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Krisenbewältigungsprozess für die Produktentwicklung

Beispielsituation 3: Zulieferer mit einem unerwarteten Qualitätsproblem

6 Herleitung und Struktur des Lösungsansatzes

6.1 Krisenbewältigungsprozess für die Produktentwicklung

Vom Ausbruch einer technischen Krise über die Bearbeitung der Krise und die Problemlösung bis hin zur (hoffentlich) erfolgreichen Bewältigung der Krise sind unterschiedliche Entwicklung-, Planungs- und Entscheidungsprozesse notwendig. In Unterkapitel 3.4.1 wurden unterschiedliche Prozesse, die den Verlauf einer Krise beschreiben, vorgestellt. Ein expliziter Prozess zur operativen Krisenbewältigung in der Produktentwicklung konnte in den Recher-chen nicht identifiziert werden. Dieser ist jedoch notwendig, um eine Krise systematisch und erfolgreich zu bewältigen.

Erfolgreiches Krisenmanagement kann in die vier Abschnitte Vorsorge, Vorbereitung, Krisen-bewältigung und Nachbereitung unterteilt werden (Bundesministerium des Innern, 2014, S. 7).

Diese Arbeit betrachtet und unterstützt hauptsächlich den Abschnitt der Krisenbewältigung.

Aufbauend auf Erfahrungen, die während der Projektarbeit dieser Dissertation zusammen mit Industriepartnern gesammelt wurden (u. a. Berger (2016)), wird ein Prozess zur operativen Krisenbewältigung in der Produktentwicklung vorgeschlagen (siehe Abbildung 6-2). Dieser Prozess fokussiert die Lösung des technischen Problems. Parallel zu diesem Prozess sollten weitere Prozesse zur Krisenbewältigung ablaufen, wie Kommunikations- und Gesamtprojekt-managementprozesse, die Teil eines unternehmensweiten Krisenmanagements sind (Loch et al., 2011; Pearson & Clair, 1998; Pearson & Mitroff, 1993; Pich et al., 2002; Terwiesch & Loch, 1999; Weick & Sutcliffe, 2015). Nur dadurch kann eine Krise ganzheitlich bewältigt werden.

Der folgende Krisenbewältigungsprozess für die Produktentwicklung gibt die Grundstruktur für eine erfolgreiche Krisenbewältigung vor und zeigt deren wesentliche Schritte auf. Er wirkt als Orientierungshilfe. Der Lösungsansatz in Kapitel 7 ist dem 6. bis 9. Schritt zugeordnet. Des Weiteren zeigt der Prozess die vor- und nachgelagerten Prozessschritte auf, an die der Lösungsansatz anknüpft und die nicht detailliert in dieser Arbeit betrachtet werden.

Abbildung 6-2: Möglicher Krisenbewältigungsprozess in der Produktentwicklung

6.1 Krisenbewältigungsprozess für die Produktentwicklung 97

Der Krisenbewältigungsprozess für die Produktentwicklung besteht aus zwölf Schritten (siehe Abbildung 6-2), die in die drei Phasen Voranalyse, Krisenbewältigung und Nachbereitung eingeteilt werden. Die ersten sechs Schritte beschreiben ausgehend vom Auftreten eines technischen Problems bis hin zur Entscheidung über die Eskalation der Situation die Voranalyse. Tritt ein technisches Problem auf, wird dieses als Erstes dokumentiert (1. und 2. Schritt). Dies kann mit Hilfe von Formblättern geschehen oder durch computer-unterstützte Fehlerdatenbanken, in denen die Probleme, Fehler oder Änderungen von Produkten eines Unternehmens zentral gesammelt und verwaltet werden. Darauffolgend kategorisiert eine Stabsstelle das Problem und identifiziert Experten im Unternehmen, die das Problem voranalysieren (3. Schritt). Auf Grundlage der Schnellanalyse (4. Schritt) wird das Problem priorisiert (5. Schritt). In den betrachteten Unternehmen erfolgte die Priorisierung nach den zu erwartenden Auswirkungen und ihrer Dringlichkeit. Weitere Kriterien können auch die Schadenshäufigkeit oder das Schadensausmaß sein. Diese und weitere Kriterien sind in unterschiedlichen Normen und Richtlinien dokumentiert und sollten unternehmensspezifisch ausgewählt werden, z. B. Zuverlässigkeitsmanagement (DIN 60300-1, 2003), allgemeine Leitsätze für das sicherheitsgerechte Gestalten von Produkten (DIN 31000, 2011), Analysetechniken für die Funktionsfähigkeit von Systemen – Verfahren für die Fehlzustandsart und -auswirkungsanalyse (DIN EN 60812, 2006) oder menschliche Zuverlässigkeit (VDI 4006-1, 2002). Eine für die Produktwicklung geeignete Klassifizierung bietet Burnett (1998, S. 482 f.).

