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4. Theorie des (Schrift-)Spracherwerbs und der Lese-

4.3 Schriftspracherwerb

Nachdem das Kind in den ersten fünf Lebensjahren die Regeln der Erstsprache weitgehend erlernt und die phonologische Bewusstheit ausgebildet hat (Dittmann 2002), folgt in den meisten Staaten der Welt der Schriftspracherwerb, d. h. das Erlernen des Lesens und Recht-schreibens. Der Schriftspracherwerb ist Forschungsgegenstand vieler wissenschaftlicher

Dis-ziplinen, wie z. B. der Medizin, Psychologie, Neuropsychologie, Pädagogik, Linguistik, Ger-manistik, Logopädie und vieler anderer Richtungen (Klicpera et al. 2010, Zollinger 1987). Es finden sich unterschiedliche wissenschaftliche Meinungen und Einsichten, wie Kinder sich das Schreiben und Lesen aneignen. Dass der Schriftspracherwerb schon vor der Einschulung beginnt und wichtige Vorläuferfähigkeiten, wie z. B. die phonologische Bewusstheit (Kapitel 4.2.) bereits im Vorschulalter erworben werden, ist jedoch Konsens in der Wissenschaft.

Wie bereits bei der Beschreibung der phonologischen Bewusstheit (Kapitel 4.2.) erwähnt, muss man, um den Ablauf des Schriftspracherwerbs in westeuropäischen Ländern zu verste-hen, wissen, dass es sich bei der in Deutschland verwendeten Schrift - der lateiniscverste-hen, um eine Alphabetschrift handelt. Im Gegensatz zu Begriffschriften, die ein Zeichen ganzen Be-griffen zuordnen (wie z. B. die chinesische Schrift), werden bei ihr den Lauten (Phoneme) Zeichen (Buchstaben bzw. Grapheme) zugeordnet. Ein Begriff besteht aus mehreren Zeichen.

Es wird eine Lautfolge der gesprochenen Sprache in der gleichen Reihenfolge auch in der geschriebenen Sprache abgebildet und zwar von links nach rechts mit Zeilensprung. Dies nennt man phonematische Verschriftlichung (Sassenroth 2003). Wenn ein Kind gelernt hat, welches Zeichen einen bestimmten Laut darstellt, kann es jedes unbekannte Wort, das der Lautstruktur der deutschen Sprache folgt, lautgetreu schreiben (Andresen 1983). Die Schwie-rigkeit des Schriftspracherwerbs besteht nun darin, dass die Laute sich beim Sprechen nicht so klar abgegrenzt anhören, wie sie aufgeschrieben werden müssen. Sie beeinflussen sich gegen-seitig und verschwimmen zu Sprechsilben. Silben stellen die Grundeinheiten des Sprechens dar (Andresen 1985). Phoneme sind in ihrer Reinform in der gesprochenen Sprache in der Regel nicht zu hören Es findet sich auch keine 1:1-Zuordnung der Phoneme und der schriftli-chen Darstellungsform (Grapheme). Grapheme werden mittels Buchstaben niedergeschrieben.

Diese sehen oft sehr unterschiedlich aus (z. B. v und f). Und klangähnliche Phoneme zeigen darüber hinaus als Buchstaben geschrieben keinerlei Ähnlichkeit (z. B. ä und e). Man findet eine Vielzahl von Zuordnungsmöglichkeiten. Um ein Wort zu verschriftlichen, braucht man eine gut geschulte auditive Wahrnehmung16 um aus dem Lautfluss des Wortes die einzelnen Phoneme herauszuhören. Das erfordert die Fähigkeit, vom Inhalt des Gesprochenen abstrahie-ren und sich auf die Struktur des Wortes bzw. des Satzes konzentrieabstrahie-ren zu können.

16 Auditive Wahrnehmung (= akustische W.): Gesamtheit der Vorgänge, mit denen Sinnesreize, die durch das Gehör aufgenommen worden sind, im zentralen Nervensystem an verschiedene Zentren weitergeleitet, re-gistriert, mit Nervenreizen aus anderen Sinnesorganen oder anderen Teilen des Gehirns verknüpft und auf unterschiedliche Weise abgespeichert werden.

Eine weitere Schwierigkeit beim Schriftspracherwerb stellt die Tatsache dar, dass ein schnel-leres Lautieren eines Wortes noch lange nicht dazu führt, dass das Wort richtig klingt. Man muss die Buchstaben erst zu Silben verschmelzen, um das Wort korrekt aussprechen zu kön-nen. Ohne eine hohe Abstraktionsfähigkeit des Kindes ist Lesen- und Schreibenlernen nicht möglich. Der letzte Schritt ist dann das Aneignen der orthographischen Regeln und der Grammatik, um die Schriftsprache vollständig und korrekt zu beherrschen (Sassenroth 2003).

