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Untersuchung von krisenerfahrenen Organisationen

Beispielsituation 3: Zulieferer mit einem unerwarteten Qualitätsproblem

4.2 Untersuchung von krisenerfahrenen Organisationen

Anknüpfend an die erste empirische Studie, die im vorherigen Unterkapitel beschrieben wurde, werden in diesem Unterkapitel zwei Untersuchungen bei krisenerfahrenen Organisationen vorgestellt. Ziel ist es, erfolgreiche Vorgehensweisen der Krisenbewältigung zu ermitteln und diese mit dem Lösungsansatz in die Produktentwicklung zu übertragen.

Es gibt eine Vielzahl von Unternehmen und Berufe, in denen Krisenmerkmale, wie Zeit- und Handlungsdruck, aber auch die Reaktionsfähigkeit auf unerwartete und überraschende Ereignisse zum Alltag gehören. Beispielhafte Berufe sind Ärzte und Krankenschwestern, Soldaten, Polizisten und Sondereinsatzkommandos, Piloten oder Feuerwehrmänner. Die Entscheidungsfindung in diesen Berufen wurde in unterschiedlichen Studien analysiert, wie z. B. bei Endsley (1995), Gigerenzer & Gaissmaier (2011), Klein (1998) oder Weick & Sutcliffe (2015). Ergebnisse dieser Untersuchungen sind beispielsweise Modelle zum Beschreiben des Situationsbewusstseins in dynamischen Situationen (Endsley, 1995) oder das Recognition-Primed-Entscheidungsmodell (Klein, 1998).

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In den folgenden Untersuchungen wird auf diesen Ergebnissen aufgebaut und der Forschungs-ansatz weiterverfolgt. Dazu wird zuerst das Forschungsdesign beschrieben. Anschließend werden Krisen bei den untersuchten Unternehmen – Berufsfeuerwehr München und einem Unternehmen aus der Luftfahrt31 – vorgestellt. Aufbauend auf diesen Beschreibungen werden in der Herleitung in Unterkapitel 6.2.2 diese Vorgehen auf die Produktentwicklung übertragen.

4.2.1 Forschungsdesign der Untersuchungen bei krisenerfahrenen Organisationen

Dieses Unterkapitel beschreibt den Aufbau der Untersuchungen bei den beiden krisenerfahrenen Organisationen. Beschrieben werden die Ziele der Studien, das gewählte Vorgehen, die Teilnehmer und die Untersuchungsmethoden. Abschließend werden Krisen bei diesen beiden Organisationen in den folgenden Unterkapiteln skizziert. Diese stellen das erste Ergebnis der Untersuchungen dar. Das zweite Ergebnis, Prinzipien zu Krisenbewältigungen, wird im Lösungsansatz in Unterkapitel 7.2 vorgestellt.

Ziele dieser Untersuchungen der Berufsfeuerwehr München und dem Unternehmen aus der Luftfahrt waren, erstens Krisen bzw. vergleichbare Situationen zu Krisen in der Produkt-entwicklung zu ermitteln, und zweitens das Vorgehen zur Krisenbewältigung zu beobachten und zu dokumentieren.

Für die Untersuchungen bei den beiden Organisationen wurden zwei verschiedene Vorgehen gewählt: Bei der Berufsfeuerwehr München wurden zwei halbtägige Workshops abgehalten, bei dem Unternehmen der Luftfahrt wurde ein Leitfadeninterview durchgeführt. In den Workshops, die vor Ort bei der Berufsfeuerwehr stattfanden, absolvierten die Teilnehmer ein Planspiel, das einen Gefahrgutunfall auf der Autobahn sowie einen Zimmerbrand in einem Mehrfamilienhaus umfasste. Im Planspiel erhält einer der Teilnehmer die Aufgabe, einen Einsatz auf einer Planspielplatte durchzuführen. Zu Beginn bekommt der Teilnehmer vom Spielleiter Informationen zur vorgegebenen Situation. Der Teilnehmer begibt sich dann an eine Spielplatte, auf der die Situation in Miniaturform aufgebaut ist. Auf der Spielplatte können Straßen, Gebäude, Menschen und Fahrzeuge mit vielen Details dargestellt werden. Der Teilnehmer bewältigt die Lage, indem er alle Schritte des Einsatzes abarbeitet. Dabei übernimmt der Spielleiter die Rollen aller Beteiligten. Nach dem Spiel erhält der Teilnehmer Feedback vom Spielleiter. Während des Planspiels werden sowohl Video- als auch Audioaufnahmen gemacht sowie ein Beobachtungsbogen ausgefüllt.