Er klassifiziert Probleme mit dem Fokus auf Public Relations anhand der vier Kriterien Gefahrenlevel (engl. threat-level), Reaktions-/Antwortmöglichkeiten (engl. response-options), Zeitdruck (engl. time pressure) und Maß an Kontrolle (engl. degree of control). Diese vier Kriterien ordnet er in einer Crisis Classification Matrix und definiert vier Bewertungslevel.

Diese Level beschreiben ein Kontinuum von einem Vorfall (engl. incident) über einen Unfall (engl. accident) und Konflikt (engl. conflict) bis hin zu einer Krise (engl. crisis). Die Matrix ist in Abbildung 6-3 dargestellt.

Abbildung 6-3: Crisis Classification Matrix nach Burnett (1998, S. 483)

Abhängig von der Priorität entscheidet der Krisenstab, wie mit dem Problem umgegangen und welcher Problemlöseansatz gewählt wird. Der 6. Schritt ist somit kritisch, da abhängig von der Entscheidung, ob eine Krise vorliegt oder nicht, das Krisenbewältigungsvorgehen angewendet

oder ein routinemäßiger Umgang mit dem Problem gewählt wird. Ist das Problem eskaliert, bedeutet dies die Einbindung von höherem Management und die Bildung eines Krisenteams.

Bei einer Eskalation startet die Phase Krisenbewältigung (Schritt 6 bis 10). Zuerst wird ein Krisenteam gebildet (7. Schritt). Ein funktionierendes und leistungsfähiges Team ist ein wesent-licher Aspekt für eine erfolgreiche Krisenbewältigung. Der Aufbau und die Organisation sind kein wesentlicher Bestandteil dieser Arbeit. Stattdessen wird folgend ein kurzer Überblick über die Struktur und Eigenschaften dieser Teams gegeben.

Um Krisen zu bewältigen, werden losgelöst von der Organisationsstruktur häufig Taskforces, Firefighting-Teams oder Cheetah36-Teams gebildet (Engwall & Svensson, 2004, 310 ff.). Diese größtenteils vollzeitlich, autonom agierenden Teams werden für die Zeit der Krisenbewältigung eingesetzt. Nach der Krise werden diese wieder aufgelöst und die Teammitglieder kehren in ihr Tagesgeschäft zurück. Engwall & Svensson (2004, S. 306) beschreibt fünf Eigenschaften von Cheetah-Teams:

1. Ausdrücklich genehmigt (engl. explicitly sanctioned)

2. Erfüllung einer speziellen Mission (engl. to accomplish a specific mission) 3. Werden aufgelöst (engl. to be dissolved)

4. Teammitglieder arbeiten Vollzeit im Projekt (engl. members commited on a full-time basis) 5. Nicht im Voraus geplant (engl. not planned in advance)

Ist das Krisenteam gebildet, startet es seine Arbeit ausgehend vom letzten sicheren Zustand des Systems (8. Schritt), d. h. von einem Entwicklungszustand des technischen Systems, bei dem der Fehler noch nicht aufgetreten ist (siehe Prinzip #2 in Unterkapitel 7.2.2). Von diesem Zustand beginnt das Krisenteam mit der operativen Krisenbewältigung (9. Schritt). In dieser Arbeit besteht diese aus den drei Schritten Problemanalyse, Ideengenerierung und Konzeptbewertung. Diese drei Schritte stehen im Mittelpunkt des Lösungsansatzes und werden in Kapitel 7 beschrieben. Die operative Krisenbewältigung schließt mit der Übergabe der entwickelten Lösung an weitere Abteilungen im Unternehmen (10. Schritt), die die Lösung technisch umsetzen und die weitere Ausarbeitung begleiten37. Die Schritte 7 bis 10 können durch Iterationen mehrfach durchlaufen werden, bis die Krise bewältigt wird.

Nach der Krisenbewältigung folgt die Phase Nachbereitung. In dieser wird mit allen Beteiligten die Krisenbewältigung nachbesprochen (11. Schritt), um Erfolge und Misserfolge zu ermitteln. Diese werden im letzten Schritt in Form von Lessons Learned dokumentiert (12. Schritt), sodass diese für weitere Krisenbewältigungen zur Verfügung stehen.

Zum betrieblichen Krisenmanagement und zur Durchführung und Überwachung sollte der beschriebene Prozess von einem Krisenmanager oder bei größeren Unternehmen von einer Stabsstelle betreut werden. Diese sollte die Verantwortung und Möglichkeiten haben, Probleme zu kategorisieren, analysieren und gegebenenfalls zu eskalieren.

36 Engl. Gepard.

37 Die Teilung von Schritt 9 und 10 erfolgt aufgrund des Fokus der Forschungsarbeit. In Unternehmen können diese Schritte von einer oder mehreren Abteilung gleichzeitig ausgeführt werden.