4.3.1 Drei-Stufen-Modell zum Erlernen der Schriftsprache nach Frith (1985) Lange Zeit wurde das Drei-Stufen-Modell zum Erlernen der Schriftsprache nach der englisch-sprachigen Forscherin Frith (1985) favorisiert. Nach diesem Modell wird das Lesen und Schreibenlernen in drei Stufen unterteilt. Auf der ersten bzw. logographischen Stufe "liest"

bzw. erkennt das Kind Logos und Markennamen. Es erkennt die Wörter anhand bestimmter Merkmale, z. B. dem Schriftzug (z. B. Coca Cola). Es erfolgt noch keine Lautanalyse oder Lautsynthese. Bei der zweiten bzw. alphabetischen Stufe hat das Kind erkannt, dass sich jedem Laut (Phonem) ein (oder mehrere) Buchstabe (Graphem) zuordnen lässt. Es kann nun bekannte und unbekannte Wörter langsam und mühsam Graphem für Graphem erlesen und schreiben, schreibt aber meistens noch lautgetreu und macht viele Fehler. Als dritte und ab-schließende Stufe folgt die orthographische Stufe. Hier erkennt das Kind orthographische Einheiten wie Buchstabencluster und ganze Silben auf einen Blick. Das Lesen gewinnt da-durch deutlich an Geschwindigkeit, da nicht jedes Mal jedes Graphem einem Phonem zuge-ordnet werden muss. Orthographische Regeln werden verinnerlicht. Das Kind macht zuneh-mend weniger Rechtschreibfehler. Bei dieser Art des Lesens spricht man von adressierter phonologischer Verarbeitung (Coslett et al. 1984). Die phonologische Bewusstheit verliert an Bedeutung. Voraussetzung ist, dass die zu erlesenden Silben und Wörter bekannt und ab-gespeichert sein müssen. Auch das Erlernen der Rechtsschreibung folgt laut Frith einem sol-chen Modell. Sie geht davon aus, dass stets alle drei Stufen durchlaufen werden müssen, um zu guten Lese- und Rechtschreibkenntnissen zu gelangen (Schulte-Körne 2001).

Vorläufermodell des oben beschriebenen Modells war das Zwei-Weg-Modell nach Coltheart (1978), das davon ausgeht, dass ein Wort entweder visuell als bekannt erkannt und sofort zugeordnet und genannt werden kann (direkter, lexikalischer Weg) oder ein Wort als unbekannt erkannt wird und Graphem für Graphem erlesen werden und nach Zuordnung zu entsprechenden Phonemen ausgesprochen werden muss (indirekter, phonologischer Weg).

Diese beiden Modelle wurden für die englische Sprache entwickelt. Die deutsche Sprache unterscheidet sich jedoch erheblich von der englischen, unter anderem ist sie deutlich lautge-treuer. So können deutschsprachige Kinder schon früher unbekannte Wörter und Pseudowör-ter schreiben (Klicpera et al. 1993). Die logographische Stufe ist im deutschen Sprachraum kürzer. Daher lassen sich britische Modelle nicht unmittelbar auf die deutsche Sprache über-tragen (Klicpera et al. 2010).

4.3.2 Modell zum Erlernen des Schriftsprachmodells nach Günther 1986

Das Stufenmodell des Schriftspracherwerbs nach Günther stellt eine Adaptation des Schriftspracherwerbmodells von Frith auf die deutsche Sprache dar. Hier werden fünf Stufen unterschieden.

Ab dem zweiten Lebensjahr betrachtet das Kind Bilder. Es schaltet von der dreidimensionalen Betrachtung von Körpern auf das zweidimensionale Betrachten von Bildern um und kann die zweidimensionalen Bilder richtig benennen. Dazu ist bereits eine große Menge an Abstrakti-onsfähigkeit notwendig. Es beginnt zu malen und gibt seinen Bildern eine Bedeutung. Dies sehen Günther und andere Wissenschaftler bereits als Vorläuferfähigkeit für das Schreiben.

Die Phase nennt er praeliteral-symbolische Stufe. Ähnlich wie bei Frith (1985) schließt nun die logographische Stufe an. Erste Wörter, Logos und Markennamen werden identifiziert.

Das Kind kann seinen Namen schreiben. Es fehlt aber noch die auditive Kontrolle des Ge-schriebenen. Das Kind lautiert nicht, es kann die Phoneme noch nicht den Graphemen zuord-nen. Nun schließt sich die alphabetische Stufe an. Das Kind kann die Grapheme den Phone-men zuordnen. Es erliest langsam Buchstaben für Buchstaben, spricht sich das Zuschreibende vor und schreibt lautgetreu. Dabei kommt es zu vielen Rechtsschreibfehlern, da die orthogra-phischen Regeln der Sprache noch nicht erlernt sind. Dies erfolgt in der nächsten, der ortho-graphischen Stufe. Rechtschreibregeln werden integriert. Ganze Silben werden auf einen Blick erkannt und flüssig gelesen. Anders als Frith unterscheidet Günther noch eine weitere Stufe, die integrativ-automatisierte Stufe. Diese Stufe bedeutet kein erneutes Vorgehen, son-dern ein Festigen der orthographischen Strategie die das Operieren mit Sprache automatisiert.

Neben den Stufen-Modellen zum Erlernen der Schriftsprache gibt es so genannte "Netz-werkmodelle". Die Vertreter dieser Richtung gehen davon aus, dass Schreiben und Lesenlernen ganz ohne das Durchlaufen von Stufen oder Stadien auskommt (Seidenberg und McClelland 1989 zitiert nach Warnke et al. 2004).