Bei dem Unternehmen aus der Luftfahrt wurde eine Sondersituation (Ausfall eines sicherheitsrelevanten technischen Systems) in einem Leitfadeninterview durchgesprochen. Das Interview wurde vor Ort bei dem Unternehmen durchgeführt. Anhand des Leitfadens wurden die Sondersituationen und das Vorgehen zur Bewältigung besprochen. Um das Vorgehen zu verdeutlichen, wurden bei der Besprechung Dokumente, die während der Bewältigung der Situation verwendet wurden, z. B. Handbücher und Checklisten, bereitgestellt und durch-gesprochen. Die Inhalte wurden dabei sowohl handschriftlich als auch per Audiodokumentation

31 Aus Geheimhaltungsgründen wird der Name des Unternehmens in dieser Arbeit nicht genannt.

festgehalten. Nach dem Interview wurden die Inhalte mithilfe der Modellierung der ereignis-gesteuerten Prozessketten dokumentiert und analysiert.

Nachdem die Untersuchungen bei den beiden Organisationen durchgeführt und ausgewertet wurden, wurden vergleichbare Situationen gleicher Merkmale bei der Berufsfeuerwehr, dem Unternehmen aus der Luftfahrt sowie in der Produktentwicklung ermittelt32. Um die Ergebnisse auf die Produktentwicklung zu übertragen, wurden die Situationen abstrahiert und über einen Merkmalsvergleich analysiert. Die Merkmale von Krisen in der Produktentwicklung (Kontextfaktoren und Definition) werden in Unterkapitel 3.4 beschrieben. Um geeignete Situationen bei der Berufsfeuerwehr und dem Unternehmen aus der Luftfahrt zu identifizieren, wurden folgende ausgewählte Merkmale verwendet: Zeitdruck, Handlungsdruck, Überra-schung, Unerwünschtheit, Wahrnehmung und Zielabweichung. Die detaillierte Analyse der Untersuchungen ist in der Masterarbeit Abram et al. (2016, S. 40 ff.) dokumentiert.

Teilnehmer der Untersuchungen waren vier Feuerwehrleute der Berufsfeuerwehr München sowie zwei Mitarbeiter des Unternehmens aus der Luftfahrt.

Bei den beiden Untersuchungen wurden unterschiedliche Methoden verwendet. Die Work-shops bei der Berufsfeuerwehr wurden aufbauend auf Vorgehen von Ruedel (2008), Sachsenmeier & Lipp (2009) und Blessing & Chakrabarti (2009) durchgeführt. Beim Luftfahrt-unternehmen wurden Leitfadeninterviews nach Ahlrichs (2012), Blessing & Chakrabarti (2009) und Bogner et al. (2014) geführt. Diese Interviews wurden mithilfe von ereignisgesteuerten Prozessketten dargestellt und ausgewertet (Abts & Mülder, 2009; Kobler, 2010).

