschen. Spracherwerb ist schwierig und anstrengend, auch wenn es den Anschein hat, als würden ihn kleine Kinder wie von selber nebenbei erler-nen. Er spielt sich in einem definierten Zeitraum ab. Vor diesem individuell unterschiedlichen Zeitpunkt ist die Gehirnreifung noch nicht weit genug fortgeschritten, danach scheint das Ge-hirn die Fähigkeit zur Ausbildung der für die Beherrschung der Muttersprache relevanten Strukturen zu verlieren. Ein regelrechter Erstspracherwerb scheint nur bis zum sechsten Le-bensjahr sichergestellt zu sein (Dittmann 2002).

4.1.1 Der Aufbau der menschlichen Sprache

Die menschliche Sprache ist eine Lautsprache. Die Informationsvermittlung erfolgt durch Schallereignisse. Sie unterteilt sich in kleinste bedeutungsunterscheidende Lauteinheiten, die Phoneme, die sich in Vokale und Konsonanten unterteilen. Darüber hinaus gliedert sie sich in kleinste bedeutungstragende Einheiten, die Morpheme. Diese gliedern sich in zwei Gruppen:

1) die lexikalischen Morpheme, die bereits für sich Wörter darstellen (z. B. Maus, Frau) und dadurch den Wortschatz der Sprache bilden und 2) grammatische Morpheme (z. B. ver, ge).

Durch die Kombination dieser beiden Morphemgruppen kommt es zu fast unbegrenztem Ausdrucksreichtum der Sprache. Zum korrekten Sprachgebrauch müssen Kinder außerdem lautlich-klangliche Eigenschaften (Prosodie), die Regeln (Syntax) und die Grammatik einer Sprache, die aus Syntax und grammatikalischen Morphemen gebildet wird und

13 Förderschulen für Kinder mit einem gestörten Erstspracherwerb

ve Fähigkeiten, wie z. B. Gesprächsführung, verschiedene Textsorten etc. erlernen. Zum Pro-duzieren und Verstehen von Sätzen ist es nicht ausreichend, wenn das Kind nur Wortfolgen lernt. Es muss auch die syntaktischen Regeln verinnerlichen. Wie es das konkret im Einzelnen tut, ist bisher noch nicht vollständig erforscht (Dittmann 2002).

Schallereignis:

bedeutungsunterscheidende Phoneme: Vokal ↔ Konsonant bedeutungstragende Morpheme: lexikalisch ↔ grammatisch

z. B. Frau, Maus ↔ z. B. ver, ge übergeordnete Strukturen:

lautlich-klangliche Eigenschaften (Prosodie) Regeln (Syntax)

Regeln in Kombination mit grammatikalischen Morphemen (Grammatik) kommunikative Fähigkeiten (z. B. Gesprächsführung etc.)

Abbildung 4.1: Aufbau der menschlichen Sprache

4.1.2 Voraussetzungen zum Erstspracherwerb

Das Kind braucht zum Erlernen der Sprache einen "Input", die Ansprache durch andere, z. B. die Bezugspersonen. Dies geschieht laut Szagun (2000) in Form von der an das Kind gerichteten Sprache (KGS). Im Einzelnen handelt es sich um die Ammensprache, die im ers-ten Lebensjahr des Kindes in unserem Kulturkreis automatisch von den Erwachsenen benutzt wird, die in Beziehung zu dem Säugling treten. Sie ist eine Sprache, die sich durch hohe Ton-lage, deutliches Sprechen, Sprechpausen, Betonung wichtiger Wörter, Wiederholungen und eine Vermeidung komplizierter Sätze auszeichnet. Sie ermöglicht die erste Kommunikation zwischen Kind und Bezugsperson. An die Ammensprache schließt die für die Wortschatzent-wicklung wichtige stützende Sprache an. Sie gibt, z. B. beim gemeinsamen Betrachten eines Bilderbuches, einfache Dialogstrukturen vor. Abschließend benutzen die Bezugspersonen die für die Grammatikentwicklung wichtige lehrende Sprache. Sie hilft durch Imitation bei der Wortformentwicklung. Kinder sind normalerweise mit einem hervorragenden phonologischen

Arbeitsgedächtnis14 ausgestattet. Dadurch sind sie in der Lage ein mentales Lexikon15 einzu-richten. Sie erwerben einen "mentalen Werkzeugkasten", mit dem sie neue Wörter bilden, Wortneubildungen verstehen, neue Wortformen effizient verarbeiten und schon nach wenigen Wiederholungen dauerhaft speichern können (Dittmann 2002).

Bereits das ungeborene Kind ist anatomisch in der Lage, Schallereignisse wahrzunehmen.