Diese Untersuchungen führten zu zwei Ergebnissen: Erstens konnten mit den Untersuchungen vergleichbare Krisen zu Krisen in der Produktentwicklung ermittelt werden. Zweitens konnten über diese Situationen Vorgehen zur Krisenbewältigung bei den beiden untersuchten Organisationen ermittelt werden. Diese wurden in Form von Prinzipien dokumentiert und auf die Produktentwicklung übertragen. Die erste Version der Prinzipien, die direkt aus der Analyse des Vorgehens der beiden Organisationen stammt, zeigt Anhang A12. Die finale Version, die Entwickler in der Produktentwicklung unterstützt, wird in Unterkapitel 7.2 vorgestellt. In den folgenden beiden Unterkapiteln werden die Krisen bei der Berufsfeuerwehr München und bei dem Unternehmen aus der Luftfahrt vorgestellt.

4.2.2 Krisen bei der Berufsfeuerwehr München

Aufgaben, wie Retten von Menschen aus einer Gefahrenlage, Löschen von Bränden oder Bergen von Sachgütern, beschreiben für normale Bürger in den häufigsten Fällen Extrem-situationen oder sogar Krisen. Für Feuerwehrleute sind dies alltägliche Aufgaben, die sie aufgrund ihrer Ausbildung bewerkstelligen können. Für sie sind dies in den meisten Fällen keine Krisen.

Im Rahmen der Untersuchungen von Abram (2015) konnte ein dreistufiges Modell zur Beschreibung von Situationen bei der Berufsfeuerwehr München erarbeitet werden. Es

32 Dies waren z. B. ein Feuer bei einem Chemieunfall, ein brennendes Triebwerk eines Passagierflugzeugs oder ein fehlgeschlagener Produkttest bei einem Maschinenbauunternehmen.

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beschreibt Situationen anhand der Handlungssicherheit und der Dynamik der Situation. Die Handlungssicherheit beschreibt dabei, wie gut Feuerwehrleute auf eine Situation reagieren können. Die Dynamik einer Situation beschreibt, wie schnell sich die Rahmenbedingungen des Einsatzes verändern. In Abbildung 4-2 werden diese beiden Dimensionen gegenübergestellt und beispielhafte Situationen aufgelistet.

Abbildung 4-2: Stufenmodell zur Beschreibung von Situationen bei der Feuerwehr nach Abram (2015, S. 60)

Stufe 1 des Modells beschreibt Routineaufgaben, wie z. B. die Reanimation von Menschen, die Bekämpfung von Zimmerbränden oder einen Unwettereinsatz. Die Situation ist geprägt durch extrem hohe Handlungssicherheit, die sich in klaren, trainierten Bewältigungsstrategien niederschlägt. Die Rahmenbedingungen sind den Feuerwehrleuten bekannt und sie bleiben während des Einsatzes unverändert.

Stufe 2 beschreibt zeitkritische Ereignisse, wie die Bekämpfung von Zimmerbränden mit Per-sonenschaden, die Suche nach vermissten Personen oder die Eindämmung einer Rauchent-wicklung in einem Hochhaus. Im Vergleich zur ersten Situation nimmt die Handlungssicherheit ab, ist aber immer noch vorhanden, während die Dynamik der Situation zunimmt. Dies drückt sich dadurch aus, dass die zu treffenden Entscheidungen die Auswirkungen auf Personen oder Sachgüter beeinflussen. Des Weiteren gehören zu dieser Stufe der plötzliche Ausfall von Geräten oder noch schwerwiegendere Situationen, als sie im Meldebescheid beschrieben wurden. Abhängig von getroffenen Entscheidungen müssen Vorgehen angepasst oder neu ausgewählt werden. Ebenso verändern sich die Rahmenbedingungen über die Zeit oder sind anders als angenommen.

Stufe 3 beschreibt Krisen, wie Terrorereignisse, Massenanfälle von Verletzen, Gefahrstoffereig-nisse oder der Ausfall von Kollegen während eines Einsatzes. Bei diesen Situationen handelt es sich um unerwartete Situationen für die Feuerwehrleute. Unter Zeitdruck müssen teilweise riskante Entscheidungen getroffen werden, ohne die Schwere der Auswirkungen zu kennen.