Nach der Geburt äußert das Kind in zunehmendem Maße eigene Laute. Der Säugling muss die Bedeutung von bestimmten Lautfolgen, den Morphemen und Wörtern, erkennen lernen, z. B. die Lautfolge des Wortes "Nein". Um diese erkennen zu können, muss er strukturierte Erfahrungen mit der Umwelt gemacht haben. Der Säugling unternimmt z. B. bei dem Wort

"Nein" etwas, dass die Bezugsperson nicht schätzt. Diesen Zusammenhang muss er erkennen.

Um die Zuordnung richtig treffen zu können, muss er Begriffe und Kategorien entwickeln, Wortformen der Sprache isolieren und potenzielle Wortbedeutungen aufbauen. Darüber hin-aus muss er schon früh komplexe Absichten der Bezugsperson erkennen. Er muss die Fähig-keit besitzen, innere Zustände, also Annahmen, Bedürfnisse, Gefühle und Absichten seinem Gegenüber zuzuschreiben. Er muss eine "Theorie des Geistes" besitzen. Dies ist nach Sodian (1998) bereits mit einem Jahr der Fall. Die frühen Wortbedeutungen, hervorgegangen aus der Kommunikation und Interaktion mit der Bezugsperson, sind jedoch höchst instabil, sie ma-chen einen ständigen "Bedeutungswandel" durch (Dittmann 2002).

4.1.3 "Spracherwerb" bis zu den ersten Wörtern

Im ersten und zweiten Lebensmonat finden wir als lautliche Äußerung des Kindes den mehr oder weniger differenzierten Schrei. Es können bereits akustische Kontraste, die zu der Diffe-renzierung der Phoneme benötigt werden, unterschieden werden. Im zweiten Monat bilden die Säuglinge zusätzlich zum Schrei zunehmend sog. Gurrlaute. Bis zum dritten Monat können die Babys differenzierte Laute unterscheiden. Sie lernen das Klangbild zu unterscheiden, das in ihrer Umgebung gesprochen wird (Schäfer 2004).

Vom vierten bis achten Lebensmonat spielt das Kind mit der Stimme. Es intoniert bereits na-sale und orale Laute. Dieses Stadium der Sprachentwicklung nennt man Babbel- oder Lall-stadium. Glucksen, Babbeln und Lallen sind international (Schäfer 2004). Ab etwa dem

14 phonologisches Arbeitsgedächtnis: Zellen des Gehirns, durch die sprachliche Information während der Verarbeitung präsent gehalten (gespeichert) wird

15 mentales Lexikon: Oberbegriff für die Art und Weise, wie das Gehirn Vokabeln und die Bedeutung der einzelnen Wörter organisiert und strukturiert

ten Lebensmonat werden Silben wiederholt (repetitives oder kanonisches Babbeln). Der Grundstein der Beherrschung der prosodischen Strukturen der Sprache wird gelegt. Ab dem sechsten Monat entwickelt das Kind elementare Einsichten in kausale Zusammenhänge, es kommuniziert mit seiner Mutter (Weissenborn 2000).

Vom achten bis zehnten Lebensmonat verändert sich die breit angelegte hin zu einer mutter-sprachlich orientierten Lautwahrnehmung. Die Sprachäußerungen finden nun in Form von buntem Babbeln bereits mit längeren Äußerungen mit Intonation der Muttersprache statt.

Das Baby stellt sich auf die Betonungsmuster der jeweiligen Muttersprache ein (Schäfer 2004).

Im neunten Monat kommuniziert das Kind im Jargon, längeren unverständlichen Äußerun-gen im expressiven Stil, die die AnforderunÄußerun-gen des Sprecherwechsels im Dialog bereits erfül-len. Es benutzt Protowörter, die nicht im Lexikon der Erwachsenen vorkommen, aber bereits eine Bedeutung haben und als Vorläufer der ersten Wörter zu sehen sind (z. B. aia, ada ada, brmbrm etc.). Kommunikation geschieht jetzt um der Kommunikation selbst willen. Das Kind kann Personengruppen (Männer, Frauen, Babys) unterscheiden und Kausalbeziehungen er-kennen. Es weiß um den Symbolcharakter von Gegenständen (Baustein stellt ein Auto dar), d.

h. es kennt erste komplexe "Begriffe". Wie die Bedeutung des Gesprochenen erlernt wird, ist noch nicht hinreichend erforscht. Wir wissen aber, dass sie nur eingebunden in soziale Situa-tionen erworben werden kann. Wörter kommen nicht isoliert vor, sondern stehen immer in einem erfahrbaren Zusammenhang. Am Ende des zehnten Lebensmonats ist der frühestmögli-che Zeitpunkt für die Bildung erster Wörter (Dittmann 2002, Schäfer 2004).

4.1.4 Erwerb von Ein- bis Mehrwortäußerungen

Nach dem ersten Geburtstag beginnt das Kind Laute von sich zu geben, die für sein Volk cha-rakteristisch sind (Schäfer 2004). Es kommt jetzt üblicherweise zu den ersten Lautfolgen in bedeutungstragender Funktion, zu der Bildung der ersten Wörter. Hierbei handelt es sich in den meisten Fällen um Wörter wie Mama, Papa, Ba (Buch), Baby, Ball etc. Diese Äußerun-gen nennt man "EinwortäußerunÄußerun-gen". Das Kind steuert mit vorsprachlichen Mitteln (z. B.

Zeigegeste) den Dialog selber und benötigt zum weiteren Spracherwerb nun von Seiten der Bezugsperson die sog. stützende Sprache. Nach einem weiteren Monat versteht es etwa 50 Wörter (Kauschke 2000), selber äußern kann es sie mit etwa eineinhalb Jahren. Nach Errei-chen der 50-Wort-Grenze kommt es zur massiven Aneignung von Wörtern, dem sog.

Voka-belspurt. Die Kinder erkennen, dass alle Dinge ihrer Umgebung Namen haben (Benenneinsicht). Mütter, die mit ihren Kindern häufig Benennspiele spielen, fördern daher den Wortschatzaufbau. Das Kind eignet sich zunehmend die Prosodie der Muttersprache an.

Um den zweiten Geburtstag herum kommt es in der Regel zu Zweiwortäußerungen. Die Kinder haben nun schon ein beträchtliches grammatikalisches Wissen (Verben, Verbflexion, Eigenschaften, korrekte Pluralformen, korrekte Artikel, angemessene Pronomina). Sie bilden aber noch keine grammatikalisch korrekten Sätze. Es fehlen noch wichtige grammatikalische Strukturen. In diesem Alter bildet das Kind erste Wortkombinationen. Mit ein dreiviertel Jahr sollten die ersten Wortäußerungen erfolgt, mit ca. zwei Jahren die 50-Wörter-Schwelle erreicht sein.

Anfang des dritten Lebensjahres beträgt der aktive Wortschatz eines Kindes 200 bis 300 Wörter. Es kommt zu Drei- und Mehrwortäußerungen. Das Kind beginnt mit dem Erwerb der Kasusformen und zwar in folgender Reihenfolge: Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv.

Mit ca. zweieinhalb Jahren hat das Kind einen Wortschatz von etwa 500 Wörtern. Es ver-wendet erste Verbtempusformen neben dem Präsens (Dittmann 2002).

4.1.5 Weitere Sprachentwicklung

Mit drei Jahren hat ein Kind schon ein höchst differenziertes Vokabular für den Ausdruck von innerpsychischen Prozessen. Es beginnt mit der Bildung von Neben-und Passivsätzen.

Mit etwa dreieinhalb Jahren kommt es zum Erwerb der Adjektivdeklination.

Mit vier Jahren sind die meisten Flexionsformen erworben. Die Kinder beherrschen die wichtigsten syntaktischen Prinzipien (Peltzer-Karpf 1994). Vor dem fünften Geburtstag be-herrscht das Kind weitgehend die Grammatik seiner Sprache.

Mit fünf Jahren ist der Erwerb der Kasusformen weitgehend abgeschlossen. Als letztes folgt nun der Erwerb der irrealen Konditionalsätze und zunehmende Reflexion sprachlicher Vor-gänge. Kinder im Vorschulalter beginnen vom Inhalt des Gesprochenen zu abstrahieren und entwickeln eine Wortbewusstheit, d.h. sie erwerben die Fähigkeit, Wörter als Grundeinheit der Sprache zu erkennen. Sie lernen, Sätze richtig zu bilden (syntaktische Bewusstheit) und erwerben die Fähigkeit, auf die Verständlichkeit einer Mitteilung und die Struktur des gesam-ten Textes zu achgesam-ten (pragmatische Bewusstheit) (Klicpera et al. 2010).

Mit sechs Jahren ist der Spracherwerb im Wesentlichen abgeschlossen. Das Kind besitzt nun einen aktiven Wortschatz von etwa 5000 Wörtern (die deutsche Standardsprache besteht aus etwa 100 000 Wörtern).

Wie es zum korrekten Erwerb der Grammatik der Muttersprache (bei oft mangelhaftem Input) kommen kann, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Ungeklärt ist auch noch, wie es zu dem dargestellten schnellen Anwachsen des Vokabulars des Kindes kommt. Sicher ist, dass die Wortschatzentwicklung durch die Motivation und das Interesse des Kindes und durch den spezifischen sprachlichen Input bestimmt wird. Sie nimmt Einfluss auf die kognitive Entwick-lung des Kindes (Gopnik und Choi 1995) und hält ein Leben lang an.