Mithilfe dieses Stufenmodells kann gezeigt werden, dass es vergleichbare Situationen bei der Berufsfeuerwehr und in der Produktentwicklung gibt. Im Austausch mit der Berufsfeuerwehr wurden den Situationen auf der dritten Stufe die gleichen Merkmale, wie denen in der Produktentwicklung, zugeordnet. Ergänzt wurden diese um Dynamik, Ausmaß von Auswirkungen und Erfolgschance.

4.2.3 Krisen bei einem Unternehmen aus der Luftfahrt

In der Luftfahrt gelten höchste Sicherheitsregeln. Kommt es während des Starts, des Flugs oder der Landung zu technischen Problemen, besteht höchste Gefahr für das Leben der Passagiere und der Besatzung. Ausgangsbasis der Betrachtungen bei dem Luftfahrtunternehmen waren sicherheitsrelevante Ereignisse. Diese Ereignisse müssen bei Auftreten der Flugsicherung gemeldet werden. Sie werden untersucht, um Sicherheitsrisiken aufzudecken und geeignete Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Beispielhafte sicherheitsrelevante Ereignisse sind (DFS Deutsche Flugsicherung GmbH, 2017):

 Luftfahrzeugannäherungen: Annäherung von Flugzeugen, bei denen sich ein Beteiligter gefährdet fühlte oder die Sicherheit als gefährdet sah.

 Staffelungsunterschreitung: Zwischen zwei Flugzeugen wird ein vorgeschriebener Mindestabstand nicht eingehalten.

 Flugunfall: Ereignis während des Betriebs eines Flugzeugs, bei dem eine Person tödlich oder schwer verletzt wird, das Flugzeug einen Schaden erleidet oder das Flugzeug vermisst wird oder nicht zugänglich ist.33

 Runway Incursion: Ein Flugzeug, ein Fahrzeug oder eine Person befinden sich fälschli-cherweise auf der Start- oder Landebahn.

 Widerrechtlicher Eingriff in den Flugverkehr bzw. gegen eine flugsicherungstechnische Einrichtung: Dies sind beispielsweise Flugzeugentführungen oder Terroranschläge.

 Abweichung und Störung flugsicherungstechnischer Einrichtungen: Werden Abwei-chungen vom Sollzustand übersehen, kann es zum Ausfall oder zu Störungen flugsiche-rungstechnischer Einrichtungen kommen.

Da im Gegensatz zur Berufsfeuerwehr München keine Metrik zur Beschreibung von Situationen erarbeitet werden konnte und auch keine direkte Krise ermittelt wurde, bezogen sich die Untersuchungen auf die sicherheitsrelevanten Ereignisse, die auch als Sondersitua-tionen bezeichnet werden.

Aufbauend auf der Krisendefinition in der Produktentwicklung wurde eine Definition für das Unternehmen in der Luftfahrt erarbeitet. Es hat sich gezeigt, dass eine Krise bei diesem Unternehmen durch Zeit- und Handlungsdruck, durch das Überraschungsmoment, Uner-wünschtheit der Situationen als auch durch die individuelle Wahrnehmung und einen ambivalenten Ausgang geprägt ist. Ein wesentlicher Unterschied konnte jedoch bei der Beherrschbarkeit der Situation ermittelt werden. So ist eine Krise bei dem Luftfahrt-unternehmen vor allem durch die Nichtbeherrschbarkeit der Situation geprägt. Dies bedeutet, dass es keine Pläne zum Umgang mit der Situation gibt. Da, wie oben beschrieben, eine solche Situation bei dem Unternehmen noch nicht aufgetreten ist, wurden stattdessen Sonder-situationen, d. h. Abweichung und Störung flugsicherungstechnischer Einrichtungen, betrachtet. Eine Sondersituation hat die gleichen Merkmale, wie eine Krise, allerdings wird davon ausgegangen, dass in absehbarer Zeit der Betriebszustand wieder hergestellt werden kann.

33 Vollständige Definition siehe Bundestag (1998).